Die Erschöpfung der Frauen (eBook)
304 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-46202-7 (ISBN)
Franziska Schutzbach, geboren 1978, ist promovierte Geschlechterforscherin und Soziologin, Publizistin, feministische Aktivistin und Mutter von zwei Kindern. Im Jahr 2017 initiierte sie den #SchweizerAufschrei, seither ist sie eine bekannte und gefragte feministische Stimme auch über die Schweiz hinaus. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Geschlechterthemen wie Misogynie und Sexismus, darüber hinaus befasst sie sich mit den Kommunikationsstrategien von Rechtspopulisten. Franziska Schutzbach lebt in Basel.
Franziska Schutzbach, geboren 1978, ist promovierte Geschlechterforscherin und Soziologin, Publizistin, feministische Aktivistin und Mutter von zwei Kindern. Im Jahr 2017 initiierte sie den #SchweizerAufschrei, seither ist sie eine bekannte und gefragte feministische Stimme auch über die Schweiz hinaus. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Geschlechterthemen wie Misogynie und Sexismus, darüber hinaus befasst sie sich mit den Kommunikationsstrategien von Rechtspopulisten. Franziska Schutzbach lebt in Basel.
Wenn Frauen sich verstellen müssen
Frauen sind Belästigung und Angriffen im öffentlichen Raum in unterschiedlichem Maße ausgesetzt. Manche Frauen erfahren sexistische Erschöpfung immer auch in Zusammenhang mit racial battle fatigue oder mit weiteren Dimensionen der Diskriminierung. Umso mehr haben Frauen gute Gründe, sich nicht offensiv, sondern vorsichtig zu verhalten. Manche Frauen haben die Erfahrung gemacht, dass, wenn sie ihren Regungen – etwa Wut und Ablehnung – folgen, die Situation in Aggression und Gewalt gegen sie kippt.29 Es kann also paradoxerweise lebensrettend sein, Verfügbarkeit und Freundlichkeit auch entgegen der eigenen Bedürfnisse zu signalisieren. In der englischsprachigen Traumaforschung gibt es für »nettes« Verhalten in Gefahrensituationen den Begriff »Fawning« (sinngemäß übersetzt: sich wie ein süßes Rehkitz geben). Neben weglaufen (flee), sich aktiv wehren (fight), erstarren (freeze) beschreibt »fawning« den Versuch, einer Person zu gefallen, um einen Konflikt oder Übergriff zu vermeiden. Viele Frauen versuchen präventiv, den Täter zu beschwichtigen, indem sie sich nett geben, lächeln und Dinge sagen, von denen sie annehmen, dass er sie hören will. Oder indem sie sich so verhalten, wie sie glauben, dass es dem anderen gefällt, ihn freundlich stimmt usw. Sie ignorieren dabei ihr eigenes Unwohlsein. Lächeln ist also nicht, wie Männer oft glauben, ein Signal der Zustimmung, sondern kann eine Strategie sein, Schlimmeres zu verhindern oder Belästigungen wegzumoderieren. Freundlichkeit kann der Versuch sein, Männern einige Minuten Aufmerksamkeit zu geben in der Hoffnung, dass sie einen dann in Ruhe lassen.
Eine klassische Fawning-Situation, die ich selbst mehrfach so oder ähnlich erlebt habe, geht so: Ich sitze im Zug, im Speisewagen, bei einem Kaffee. Mein Laptop ist aufgeklappt, ich bin, für alle sichtbar, im Arbeitsmodus. Ein Mann setzt sich mir gegenüber, ich nicke kurz freundlich und mache etwas Platz. Der Mann bedankt sich ein wenig zu laut und mit zu vielen Sätzen, er wolle mich sicher nicht bei der Arbeit stören, es gehe schon, ich könne die Bücher liegen lassen. Aber er versucht, ins Gespräch zu kommen, zunächst mit allgemeinen Aussagen über das Wetter, danach, als ich mich nicht auf ein Gespräch einlasse, mit direkten Fragen, wohin ich fahre, in welcher Branche ich tätig wäre (»Kultur«?). Ich lächle ab und zu gequält, lasse mich aber nicht auf ein Gespräch ein. Aus meiner Sicht signalisiere ich klar, dass ich mich auf meine Arbeit konzentrieren will. Als sein Kaffee kommt, bezahlt er seinen und meinen gleich mit. Ich protestiere und versuche, es zu verhindern, aber er kommt mir zuvor, gibt sich großzügig, ach, das mache ich doch gern, diese viel beschäftigten Frauen muss man auch mal einladen! Nun rührt er zufrieden in seinem Kaffee. Mit der Einladung hat er sich das Recht auf meine Aufmerksamkeit erzwungen. Er verhält sich nun noch direkter, fragt mich, woran ich arbeite und ob ich denn nicht freihätte, es sei schließlich nach 18 Uhr. Ich habe aus meiner Sicht zwei Optionen. Option eins: Ich gehe in die Konfrontation und sage ihm, dass ich meine Ruhe will und ich sein Verhalten nicht angemessen finde. Danach ist die Stimmung am Tisch aber ziemlich sicher so gestört, dass ich nicht weiterarbeiten und mich nicht mehr konzentrieren kann. Er wird sich vermutlich empören, er habe doch nur nett sein wollen. Oder schlimmer, er wird mich beschimpfen. Wenn ich weiterarbeiten will, bleibt mir danach nur übrig, das Feld zu räumen und einen anderen Platz zu suchen. Was im vollen ICE und mit Gepäck schwierig und ermüdend sein wird. Option zwei: Fawning. Ich versuche, freundlich zu sein, um ohne Konflikt aus der Situation herauszukommen und vielleicht doch noch meine Ruhe zu erhalten. Ich bedanke mich für den Kaffee, gebe ihm ein paar Minuten Aufmerksamkeit und sage dann, dass ich nun wirklich dringend weiterarbeiten muss. Wenn ich Glück habe, akzeptiert er es. Die Strategie besteht darin, mich »freizulächeln«, obwohl ich wütend bin und mich bedrängt fühle. Aber auch mit der Freundlichkeitsstrategie wird die Situation wahrscheinlich anstrengend bleiben, konzentriert zu arbeiten wird so oder so schwierig, vermutlich wird der Mann auch nach einer netten Abmoderation immer wieder versuchen, meine Aufmerksamkeit zu bekommen.
Ich erinnere mich, dass ich die zweite Option wählte. Tatsächlich ließ mich der Mann – einigermaßen beleidigt, aber immerhin – in Ruhe. Die Gesamtstimmung blieb jedoch unangenehm, meine Konzentration und mein Wohlgefühl waren beeinträchtigt. Es gibt sicher noch weitere Optionen, wie man eine solche Situation handhaben kann. Was ich mit diesem Beispiel vor allem zeigen will, ist, wie erschöpfend für Frauen bereits ein kurzer Aufenthalt in einem deutschen ICE-Zugrestaurant sein kann. Nicht auszudenken, wie belastend die Situation verlaufen wäre, wäre ich eine Schwarze Frau oder trans Frau. Als ich ausstieg, fühlte es sich so an, als hätte ich meine Leistungskapazität für diesen Tag bereits mehr als ausgeschöpft.
Die deutsche Studie Sexismus im Alltag (2020)30 verweist darauf, dass eine ganz andere Abwehrstrategie darin besteht, Belästigung unbewusst als »nicht so schlimm« wahrzunehmen. Vierzig Prozent der befragten Frauen gaben an, Alltagssexismus als »nicht so schlimm« zu empfinden. Gemäß der Studie gibt es, und das ist noch mal etwas anderes als Fawning, einen Schutzmechanismus, um Angriffe auf die sexuelle Selbstbestimmtheit und Würde abzuwehren. Der Selbstschutz besteht darin, sexistische Übergriffe als harmlos abzutun. Die befragten Frauen beschreiben, dass sie übergriffige Situationen nicht so »ein Ding« finden, ihre Strategie besteht im Weitergehen, Ignorieren, Ausblenden, Verdrängen, aber auch in der Bagatellisierung der Situation, um nicht Opfer zu sein. Denn, wie die Studie ausführt – und hier lässt sich an Rolf Pohl anknüpfen –, Frauen sind so regelmäßig und auf so alltägliche Weise Belästigungen ausgesetzt oder erleben durch Rollenzuschreibungen in Erwerbs- und Familienarbeit subkutanen Sexismus, dass viele dieser »softeren« Sexismus-Spielarten gar nicht mehr als empörend und abwertend empfunden werden. Laut der Studie unterschätzen Frauen unbewusst die Realität, um sich selbst zu schützen. So zeigt sich, wie beiläufig vor allem jüngere Frauen alltägliche Belästigung hinnehmen: Fast alle zeigten sich überrascht von der Frage, ob sie schon sexistische Fotos und Videos auf ihre Smartphones zugeschickt bekamen, ihre Antworten gingen alle in dieselbe Richtung: »Na klar, selbstverständlich, schon oft! Alle, die ich kenne, haben das erlebt. Das ist normal, das geht jeder so!«
Ebenso bekannt und »normal« sind für viele Frauen Situationen, in denen sie von Männern allzu lange angestarrt und unangenehm von Blicken verfolgt werden, dass auf ihre Beine oder den Busen gestarrt wird, dass im voll besetzten öffentlichen Verkehrsmittel ein Mann sich an sie drängt und Ähnliches. All das ist für einen erheblichen Teil der Frauen so alltäglich, dass sie dies spontan gar nicht mit Begriffen wie »sexistisch« oder »Belästigung« bezeichnen, sondern erst nach längerem Nachdenken. Die Alltäglichkeit solcher Erfahrungen lässt sie mit der Zeit abstumpfen. Und das bedeutet auch: Wenn sich Frauen stets aufregen und verletzt fühlen würden, wäre für manche jeder Tag ein Tag der Verletzung und Herabwürdigung. Davor schützen sich Frauen also zum Beispiel durch unbewusstes Ausblenden. In der Studie ist die Rede von einer »selektiven Unempfindlichkeit aus Selbstschutz« (ähnliche selbstschützende Abwehrstrategien gibt es auch im Zuge anderer und oft mit Sexismus gleichzeitig auftretender Alltagsdiskriminierung wie Rassismus, Homosexuellen- und/oder Transfeindlichkeit).
Zu den ermüdenden psychischen und mentalen Herausforderungen gehört neben der bereits erwähnten permanenten Notwendigkeit, Situationen richtig einzuschätzen, auch die Scham vieler belästigter Frauen und Mädchen, nicht erahnt zu haben, wo eine anfangs harmlose Kontaktaufnahme enden würde; oder die Wut über sich selbst, nicht »richtig« oder schnell genug reagiert zu haben, sich nicht klar genug geäußert oder nicht den richtigen Spruch bereitgehabt zu haben. All das birgt ein ungeahntes Erschöpfungspotenzial im Leben von Frauen, und soweit ich es überblicke, ist bislang nicht untersucht worden, wie viel Energie und emotionalen Aufwand Frauen in ihrem Leben darauf verwenden, in eindeutigen und weniger eindeutigen Belästigungssituationen zu überlegen, was sie tun sollen.
Es geht aber nicht nur darum, dass Frauen selbst Sexismus bagatellisieren müssen, um zu überleben. Sie fühlen sich oft unbehaglich, die Gesellschaft signalisiert ihnen aber, dass ihre Gefühle nicht stimmen. Das unterwandert das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung. Die Verharmlosung des Catcallings bestärkt zudem die Vorstellung, männliche Sexualität und männliches Verhalten wären scheinbar unkontrollierbar. Oft wird in diesem Zusammenhang gesagt: »Männer sind nun mal so.« Wenn Männer nicht anders können, bleibt es den Frauen überlassen, mit der Situation zurechtzukommen, wenn Männer nun mal so sind, dann sind sie der Maßstab, an dem alle anderen sich ausrichten und orientieren sollen. Daraus folgt im Kern, dass es darauf, wie Frauen sind und wie es ihnen ergeht, nicht ankommt. Wenn die Devise lautet, dass Männer so sind, wie sie sind, bedeutet dies, dass der Gesellschaft das Wohlbefinden und Empfinden von Frauen und Mädchen egal...
Erscheint lt. Verlag | 1.10.2021 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Burn out • Care-Arbeit • Care-Berufe • Chancengleichheit • das Mädchen für alles • Diskriminierung • diskriminierung buch • Ehefrau • Emanzipation • Familie • Feminismus • feminismus bücher • feministische bücher • Frauen • Frauenbild • Frauenfeindlichkeit • Frauenrechte Buch • Frauen und Karriere • Freundin • Genderforschung • Gender Pay Gap • Geschlechterforschung • Geschlechtergleichheit • Geschlechterrollen • Gesellschaftskritik • Gesellschaftskritische Bücher • Gewalt gegen Frauen • Gleichberechtigung • Hasskommentare • Lean in • Lohnunterschied • Männer • Mental Load • Misogynie • Mutter • Mutterbild • Parität • Quote • Rassismus • Sachbuch Gesellschaft • Sexismus • Sorgearbeit • Soziale Ungerechtigkeit • Soziale Ungleichheit • sozialkritische Bücher • Soziologie • Streitschrift • strukturelle Benachteiligung von Frauen • toxische männlichkeit • Ungerechtigkeit • Ungleichheit • ungleichheit zwischen mann und frau heute • Unsichtbare Frauen |
ISBN-10 | 3-426-46202-8 / 3426462028 |
ISBN-13 | 978-3-426-46202-7 / 9783426462027 |
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Größe: 1,4 MB
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