Vermintes Gelände – Wie der Krieg um Wörter unsere Gesellschaft verändert (eBook)

Die Folgen der Identitätspolitik
eBook Download: EPUB
2021
224 Seiten
Heyne Verlag
978-3-641-28565-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Vermintes Gelände – Wie der Krieg um Wörter unsere Gesellschaft verändert - Petra Gerster, Christian Nürnberger
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Es herrscht Aufruhr. Fast alles, was bis vor kurzem als festgefügt, selbstverständlich und gesichert gegolten hat, wird infrage gestellt. Und hat Folgen: abgesetzte Operninszenierungen, mit Warnhinweisen versehene Filme, vom N-Wort bereinigte Bücher, gekündigte Redakteur*innen, Karikaturisten, Wissenschaftler*innen.
Mohrenstraßen sollen nicht mehr so heißen, und dass es nur zwei Geschlechter gäbe, hat eigentlich nie gegolten und gilt erst recht nicht mehr, seit es Menschen gibt, die sich auch öffentlich zwischen Mann und Frau verorten und deshalb als non-binär definieren. Ein Buchstabenwurm, der einmal mit LGBT begonnen hat, ist inzwischen bei LGBTQIA* angelangt.
Die Diskussion über die sogenannte Identitätspolitik greift auf unseren Alltag über. Es formiert sich Protest dagegen, schon gegen das Gendern wird Sturm gelaufen. Konservative Kommentator*innen liefern die verbalen Knüppel dafür: »Sprachpolizei«, »Gedankenkontrolle«, »Cancel Culture«.
Die Gefahr ist: eine Herrschaft rigoroser Moralisten durch Tugendterror. Die Chance ist: eine Gesellschaft, die sensibler, achtsamer, reflektierter, rücksichtsvoller und toleranter mit sich und ihren Minderheiten umgeht.
Wir müssen uns entscheiden, jede*r einzelne wie als Gesellschaft insgesamt: Welche Haltung nehmen wir dazu ein?

Petra Gerster, Journalistin und erfolgreiche Buchautorin, wurde 1955 in Worms geboren und hat Slawistik und Germanistik studiert. Sie war Redakteurin beim »Kölner Stadt-Anzeiger« und Nachrichtenredakteurin beim WDR. Seit 1989 arbeitet sie für das ZDF: zunächst als Redakteurin und Moderatorin des Frauenjournals »Mona Lisa« und seit 1998 als Moderatorin der Sendung »heute«. Sie wurde mit einigen Preisen ausgezeichnet, unter anderem erhielt sie den Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis für Fernsehjournalismus und die Goldene Kamera.

Zanksucht. Kriselnde Gereiztheit. Namenlose Ungeduld. Eine allgemeine Neigung zu giftigem Wortwechsel

1
Ich, die Gender-Terroristin

Zuerst hagelte es Beschwerden am Telefon. Dann kamen böse Mails, danach beleidigte Briefe mit der Post, und es hörte nicht auf. Wut, Enttäuschung, Frust schlugen mir entgegen, manchmal sogar Hass. Von alten und sehr alten Doktoren, Professoren und Adligen wurde ich streng belehrt, nicht selten heruntergeputzt wie ein Schulmädchen und ultimativ aufgefordert, endlich aufzuhören mit dem Terror.

Zuletzt erhielt ich auch noch Päckchen. Nein, nichts Ekliges oder Gefährliches drin. Nur Bücher. Bücher, die ich allein oder zusammen mit meinem Mann geschrieben hatte. Die aber mussten sich in den Regalen ihrer Besitzerinnen über Nacht in etwas Gefährliches oder Ekliges verwandelt haben. Darum mussten sie raus, zurück an mich.

Was war passiert? Nicht viel. Eigentlich fast nichts. Wenn ich in den Nachrichten von bestimmten Gruppen sprach, sagte ich nicht mehr, wie ganz früher: Lehrer, Schüler, Sportler, Hörer, Leser, Zuschauer. Auch nicht, wie früher und gelegentlich noch heute: Lehrer und Lehrerinnen, Leser und Leserinnen …

Sondern jetzt: Lehrer*innen, Leser*innen, Zuschauer*innen. Weil die Zeiten, in denen Männer draußen in der Welt ihrem Beruf nachgingen, während drinnen im Hause die züchtige Hausfrau waltete, schon sehr lange vorbei sind. Und weil die binäre Geschlechterordnung – entweder Mann oder Frau – nicht der Realität entspricht. Es gibt in Deutschland rund 2,5 Millionen Menschen, die sich weder mit dem Attribut weiblich noch männlich identifizieren.1 Sie bezeichnen sich selbst als »non-binär«, »divers« oder »Trans-Personen« und sagen, dass sie sich nicht angesprochen fühlen von »meine Damen und Herren« oder »Zuschauer und Zuschauerinnen«, von Zuschauer*innen aber schon.

Der Genderstern ist also ein Inklusionssymbol und Platzhalter. Wo immer er steht, steht er für Männer, Frauen und Diverse.

Deshalb »gendere« ich jetzt. Das ist ein Wort, das viele bis vor Kurzem noch nicht einmal in ihrem aktiven Wortschatz hatten. Nun aber sprechen sie schon routiniert von »Gender-Gaga«, »Sprachpolizei« und »Gedankenkontrolle«. Und ich bin jetzt so etwas wie eine Gender-Terroristin. Dagegen klingt die »feministische Zimtzicke«, wie ich früher einmal von einem berühmten, viel älteren Kollegen genannt worden war, schon fast wie eine Schmeichelei.

Nun also Terroristin. Wegen des Terror-Sternchens im geschriebenen Wort. Und wegen der Terror-Zehntelsekunde im gesprochenen Wort. So lange oder so kurz dauert schätzungsweise die kaum wahrnehmbare Sprechpause zwischen »Lehrer-« und »-innen«. Die gleiche Pause machen wir auch im Wort Bäcker-Innung und in vielen anderen deutschen Wörtern. Sie ist also im Grunde nichts Neues. Neu daran ist nur, dass diese kaum wahrnehmbare Pause jetzt halt auch gemacht wird, um inklusiv zu sprechen. Es ist ein Akt der Höflichkeit und des Respekts, weiter nichts.

Trotzdem muss ich mich unentwegt fragen lassen, ob ich Wörter wie »Pflegekräft*innen«, »Papierkörb*in«, »Mitglieder*innen«, »Christ*innenheit« oder »Bürger*innenmeister*innen« wirklich toll finde. Oder ob Mannheim jetzt in Mann*frauheim und der Herr Neumann in Neumann*frau umbenannt werden müsse? Ob ich Student*innen auch Student*innenfutter verabreichen wolle. Nein, will ich nicht, fordere ich nicht, fordert auch sonst niemand, soweit ich weiß. Und ich erkenne sie als das, was sie sind: Parade-Beispielwörter, die extra zu dem Zweck erfunden wurden, das geschlechtergerechte Sprechen lächerlich zu machen.

Das Problem vieler Gender-Gegner*innen ist, dass sie sich lieber absurde Beispiele ausdenken, als sich ernsthaft der Frage zu stellen, ob sie sich tatsächlich noch auf der Höhe ihrer Zeit befinden, wenn sie Lehrkräfte einfach weiter »Lehrer« nennen, auch wenn 75 Prozent von ihnen Frauen und einige auch Transpersonen sind. Und sie weichen der Frage aus, warum man denen, die um ein bisschen Anstand, Höflichkeit und Solidarität bitten, diese Solidarität und dieses bisschen Höflichkeit verweigern soll.

Die als »Terror« empfundene Zehntelsekunde zwischen »Lehrer-« und »-innen« ist weniger als ein Hauch, eigentlich ein Nichts. Dieses Nichts hatte ich meinem Publikum in den »heute«-Nachrichten des ZDF nur selten mehr als zweimal pro Sendung zugemutet. Aber es verursachte geradezu »körperliche Qualen«, wie mir ein befreundeter Professor schrieb, und bei vielen anderen Abscheu und Aggressivität und den Drang, mir per Wut-Post meine Bücher zurückzuschicken.

Weil ich mit diesem Sternchen die deutsche Sprache verhunze. Weil ich »eigenmächtig« und »willkürlich« das »Kulturgut Deutsche Sprache« beschädige. Weil ich »unsere Sprache vergewaltige und damit unser Gemeinwesen zerstöre«. Weil ich das Lesen, die Verständlichkeit und das Erlernen der deutschen Sprache erschwere. Weil ich meinen wehrlosen Zuschauer*innen mit meinem »Sprachterrorismus« meine Meinung aufzwinge. Weil ich mich durch mein Gendern als »moralisch besser« darstellen und alle anderen »erziehen« will. Weil ich damit meinen Job als Nachrichtenmoderatorin missbrauche. Und weil ich im Verein mit Claus Kleber, Anne Will und dem ganzen öffentlich-rechtlichen System meinem Publikum das Gendern »zwangsweise verabreiche«.2

»Was haben Petra Gerster, Claus Kleber und Anne Will gemeinsam?«, fragte der Mainzer Historiker Andreas Rödder in der Zeitung.3 Nun ja, sie gendern, lautete seine Antwort und brauchte dann nur vier Absätze, um aufzuzeigen, wohin das führt: über die »fluide Geschlechtlichkeit« der US-Philosophin Judith Butler zum Transgender-Verband Iglyo (International Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Queer & Intersex Youth and Student Organisation), der Geschlechtsumwandlungen von Jugendlichen erleichtern will. Und das erinnere ihn »an die sorglose Verharmlosung von Sex mit Minderjährigen in den achtziger Jahren«.4

Es sind schwere Geschütze, mit denen da auf Menschen geschossen wird, die sich einfach nur höflich und respektvoll ausdrücken möchten. Walter Krämer, im Hauptberuf Statistikprofessor an der TU Dortmund, im Nebenberuf Vorsitzender der Stiftung Deutsche Sprache und des Vereins Deutsche Sprache, beteiligt sich lustvoll an diesem Schützenfest, mit Wortgranaten wie »wahre Pest« und »Krebsgeschwür«.5

Und ist damit nicht allein. Seinen im Januar 2021 initiierten Aufruf Rettet die deutsche Sprache vor dem Duden haben mittlerweile Zehntausende unterschrieben.6 Die Zahl der Unterschriften zu dem im März 2021 vom selben Verein veröffentlichten Aufruf Schluss mit dem Gender-Unfug nähert sich der 100.000er-Grenze. Zahlreiche bekannte Persönlichkeiten haben unterschrieben: Peter Hahne, Didi Hallervorden, Katja Lange-Müller, Sibylle Lewitscharoff, Hans-Georg Maaßen, Dieter Nuhr, Rüdiger Safranski, Bastian Sick, Peter Sloterdijk, Cora Stephan, Uwe Tellkamp, Wolfgang Thierse und viele andere. Es ist eine seltsam anmutende Gruppierung, deren politische Bandbreite von sozialdemokratisch bis weit ins rechte Milieu reicht.7

Das tägliche Beleidigungs- und Protestbriefpaket – so kurz vorm Ende meiner aktiven Zeit im ZDF – hat mich zermürbt. Es hat Kraft und Zeit gekostet, die vielen Mails zu beantworten. Nicht alle hatten ja in so unflätigem Ton geschrieben, dass sich eine Antwort erübrigte. Viele waren höflich oder zwar polemisch, aber mit ernsthaften Argumenten versehen.

Vor allem ihretwegen habe ich mich natürlich gefragt: War es ein Fehler, in den Nachrichten zu gendern? Sollte ich besser wieder damit aufhören, wenn so viele Zuschauer*innen, die ja das ZDF finanzieren, dagegen Sturm laufen? Habe ich das Recht, gegen den Widerstand der Gebührenzahler*innen, der öffentlichen und der veröffentlichten Meinung meinen Sprachgebrauch so zu ändern, wie ich ihn für richtig halte? Oder habe ich sogar die Pflicht dazu?

Meine Entscheidung, im Fernsehen »eigenmächtig« zu gendern, wird von vielen als eine private Willkürmaßnahme, als Regelverstoß, ja fast schon als Gesetzesverstoß empfunden. Oder als ideologische Verirrung. Aber haben sich die Genderkritiker*innen schon einmal gefragt, wie ihre Entscheidung, nicht zu gendern, von vielen Frauen und Trans-Personen empfunden wird? Zählen deren Empfindungen nichts? Sollen die sich gefälligst an die seit Jahrhunderten geltenden Gepflogenheiten halten und nicht so ein Gewese um ihr Anderssein machen? Wer kann von mir mit welchem Recht verlangen, den immer nur Mitgemeinten das generische Maskulinum »zwangsweise zu verabreichen«?

Ein paar Wochen lang waren die Reaktionen auf mein Gendern tägliches Thema beim Abendessen mit meinem Mann. Bis er schließlich sagte: »Wenn das die Leute dermaßen aufwühlt, dann musst du ihnen begründen, warum du tust, was du tust. Das Thema birgt Stoff für ein ganzes Buch. Also schreib es. Wirst ja bald Zeit haben dafür.«

Und dann verblüffte er mich. In meine gedrückte Stimmung hinein brummte er voller Trotz: »Ab sofort werde ich jetzt auch gendern.« Ich lachte und antwortete: »Na, also aus Solidarität mit mir musst du das jetzt nicht tun. Du hast doch erst kürzlich wieder diesen ›Genderquatsch‹ in Grund und Boden verdammt.«

Er, weiter brummend: »Ja, habe ich. Aber jetzt eben nicht...

Erscheint lt. Verlag 15.11.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte alter weißer Mann • amanda gorman • Aufklärung • Chancengleichheit • Demokratie • Diskriminierung • eBooks • Feminismus • Gedankenpolizei • Gendern & Gendersternchen • Gesellschaftliche Spaltung • Gleichberechtigung • Gleichstellung • Identitätspolitik • Integration & Interkulturelle Erziehung • LGBTQIA* • Multikultur • n-wort • Politischer Diskurs • Quote & Frauenquote • Rassismus • Schwule & Lesben • Soziale Entwicklung • Soziale Gerechtigkeit • Soziologie • Sprachpolizei • Toleranz • Umgang mit Minderheiten • WDR Die letzte Instanz • weiße Mehrheitsgesellschaft • z-wort
ISBN-10 3-641-28565-8 / 3641285658
ISBN-13 978-3-641-28565-4 / 9783641285654
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