Verkannte Leistungsträger:innen (eBook)
380 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77034-4 (ISBN)
»Sie halten den Laden am Laufen«: Pflegekräfte, Paketbotinnen oder auch Arbeiter in den großen Fleischfabriken des Landes. Für ihren Einsatz während der Corona-Pandemie wurden sie von den Balkonen der Republik beklatscht. Doch ihr Alltag ist oft geprägt von prekären Beschäftigungsverhältnissen, schlechten Arbeitsbedingungen, Druck, Stress und Diskriminierung.
Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes haben mit Beschäftigten in für unser Leben so wichtigen Branchen wie Gesundheit, Ernährung oder Logistik gesprochen. Entstanden sind eindringliche Porträts, die sichtbar machen, was in der modernen Klassengesellschaft häufig im Schatten bleibt: Wie erfahren diese »Helden und Heldinnen des Alltags« ihre Situation? Welche Probleme machen ihnen am meisten zu schaffen? Und wo liegen Chancen für Veränderung? Das Ergebnis ist eine ebenso notwendige Würdigung der verkannten Leistungsträgerinnen und Leistungsträger wie ein unverzichtbarer Beitrag zum Verständnis der Arbeitswelt von heute.
<p>Nicole Mayer-Ahuja, geboren 1973, ist Professorin für die Soziologie von Arbeit, Unternehmen und Wirtschaft an der Georg-August-Universität Göttingen. Von ihr ist zuletzt erschienen: (jeweils als Mitherausgeberin) <em>Blick zurück nach vorn. Sekundäranalysen zum Wandel von Arbeit nach dem Fordismus</em> (2019) und <em>Karl Marx – Ratgeber der Gewerkschaften?</em> (2019).</p> Oliver Nachtwey, geboren 1975, ist Professor für Sozialstrukturanalyse am Fachbereich Soziologie der Universität Basel. Für sein Buch <em>Die Abstiegsgesellschaft</em> wurde er 2017 mit dem Hans-Matthöfer-Preis für Wirtschaftspublizistik ausgezeichnet.
Verkannte Leistungsträger:innen Berichte aus der Klassengesellschaft
Von Nicole Mayer-Ahuja und Oliver Nachtwey
Denn die einen sind im Dunkeln
Und die andern sind im Licht.
Und man siehet die im Lichte
Die im Dunkeln sieht man nicht.
Bertolt Brecht, »Die Moritat von Mackie Messer«
Sie halten den Laden am Laufen – die verkannten Leistungsträger:innen. Ob im Gesundheitswesen oder im Erziehungsbereich, in der Produktion oder der Logistik. Dieses Buch handelt von Menschen, die für die Reproduktion der Gesellschaft unverzichtbar sind, deren Beitrag aber nur selten sichtbar wird. Sie stehen im Schatten – die im Dunkeln sieht man nicht. Ihre Arbeit wird oft schlecht bezahlt, beruht auf unsicheren Beschäftigungsverhältnissen, ist schwer planbar, beeinträchtigt in vielen Fällen Gesundheit und Lebenszufriedenheit und erhält wenig gesellschaftliche Anerkennung. Sie ist also zumeist, wie es die französischen Soziologen Pierre Bourdieu (2004) und Robert Castel (2008) genannt haben, prekär: In Bezug auf Einkommen, rechtliche Absicherung und betriebliche Einbindung bleibt sie deutlich hinter dem zurück, was zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten Land als »normal« gilt (vgl. Mayer-Ahuja 2003).
Was verbindet die Leistungsträger:innen? Gibt es Gemeinsamkeiten bei dem, was sie tun? Kurz gesagt: Sie sind allesamt in erster Linie mit der Reproduktion von Arbeitskraft und gesellschaftlichen Beziehungen befasst. Dies betrifft Tätigkeiten, die der Sozialisation und Erziehung von Menschen dienen; die dazu beitragen, gesundheitliche und hygienische Standards aufrechtzuerhalten; die Mobilität, Schutz und eine Versorgung mit denjenigen Gütern gewährleisten, die direkt für die Sicherung des täglichen Lebensunterhalts benötigt werden – also für die materielle Reproduktion der Gesellschaft.
Wir wollen mit diesem Buch den Blick dafür schärfen, wer sie sind, wie sie arbeiten und leben, welchen Sinn sie mit ihrer Tätigkeit verbinden, was sie brauchen, um ihre gesellschaftlich notwendigen Arbeiten nach professionellen Ansprüchen zu verrichten, was sie gegebenenfalls daran hindert – und was man daraus über die gegenwärtige Klassengesellschaft lernen kann. Die Frauen und Männer, um die es hier geht, sollen nicht nur sichtbar werden, sondern auch Gelegenheit bekommen, mit eigener Stimme von ihrer Arbeit und ihrem Leben zu berichten.
Leistung, die sich nicht lohnt
»Leistung muss sich wieder lohnen!« Mit diesem Versprechen leitete Helmut Kohl (CDU) im Jahre 1982 das ein, was man damals die »geistig-moralische Wende« nannte. Wer könnte sich der Kraft des Arguments entziehen, dass diejenigen, die Leistung erbringen, davon auch etwas haben sollen? Sehen wir uns nicht alle als Leistungsträger:innen? Und möchten wir nicht alle, dass unser Einsatz, unsere Mühen anerkannt werden, dass wir besser dastehen als diejenigen, die nichts oder weniger leisten? So weit der »gesunde Menschenverstand«. Allerdings steckte hinter dem eingängigen Plädoyer für Leistung und deren Belohnung eine problematische Agenda: eine ideologische Neudefinition dessen, was als Leistung gelten sollte, und damit einhergehend der langfristige Rückbau von sozialen Rechten. Es war der Beginn eines langen »Reformprozesses«, der in den kapitalistischen Staaten des Globalen Nordens die Arbeitswelt grundlegend veränderte. Für diejenigen, die ihren Lebensunterhalt durch Lohnarbeit bestreiten mussten, indem sie ihre eigene Arbeitskraft verkauften und »abhängig beschäftigt« waren, war das Kohl’sche Versprechen keine gute Nachricht. Es begann eine Ära, in der die gesellschaftliche Norm der Leistung nachhaltig umgedeutet wurde. Die traditionelle Arbeiter:innenschaft hatte bislang einen nicht unwesentlichen Anteil ihrer Würde und ihres Stolzes aus der Tatsache bezogen, dass sie sich als Produzent:in des gesellschaftlichen Reichtums betrachtete. Eine ihrer frühen politischen Forderungen lautete: »Ein gerechter Lohn für ein gerechtes Tagewerk«. Darin spiegelte sich nicht nur das Leistungsprinzip, sondern auch der Wunsch nach Anerkennung. Diese Anerkennung wurde Arbeiter:innen (und auch »kleinen Angestellten«) allerdings zunehmend verwehrt. Der Produzent:innenstolz verschwand zwar nie völlig (wie viele Beiträge dieses Bandes zeigen), aber er war immer schwerer aufrechtzuerhalten. Als Leistungsträger:innen galten fortan andere: Unternehmer:innen, Manager:innen, Berater:innen und all diejenigen, die Geld, Einfluss und Erfolg hatten, egal ob diese selbst erarbeitet waren (Neckel 2008). Die Leistung »normaler« Beschäftigter hingegen wurde weniger anerkannt und »lohnte sich« weniger als zuvor. Dies gilt speziell für die Gruppen, die seit Beginn der Corona-Pandemie gerne als »Held:innen des Alltags« bezeichnet werden. Wie konnte das passieren? Fünf Zusammenhänge verdienen besondere Beachtung.
Erstens wurde der Appell, dass Leistung sich wieder lohnen müsse, schnell in Forderungen nach einer Senkung von Steuern übersetzt. Ausgehend von der gewagten Annahme, dass Vermögen schon irgendetwas mit besonderen Leistungen zu tun haben müsse, verzichtete der Staat auf erhebliche Steuereinnahmen. Dieses Geld fehlte in den folgenden Jahren für die Finanzierung öffentlicher Dienstleistungen.
Dies hatte (zweitens) direkte Auswirkungen auf die Arbeit in öffentlichen Diensten und deren Bedingungen. In staatlichen Krankenhäusern, Kindertagesstätten oder Einrichtungen der Jugendhilfe wurden die Budgets gekürzt, insbesondere die Personalkosten sollten sinken. Erreicht wurde dies oft durch die Auslagerung von Tätigkeiten an Subunternehmen, ein Trend, der auch in der Privatwirtschaft vielerorts stark ausgeprägt war (wir kommen später noch einmal darauf zurück). Wenn etwa Gebäude nicht mehr durch eigene Angestellte gereinigt werden, die Wäsche nicht mehr durch »eigene Leute« gewaschen und das Essen nicht mehr durch sie gekocht wird, sondern durch das Personal einer Fremdfirma, werden häufig deutlich geringere Löhne gezahlt oder (speziell in Deutschland, wo es diese Möglichkeit seit Langem gibt) »Minijobs« eingerichtet, für die keine Sozialversicherungsabgaben anfallen. Selbst dort, wo staatliche Einrichtungen weiterhin eigene Beschäftigte einsetzen, wird in Zeiten leerer öffentlicher Kassen oft am Personal gespart, weshalb die vorhandene Belegschaft immer mehr Arbeit in immer kürzerer Zeit zu leisten hat. Und private bzw. privatisierte Einrichtungen, die weniger Arbeitskraft einsetzen und entsprechend billigere Angebote unterbreiten können, legen damit Standards fest, an denen auch öffentliche Einrichtungen gemessen werden. Wie diese Abwärtsspirale im Einzelnen funktioniert, lässt sich etwa am Fall des Reinigungsgewerbes (vgl. Mayer-Ahuja 2003) oder auch an Veränderungen im Bereich der Kranken- und Altenpflege ablesen, die in den heute viel beklagten »Pflegenotstand« mündeten. Kurz: Die steuerliche Entlastung von Vermögenden trug zur massiven Reduzierung öffentlicher Dienstleistungen bei. Zugleich schlug sie sich in deutlich schlechteren Arbeits- und Lebensbedingungen für viele derjenigen nieder, die weiterhin für den Staat tätig sind oder in Unternehmen arbeiten, die privatisiert wurden und eine Senkung von Personalkosten durch die Einrichtung prekärer Jobs und die Steigerung von Arbeitsdruck erreichten.
Drittens wurde das soziale Sicherungssystem, das Beschäftigte gegen die Risiken der Lohnarbeit absichern soll, zurückgeschnitten. Damit Leistung sich wieder lohnt, so die Argumentation der Verantwortlichen, sollten Unternehmen und Beschäftigte, die sich etwa im deutschen System die Beiträge zur Sozialversicherung teilen, gleichermaßen entlastet werden. Für Unternehmen war die Senkung der als »Lohnnebenkosten« verunglimpften Sozialabgaben eine ungetrübte finanzielle Erleichterung – in dem Maße, wie die Personalkosten sanken, stiegen die Gewinne. Für Beschäftigte hingegen bedeutete die Durchsetzung von »mehr Netto vom Brutto«, dass sie im Falle von Arbeitslosigkeit, von Krankheit oder im Alter immer weniger Unterstützung bekamen. Die Koppelung der Lohnarbeit an soziale Sicherung, die nach dem Zweiten Weltkrieg in fast allen kapitalistischen Staaten ausgebaut worden war, wurde dadurch deutlich geschwächt. Die Leistung, die abhängig Beschäftigte im Laufe ihres...
Erscheint lt. Verlag | 12.9.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Angela Merkel • Bestseller • Bestseller bücher • Bestsellerliste • buch bestseller • Corona • Covid • Hans-Matthöfer-Preis 2016 • Jens Spahn • lockdown • Pandemie • Sachbuch-Bestenliste • Sachbuch-Bestseller-Liste |
ISBN-10 | 3-518-77034-9 / 3518770349 |
ISBN-13 | 978-3-518-77034-4 / 9783518770344 |
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