Was ist sexuelles Kapital? (eBook)

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2021 | 1. Auflage
150 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76979-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Was ist sexuelles Kapital? -  Dana Kaplan,  Eva Illouz
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Nicht die Natur bestimmt unsere Vorstellungen von Sexualität, sondern die Gesellschaft. War es früher die Religion, die den Sex regulierte, so ist es heute die Ökonomie. Kein Wunder also, dass »sexuelles« oder »erotisches Kapital« in der Soziologie, den Gender Studies, der Sexualwissenschaft und sogar in der Alltagssprache zu einer gängigen Metapher geworden ist, um die Motive und Konsequenzen von Praktiken etwa zur Steigerung der sexuellen Attraktivität zu beschreiben.

In ihrem konzisen und mit zahlreichen Beispielen angereicherten Buch verteidigen Dana Kaplan und Eva Illouz den Begriff des sexuellen Kapitals als analytische Kategorie, machen ihn jedoch komplexer und befreien ihn von Gender-Klischees sowie von rationalistischen und identitätspolitischen Kurzschlüssen. Sie zeigen, dass sexuelles Kapital verschiedene, historisch bedingte Formen annehmen kann, die zeitweise auch nebeneinander bestehen. Ihr Hauptaugenmerk gilt den Spezifika der neoliberalen Sexualität, die mit einer ganz eigenen Sorte von sexuellem Kapital einhergeht. Dieses zirkuliert längst nicht mehr nur im Bereich privater Intimbeziehungen, sondern in der gesamten Sphäre der kapitalistischen Reproduktion. Aus dieser Perspektive erscheint dann auch die Frage nach Klassen- und Geschlechterhierarchien in einem neuen Licht.



<p>Dana Kaplan, geboren 1970, studierte Soziologie an der Hebräischen Universität Jerusalem und unterrichtet derzeit an der Open University of Israel in Ra'anana.</p>

91. Einleitung: Sex und soziologische Metaphern


Zwei Soziologen haben unlängst ihre Disziplin dazu aufgerufen, bescheidener, ehrgeiziger und etwas freudvoller an die Erklärung der sozialen Welt heranzugehen.1 Zwar könne die Soziologie die Welt nicht verbessern, erklären sie, doch eröffne sie mit ihren Theorien, Begriffen und Metaphern gewiss neue Wege zu ihrem Verständnis. In diesem Essay wollen wir eine solche soziologische Metapher genauer betrachten, und zwar eine, die erheblichen Einfluss gewonnen hat und zunehmend nicht nur von Soziologinnen oder Gender- und Sexualforscherinnen im Munde geführt wird: die des sexuellen Kapitals. Auch im alltäglichen Gebrauch ist »sexuelles Kapital« zu einer verbreiteten Metapher geworden, um die realen sozialen und individuellen Konsequenzen unserer »sexy gemachten Welt« anzusprechen und zu fragen, wie die Leute damit »zurechtkommen«.2

Zunächst einmal scheuen wir ja vor dem Gedanken zurück, den Begriff Kapital auf eine Dimension wie die Sexualität anzuwenden, die doch ein Reich der Lust und Hingabe, des Ausprobierens und der Verspieltheit sein soll. Warum sollten wir ausgerechnet sie mit der ökonomisch-soziologischen Metapher des Kapitals in Verbindung bringen? Nun, ganz einfach deshalb, weil 10Sexualität immer »in Gesellschaft« stattfindet und veränderlichen gesellschaftlichen Kräften unterliegt. Die drei großen monotheistischen Religionen haben die Sexualität unerbittlich reguliert und in eine zentrale Größe für die Ideologien der Reinheit, der Familie und der politischen Macht verwandelt. Welche Rolle Sexualität in den Idealvorstellungen vom Selbst spielt, ist immer sozial. War sie in der traditionellen Welt von der Religion geprägt, so hat sie sich in unserer Spätmoderne hauptsächlich mit der Wirtschaft verflochten.

Die Metapher des sexuellen Kapitals unterstellt, dass Sex weit über die sexuelle Aktivität an sich hinaus ein Produktionsmittel für künftige Gewinne ist. Anders als Begriffe, deren Bedeutungen zumindest prinzipiell weithin geteilt und akzeptiert werden, sind Metaphern offener und weniger exakt. Darin liegt ihre Qualität als Vehikel, mit dem sich Dinge transportieren lassen, die gerade aufgrund der mangelnden begrifflichen Präzision der Metapher mitunter für die Vorstellungskraft der Soziologin von Nutzen sind.3 Trotzdem muss man feststellen, dass sich die Metapher des sexuellen Kapitals mittlerweile zwar einiger Beliebtheit erfreut, alles in allem aber theoretisch zu unbestimmt geblieben ist.

Im üblichen soziologischen Sprachgebrauch bezieht sich sexuelles Kapital auf den sexuellen Gewinn, den Menschen daraus ziehen können, Geld, Zeit, Wissen und affektive Energie in den Auf- und Ausbau ihrer sexuellen Persönlichkeit zu investieren, also in den Teil ihrer Identität, der ihre Sexualität betrifft. Ob sie sich mit plastischer Chirurgie Gesicht oder Körper verschönern 11lassen, populäre Sexratgeber konsultieren oder sich einer »Verführungsgemeinschaft« anschließen, in der sie vielleicht mehr Selbstvertrauen in ihre sexuelle Subjektivität entwickeln können: Mit all diesen Investitionen verbessern sie womöglich ihre Position im Wettbewerb um den sexuellen Zugang zu den Körpern anderer. Dieser sexuelle Konkurrenzkampf kann auf die Maximierung von Lust ausgerichtet sein, aber auch auf das bloße Gefühl, von anderen begehrt zu werden.

In diesem Essay beschreiben wir die historischen Bedingungen, unter denen vier verschiedene Formen sexuellen Kapitals entstanden, gediehen und manchmal auch wieder bedeutungslos geworden sind. Wir werden darüber hinaus die These vertreten, dass sich diese Formen von sexuellem Kapital im Neoliberalismus verändern und dass dieser Wandel für so unterschiedliche Phänomene verantwortlich ist wie Silicon-Valley-Sexpartys als Ausdruck der Hightech-Ideale von kreativer, spaßmachender und kollaborativer Arbeit, kosmetische Intimchirurgie, wie sie von Patientinnen der oberen Mittelklasse in Anspruch genommen wird, und sogar die Überzeugung mancher Sexarbeiter:innen, dass sie durch ihre Dienste Selbstwertgefühl erlangen und emotionale Belastbarkeit sowie andere arbeitsmarktrelevante Fertigkeiten entwickeln können.4 Wir nehmen eine eingehende Analyse der Auswirkungen des neoliberalen Kapitalismus auf Sex und Sexualität durch die Brille des Kapitalbegriffs vor. Das neoliberale Sexualkapital, wie wir es nennen, beruht auf der Fähigkeit, aus sexuellen Begegnungen Selbstwertgefühl zu beziehen und diesen 12Selbstwert in die eigenen Beschäftigungschancen zu investieren.

Natürlich ist die Vorstellung, dass die Sexualität das eigene Selbstwertgefühl steigern kann, nicht neu. Schon die Figur des Don Juan bietet das Paradigma einer Männlichkeit, in dem sexuelle Eroberungen um ihrer selbst willen, unabhängig von der Ehe und anderen Institutionen angestrebt werden, weil sie einen Wertzuwachs für das Selbst versprechen. Don Juan verkörpert ein Attribut einer Männlichkeit, die sich zunehmend von der Macht der Kirche befreit hat, nämlich die Fähigkeit, Begehren auszulösen und sein eigenes Begehren zu befriedigen. Eine solche Männlichkeit nimmt die Form der Beherrschung von Frauen an, deren Ruf ein Mann wie Don Juan zerstört, indem er sie ihres einzigen Aktivpostens auf dem Heiratsmarkt beraubt: ihrer Jungfräulichkeit. Zumindest in Molières Stück und in Mozarts Oper wurde dieser Charakter allerdings von Gott persönlich bestraft, was darauf hindeutet, dass serielle Sexualität dem Selbst nur dann einen gesellschaftlich anerkannten Wert verleihen kann, wenn sie in eine soziale und normative Ordnung eingebettet ist, die ihre Funktionalität sichert. Nicht umsonst wurden Frauen zur Zeit der unangefochtenen Vorherrschaft des Christentums durch eine Art »vorgegebenes« Sexualkapital namens Keuschheit definiert. In traditionellen Heiratsmärkten hing das Ansehen der Frau, und in geringerem Maße auch das des Mannes, von Jungfräulichkeit ab. Keuschheit (der Verzicht auf sexuelle Betätigung) hatte somit die Funktion, die Übereinstimmung der Frau mit den christ13lichen Idealen anzuzeigen und dadurch ihren Wert zu steigern. Die Sexualität spielte automatisch eine wichtige Rolle bei der Partnerwahl, weil Heiratsmärkte in traditionellen Gesellschaften sowohl auf der Reputation als auch auf den ökonomischen Aussichten der prospektiven Partner:innen beruhten. In vielerlei Hinsicht ist es diese normative Ordnung mit ihrer Schutzfunktion für Frauen vor männlichen sexuellen Beutezügen, die Don Juan herausfordert, weshalb seine Sexualität von ebendieser Ordnung, das heißt der des christlichen Patriarchats, noch machtvoll in die Schranken gewiesen wird. Damit sich ein vollwertiges sexuelles Kapital herausbilden kann, muss die Sexualität erst Autonomie gegenüber der Religion gewinnen. Somit war es die Lockerung der Normen und Tabus zur Regulierung der Sexualität und deren zunehmende Eingliederung in die ökonomische Sphäre, die die Bildung eines sexuellen Kapitals ermöglichte. Ist die Sexualität erst einmal durch wirtschaftliche Strategien strukturiert, bringt sie wirtschaftliche Vorteile und ist sie ein Schlüssel für die Sphäre der Wirtschaft selbst, dann sprechen wir von sexuellem Kapital in einer neoliberalen Kultur oder neoliberalem Sexualkapital.

Unser Verständnis des neoliberalen sexuellen Kapitals unterscheidet sich von drei zentralen Argumentationsfiguren, die üblicherweise in Bezug auf das Verhältnis von Sex und Ökonomie in Anschlag gebracht werden, nämlich Sex als legitimes Mittel im Kampf gegen das Ungleichgewicht der Geschlechter, sexuelle Identitäten als Plattform für Identitätspolitik sowie die sexuelle 14Kommodifizierung beziehungsweise die Monetarisierung der Sexualität. Auf alle drei Aspekte wollen wir kurz eingehen.

Wir wenden uns erstens gegen den kontroversen Begriff von sexuellem Kapital, für den die Soziologin Catherine Hakim bekannt geworden ist. Sie versteht erotisches Kapital als einen (dezidiert weiblichen) persönlichen Aktivposten, den Frauen auf dem Arbeitsmarkt und in Intimbeziehungen einsetzen können. Für sie verbindet erotisches Kapital »Schönheit, Sex-Appeal, Temperament, Charme und die Begabung, sich geschmackvoll zu kleiden, mit sozialer und sexueller Kompetenz. Es ist eine Kombination aus körperlicher und sozialer Attraktivität«, aus der sich, so ihre Behauptung, Kapital schlagen lässt, um an bessere Stellen heranzukommen oder in Intimbeziehungen sozusagen einen...

Erscheint lt. Verlag 12.9.2021
Übersetzer Michael Adrian
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie Gender Studies
Schlagworte Aby Warburg Preis 2024 • Anneliese Maier-Forschungspreis 2013 • Bestseller • Bestseller bücher • Bestsellerliste • buch bestseller • EMET-Preis 2018 • Frank-Schirrmacher-Preis 2024 • Kapitalismuskritik • Sachbuch-Bestenliste • Sachbuch-Bestseller-Liste • Sexualforschung • Soziologie
ISBN-10 3-518-76979-0 / 3518769790
ISBN-13 978-3-518-76979-9 / 9783518769799
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