Im permanenten Reorganisierungsmodus (eBook)
397 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45048-3 (ISBN)
Johannes Schulten forscht am Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen und betreibt mit Jörn Boewe das Berliner Journalistenbüro work in progress.
Johannes Schulten forscht am Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen und betreibt mit Jörn Boewe das Berliner Journalistenbüro work in progress.
1.Einleitung
Problemaufriss und Fragestellung
Berlin, 8. März 2012, Frauentag. Knapp 1.000 Menschen haben sich vor dem Roten Rathaus versammelt, über 90 Prozent von ihnen sind Frauen. »Ehrensold für uns« steht auf ihren Plakaten und »Schleckers größtes Kapital war sein Personal«. In über 20 deutschen Städten »vom Bodensee bis Flensburg« (ver.di 2012b) kommt es zu ähnlichen Aktionen. Die Forderungen sind immer dieselben: »Die Politik« müsse handeln und die Jobs der zu diesem Zeitpunkt noch verbleibenden 12.000 Beschäftigten der insolventen Drogeriekette Schlecker retten.
Das Ende ist bekannt. Die Politik handelte nicht. Ende Juli 2012 sind sämtliche der mehr als 4.000 Filialen von Deutschlands ehemals größtem Drogeriehändler geschlossen. 27.000 Schlecker-Beschäftigte – 90 Prozent von ihnen sind Frauen – verlieren ihren Arbeitsplatz. Doch die Insolvenz ist nicht nur für die Betroffenen katastrophal. Auch der für den Einzelhandel zuständige Fachbereich 12 von ver.di ist angezählt. Denn dank einer bisher für die Branche einzigartigen Organisierungskampagne (siehe Kapitel 3.5) war Schlecker eines der wenigen gut organisierten großen Unternehmen der Branche. Und: Die 12.000 organisierten Beschäftigten (Neumann 2014: 10) sorgten nicht nur für wichtige Einnahmen des strukturell klammen Fachbereichs. Sie stellten auch große Teile der Streikbasis in den Tarifrunden.
Gut ein Jahr nach den Schlecker-Protesten drängeln sich am Morgen des 9. April 2013 mehr als 600 Beschäftigte vor den Toren eines Amazon-Distributionszentrums im hessischen Bad Hersfeld. Auf Plakaten fordern sie einen »Tarifvertrag« und »faire Löhne«. Dafür sind sie in den Streik getreten. Es ist der erste Arbeitskampf in der bis dahin fast 20-jährigen Unternehmensgeschichte des Onlinehändlers. Drei Tage später folgen ihnen die KollegInnen aus dem Leipziger Distributionszentrum. Noch zwei Jahre zuvor waren beide Standorte mit insgesamt über 6.000 Beschäftigten gewerkschaftliches Niemandsland. Ende 2013 zählt ver.di allein in Bad Hersfeld fast 1.000 Mitglieder (ver.di 2019c).
Die »Schlecker-Insolvenz« und der »Amazon-Streik« bilden den Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit. Denn beide Ereignisse verdeutlichen wie unter einem Brennglas die gewerkschaftlichen Herausforderungen im deutschen Einzelhandel: In einer Branche, in der ehemalige Marktführer in wenigen Jahren zu Sanierungsfällen werden können, während neue Akteure in ebenso kurzer Zeit zu Branchenstars mit Tausenden Beschäftigten aufsteigen, sind Gewerkschaften in einem permanenten Reorganisierungsmodus (vgl. Wirth 2016: 16). Sie sind gezwungen, die betriebliche Präsenz immer wieder aufs Neue und unter sich schnell verändernden Bedingungen herzustellen. Der Branchenwandel birgt aber auch neue »Handlungsoptionen« (Kädtler 2016): Ein Beispiel ist die Renaissance großer industrieähnlicher Betriebsformate mit oftmals mehreren Tausend Beschäftigten, die im Zuge des Online-Booms im Einzelhandel entstanden sind. Großbetriebe, da ist sich die Forschung einig, bilden weitaus bessere Chancen für gewerkschaftliche Mitgliederwerbung als die im Einzelhandel dominierenden Klein- und Kleinstbetriebe (Dribbusch/Birke 2019: 12; Ebbinghaus 1988: 26 ff.; Streeck 1991: 25). Folgt man dem US-Gewerkschaftsforscher Kim Moody (2007: 45 ff.; 2020), dann handelt es sich beim weltweit expandierenden Onlinehandel und den um ihn herum entstehenden Logistikketten sogar um einen zentralen und aufgrund der räumlichen Konzentration vieler seiner Beschäftigter in Knotenpunkten (»chokepoints«) für Streiks sehr anfälligen Wirtschaftssektor im globalisierten Kapitalismus mit einer an Bedeutung gewinnenden Fraktion der ArbeiterInnenklasse.
Damit ist das Thema der vorliegenden Dissertation benannt: Sie beschäftigt sich mit den Möglichkeiten des Aufbaus gewerkschaftlicher Organisationsmacht unter sich rasant wandelnden Rahmenbedingungen. Im Zentrum steht dabei die Frage, ob bzw. wie es gewerkschaftlichen Akteuren gelingen kann, im Gestaltenwandel der Branche jene Handlungsoptionen zu finden und zu nutzen. Die Arbeit vermisst damit anhand konkreter Fälle den Umfang des Vermögens strategischer Handlungsfähigkeit gewerkschaftlicher Akteure im deutschen Einzelhandel. Diese wird in Anlehnung an Lévesque und Murray (2013: 39) als Kombination aus objektiven Rahmenbedingungen, aus denen sich wiederum gewerkschaftliche Machtressourcen ergeben, sowie strategischen Fähigkeiten der Gewerkschaften, diese Ressourcen in »unterschiedlichen Situationen anzuwenden«, definiert.
Dass Veränderungen der Wirtschaftsstruktur Auswirkungen auf die Arbeitsbeziehungen und damit auf das gewerkschaftliche Handlungsvermögen haben, ist erst einmal banal. Weder ForscherInnen noch gewerkschaftliche PraktikerInnen würden bestreiten, dass die neoliberale Transformation des Nachkriegskapitalismus, die Internationalisierung und Finanzialisierung des Kapitals (Streeck 1998; 2014; Dörre et al. 2009) die Gewerkschaften in Deutschland und weltweit in eine schwere Mitgliederkrise gestürzt haben (vgl. Baccaro/Howell 2017; Brinkmann et al. 2008: 33; Deppe 2012). Zwischen 1960 und 1980 war noch jeder dritte abhängig Beschäftigte in Deutschland Mitglied einer Gewerkschaft; 2017 war dies nur noch bei jedem siebten der Fall. Mit einem Netto-Organisationsgrad von 15 Prozent (2017) sind die deutschen Gewerkschaften an einem historischen Tiefpunkt angelangt (Dribbusch/Birke 2019: 12 ff.; Hassel/Schröder 2018: 7).
Gar nicht banal ist jedoch die Frage, wie sich solch ein Wandel der Rahmenbedingungen auf die gewerkschaftliche Handlungsfähigkeit, die konkrete Praxis des Werbens und Haltens von Mitgliedern auswirkt. In den vergangenen Jahren waren es vor allem VertreterInnen akteurszentrierter Ansätze der Gewerkschaftsforschung, vor allem solche, die sich im Feld der Labor Revitalization Studies (LRS) verorten, die dieses Wie interessierte. Bei den LRS, in etwa »Studien zur Revitalisierung der ArbeiterInnenbewegung«, handelt es sich um einen im angloamerikanischen Raum entstandenen und auch in Deutschland in inzwischen zahlreichen Studien aufgegriffenen Debattenstrang der empirischen Gewerkschaftsforschung, der die Analyse von Versuchen, die allgemeine Krise der Gewerkschaftsbewegung zu überwinden, in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses stellt. Damit rückte die gewerkschaftliche Strategie in den Fokus des wissenschaftlichen Interesses und die Forschung konzentrierte sich auf innovative Ansätze der Gewerkschaften, die Mitgliederkrise zu überwinden und ihre Organisationsmacht zu stärken. Die Akteurszentrierung bricht mit strukturorientierten Ansätzen, die die gewerkschaftliche Schwäche vornehmlich über makrosoziale Rahmenbedingungen erklären.
Die vorliegende Arbeit verortet sich im Feld der LRS (vgl. Thiel 2021; Thünken 2019; Dörre et al. 2017; Goes 2017; Urban 2013; Brinkmann et al. 2008) und wählt einen vermittelnden Ansatz zwischen Struktur- und Akteursorientierung. Dieser soll im Folgenden als strukturvermittelter Voluntarismus beschrieben werden. Ein solcher nimmt die Chancen eines strategisch richtigen Einsatzes gewerkschaftlicher Machtressourcen ernst, ohne dabei »die Möglichkeiten gewerkschaftlicher Interessenpolitik [zu] überschätz[en]« (Dörre 2019: 39) bzw. den Erfolg bzw. den Nicht-Erfolg beim Aufbau von gewerkschaftlicher Organisationsmacht auf eine Frage der richtigen oder falschen Strategie zu reduzieren, wie es aktuell etwa von McAlevey (2016, 2019) vertreten wird. Demnach sind gewerkschaftliche Erfolge praktisch unter jeglichen Bedingungen möglich, vorausgesetzt, die Gewerkschaften verfügten über die adäquate Analyse und Strategie. Strategisches Handeln ist [für die Erneuerung der Gewerkschaften] wichtig, die Möglichkeiten unterscheiden sich jedoch mit dem strukturellen Setting.
Um die analytische Perspektive dieser Untersuchung am Beispiel eines in einer Fallstudie behandelten Konflikts zu illustrieren: US-Gewerkschaften haben beim Onlineversandhändler Amazon über 20 Jahre benötigt, um einen einzigen Streik in einem von derzeit über 400 Distributionszentren zu organisieren (siehe Kapitel 5.5; vgl. Olney/Wilson 2020; Boewe/Schulten 2019a: 32 ff.). Dies vor Augen, fällt es schwer, von den speziellen Handlungsbedingungen auf betrieblicher und Unternehmensebene zu abstrahieren und die Schwäche allein auf (falsche) gewerkschaftliche Strategie und Analyse zurückzuführen. Strategisches Handeln ist wichtig, die Möglichkeiten unterscheiden sich jedoch mit dem strukturellen Setting. Um das Wechselverhältnis zwischen objektiven Rahmenbedingungen und gewerkschaftlicher Strategie heuristisch zu fassen, wird ein von Dribbusch (2003) inspiriertes, theoriegeleitetes ...
Erscheint lt. Verlag | 9.2.2022 |
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Reihe/Serie | International Labour Studies | International Labour Studies |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Spezielle Soziologien |
Schlagworte | Branchenwandel • Digital Taylorism • Gewerkschaften • gewerkschaftliche Erneuerung • Gewerkschaftsforschung • Handlungsbedingungen • Industrieforschung • Industrielle Beziehungen • Organizing |
ISBN-10 | 3-593-45048-8 / 3593450488 |
ISBN-13 | 978-3-593-45048-3 / 9783593450483 |
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