King of Rap (eBook)
336 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-46280-5 (ISBN)
Kool Savas, 1975 in Aachen als Sohn türkisch-deutscher Eltern geboren, gilt als der einflussreichste und beste deutsche Rapper aller Zeiten. Seit über zwei Jahrzehnten prägt er die deutsche HipHop-Welt, seine Battle-Rap-Alben waren und sind stilprägend, der legendäre Track Das Urteil begründete ein ganzes Genre. Sein jüngstes Album Aghori erschien 2021 und ist das sechste Nr.-1-Album des King of Rap.
Kool Savas, 1975 in Aachen als Sohn türkisch-deutscher Eltern geboren, gilt als der einflussreichste und beste deutsche Rapper aller Zeiten. Seit über zwei Jahrzehnten prägt er die deutsche HipHop-Welt, seine Battle-Rap-Alben waren und sind stilprägend, der legendäre Track Das Urteil begründete ein ganzes Genre. Sein jüngstes Album Aghori erschien 2021 und ist das sechste Nr.-1-Album des King of Rap. Juri Sternburg, geboren 1983 in Berlin-Kreuzberg, ist Musikjournalist, Autor und Dramatiker. Er schreibt für die ZEIT, TAZ, Vice und Juice und erhielt 2018 den "International Music Journalism Award". Seine mehrfach ausgezeichneten Stücke premierten u.a. am Deutschen Theater Berlin, am Maxim Gorki Theater und am Hamburger Thalia Theater. Zuletzt erschien von ihm Das ist Germania im Droemer Verlag.
| 1 | Ohne Vergangenheit hat die Gegenwart keine Zukunft
Ich bin Vater geworden. Das bringt so einiges mit sich. In meinem Fall einen mittlerweile siebenjährigen Sohn, der mich vor Kurzem nach meiner ersten großen Erinnerung gefragt hat. Nach einem Moment, der sich so sehr eingeprägt hat, dass ich ihn auch heute noch direkt vor meinem inneren Auge aufrufen und abspielen kann. Jetzt ist das jedoch so eine Sache mit der Erinnerung. Jeder hat seine eigene. Bei einem einfachen Unfall am helllichten Tag müsste man annehmen, dass es jede Menge verwertbarer Zeugenaussagen gibt. Schließlich haben alle gesehen, was geschehen ist. Und dennoch sitzen später auf der Wache zehn Personen, die alle etwas anderes erzählen. Irgendwer lügt, denkt man dann schnell. Doch so ist es nicht. Menschen, die sich falsch erinnern, sind in der Regel keine Lügner. Sie erinnern sich einfach nur nicht richtig, haben entscheidende Punkte nicht mitbekommen oder sind zu einem falschen Gesamtbild der Situation gekommen. Entweder weil sie von Dritten beeinflusst wurden, weil ihre persönliche Erfahrung nicht dem Gesehenen entspricht oder weil sie eine Situation so oft durchdacht haben, dass sie schließlich ihre eigene Erinnerung kreiert haben. Wenn man eine Geschichte oft genug gehört hat, dann glaubt man sie irgendwann. Vollkommen egal, ob sie wirklich so geschehen ist. Und wenn einem die Erinnerung schon in solchen Fällen einen Streich spielt, wie soll man sich dann erst an ein ganzes Leben erinnern? Wie soll das gehen?
Aber mein Sohn hat nun mal gefragt, und das nicht nur ein Mal. Kindliche Neugier, da hat man keine Chance. Also krame ich in meinem Gedächtnis, von dem ich ganz genau weiß, wie sehr es einen betrügen kann. Versetze mich erstmal in die Zeit zurück, als ich, damals etwa zehn, elf Jahre alt, mit meiner Familie in der Waldemarstraße in Kreuzberg 36 lebte.
Ein Katzensprung zum Kottbusser Tor und ein Steinwurf von der Berliner Mauer entfernt. Hier lebten vor allem Gastarbeiter aus der Türkei, Sozialhilfeempfänger aus Berlin und Hausbesetzer aus Süddeutschland, die keinen Bock auf die Wehrpflicht in ihrer westdeutschen Heimat hatten, sowie ein paar Rentner, die vollkommen nachvollziehen konnten, warum die jungen Leute sich die Wohnungen nahmen, die ansonsten ja einfach leer stehen würden.
Die Mentalität der neuen Generation hingegen war eine ganz andere. Es konnte nur besser werden, nur nach vorne gehen. Am 1. Mai stand die Luft im gesamten Viertel voll Tränengas, sodass die Nachbarn nasse Tücher vor die Ritzen der Fenster und Türen legten, damit das in den Augen brennende Gift nicht in die Wohnungen zog. Sich mit der Polizei anzulegen oder ganze Straßenzüge mit Barrikaden zu versperren, war eine gängige Praxis, um die Cops aus dem Bezirk zu halten, wenn mal wieder Häuser geräumt werden sollten oder Demonstrationen ausarteten. Das mag sehr dramatisch klingen, und doch war es Alltag. Vielleicht hatte das mit der Mauer zu tun, die man als sogenannter 36er quasi im Rücken hatte und die den halben Bezirk einkesselte. Der ein oder andere mag darin das Bild einer in die Ecke gedrängten Ratte sehen, für die Menschen, die in Kreuzberg versuchten, eine linke Utopie zu errichten, war die Mauer jedoch ein Schutzwall. Man musste sich nie sorgen, wer von hinten kam, wenn man von vorne angegriffen wurde. Denn von hinten kam keiner.
Aber es gab natürlich nicht nur Revolutionäre im Viertel. Wer kein Hausbesetzer war, der stand meistens von morgens bis abends in der Fabrik. Und wie soll man Zeit haben, über die Revolution und eine andere Welt nachzudenken, wenn man sich den Rücken krumm schuften muss, damit der Chef sich noch einen weiteren Porsche kaufen kann? Und auch für uns Kids gab es jene Tage, an denen nichts los war und man am Oranienplatz oder in der Dresdner Straße saß und darauf wartete, dass mal wieder irgendwas passierte. Weil das war klar: In Kreuzberg passierte öfters etwas.
Mitten in diesem brodelnden und sich gerade drastisch wandelnden Kiez lebten wir, die nicht so hundertprozentig in das Bild passten, das man klischeehaft von einer Familie aus der Türkei hat. Familie Yurderi. Mein Vater arbeitete nicht am Fließband oder im Gemüseladen und meine Mutter putzte nicht die schicken Wohnungen betuchter Charlottenburgerinnen. Ich weiß, das mag für viele ein Schock sein, aber das gab es damals tatsächlich. In Deutschland hat es gefühlt sechzig Jahre gebraucht, bis die Öffentlichkeit so langsam begriff, dass Menschen mit schwarzen Haaren auch Anwalt, Journalist oder Arzt sein können.
In der Waldemarstraße, in dem Haus gegenüber des berühmten und schon von Rio Reiser besungenen Mariannenplatzes, lebten wir. Genauer gesagt in einer Wohnung. Drei Zimmer, 80 Quadratmeter. Geht besser, geht aber auch deutlich schlechter. Darin meine Eltern, meine Schwester und mein Bruder. Ein Fernseher, ein Tisch, das Sofa, auf dem mein Vater Nachrichten schaute und Tee trank. Und dann liegt da diese Kleiderbürste, eine bescheuerte Kleiderbürste in Form eines Igels. Ich kannte sie bereits aus Istanbul, und dorthin trägt mich dann auch die Erinnerung zurück. Ich sehe mich mit drei oder vier Jahren, wie ich die Kleiderbürste nach meinem Vater werfe und ihn wohl etwas zu fest treffe, keine Ahnung, wieso ich mich das damals getraut habe. Bis heute habe ich meinem Vater nicht ein einziges Mal wirklich widersprochen, wieso ich es also wagte, eine Bürste nach ihm zu werfen? Aber das ist wohl einer dieser Fälle von Erinnerung, die in der Versenkung verschwunden ist. Auf jeden Fall fand er das überhaupt nicht witzig. Und plötzlich passierte etwas, was ich bis dahin so nicht kannte und nie erlebt hatte: Mein Vater wurde laut, stauchte mich richtig zusammen. Er schrie beinahe. Und ich wusste nicht, was ich mit dieser neuen Emotion anfangen sollte, die ich bis dahin nicht kannte. Das ist sie, meine prägendste Erinnerung aus der Vergangenheit. Ein plötzlich schimpfender Vater.
Bevor er aus dem Gefängnis in Istanbul zu uns nach Deutschland kam, war mein Papa fast immer ein eher ruhiger Typ gewesen. Bis dahin hatte er mich nicht einmal ausgeschimpft oder gar angeschrien, zumindest erinnere ich mich nicht daran. Im Türkischen gibt es das Wort »kibar«, was auf Deutsch so viel bedeutet wie »sanftmütig«. Aber natürlich klingt es im Türkischen sehr viel blumiger und besser, so wie vieles. Mein Vater war und ist auf jeden Fall »kibar« durch und durch. Bis zu meinem sechsten Lebensjahr, als er von einem Tag auf den anderen verhaftet und in den Knast gesteckt wurde, hatten wir immer zusammengelebt, und bis auf dieses eine Mal habe ich ihn nie schreiend oder aufbrausend erlebt. Nicht in Aachen, wo ich geboren wurde und mein erstes Lebensjahr verbrachte, nicht in Istanbul, wo wir hingezogen waren, bevor meine Mutter nach der Verhaftung meines Vaters mit mir zurück nach Deutschland ging. Im Nachhinein kommt mir diese Zeit wie eine harmonische und perfekte Kindheit vor, auch wenn sie das bestimmt nicht immer war. Wenn mein Vater mir Spielzeug schnitzte, dann bedeutete das für mich nicht, dass wir arm sind, sondern dass er mir etwas Gutes tat. Mein Vater war dieser nette und liebe Mann aus Istanbul, der mir Spielzeug schnitzte. Zumindest bis zu dem Moment, als ich in Istanbul diese verfluchte Kleiderbürste warf.
Ich war sechs Jahre alt, als ich in Istanbul aus dem Kindergarten kam und er einfach nicht mehr da war. Verschwunden, als hätte sich ein Schwarzes Loch aufgetan und ihn eingesaugt. Und auch meine Mutter schien von diesem Schwarzen Loch angezogen zu werden, niemand erklärte mir, was vor sich ging oder wo sich mein Vater befand. Eine unfassbare Leere, die man vor mir zu verheimlichen versuchte. Dass mein Opa plötzlich bei uns in der Wohnung saß, war allerdings ein deutliches Signal, dass irgendetwas nicht stimmte. Im Laufe der nächsten Woche vor unserer Flucht, in der wir weder wussten, wo mein Vater sich befindet, noch ob er überhaupt noch lebt, reimte ich mir selber zusammen, was passiert sein musste. Vielleicht war er im Urlaub? Oder auf der Arbeit? Vielleicht war er einfach in eine andere Stadt gezogen? Wenn die Erwachsenen konspirativ zusammensaßen, rauchten und diskutierten, bekam ich ein diffuses Gefühl dafür, was passiert war. Er war weg. Und der Grund dafür waren irgendwelche bösen Männer. Aber nach wie vor erklärte mir niemand, wo der Mann war, der mein Spielzeug schnitzte.
Aber was soll man einem Sechsjährigen auch erzählen, über den brutalen Staat und den Kommunismus, über Gefängnisse und über die Gründe, warum der eigene Vater in einem solchen sitzt? Was verstand ich schon von Militärputschen, Studentenprotesten und Untergrundbewegungen. Nichts. Dennoch haben die Erinnerungen aus meiner frühesten Kindheit mehr oder weniger mit den Gründen zu tun, wegen denen mein Vater in den Knast kam und meine Mutter und ich nach Deutschland flohen. Es sind Fetzen von Bildern und Stimmen. Demonstrationen und Kundgebungen, ich mit fünf oder sechs Jahren an der Hand meiner Mutter. Ich sehe rennende Beine, höre die Aufregung und Panik der Menschen um uns herum. Militär und Polizei, es fallen Schüsse, Leute stolpern und fallen. Und dann ist alles wieder ganz ruhig. Ich sitze zu Hause und spiele mit den wenigen Matchbox-Autos, die ich besitze, die Erwachsenen reden wieder. Über Politik und die Revolution und all diese Dinge, von denen ich kaum etwas verstand.
Eine weitere Erinnerung sind die meterhohen Flammen auf dem Meer, direkt vor Istanbul. Für Erwachsene mag der Anblick eines brennenden Meers einprägsam und schockierend sein, für einen kleinen Jungen wie mich war es ein absolutes Spektakel. Die Independenta war ein rumänischer Öltanker, der am...
Erscheint lt. Verlag | 1.9.2021 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
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ISBN-10 | 3-426-46280-X / 342646280X |
ISBN-13 | 978-3-426-46280-5 / 9783426462805 |
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