Alexei Nawalny - Schweigt nicht! (eBook)
96 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-46428-1 (ISBN)
Alexandra Berlina wurde in Moskau geboren und lebt mit ihrer Familie in Düsseldorf. 2012 promovierte sie über Literaturübersetzung. 2020 erschien ihre deutsche Fassung von Bulgakows Der Meister und Margarita; ihr Nachwort konzentriert sich auf den politischen Hintergrund des Romans. Als Mitglied der Gruppe »Freies Russland NRW« demonstriert sie regelmäßig für die Befreiung politischer Häftlinge. Sie übertrug Gedichte von Maria Aljokhina (»Pussy Riot«) ins Englische, dolmetschte bei der Konferenz »Free Press Seminar« (Würzburg 2018) für prominente kritische Journalist*innen aus Russland, und arbeitet als Lektorin und Übersetzerin für dekoder.org - ein Presse-Portal zu Russland, das den Grimme Online Award 2021 gewann.
Alexandra Berlina wurde in Moskau geboren und lebt mit ihrer Familie in Düsseldorf. 2012 promovierte sie über Literaturübersetzung. 2020 erschien ihre deutsche Fassung von Bulgakows Der Meister und Margarita; ihr Nachwort konzentriert sich auf den politischen Hintergrund des Romans. Als Mitglied der Gruppe »Freies Russland NRW« demonstriert sie regelmäßig für die Befreiung politischer Häftlinge. Sie übertrug Gedichte von Maria Aljokhina (»Pussy Riot«) ins Englische, dolmetschte bei der Konferenz »Free Press Seminar« (Würzburg 2018) für prominente kritische Journalist*innen aus Russland, und arbeitet als Lektorin und Übersetzerin für dekoder.org – ein Presse-Portal zu Russland, das den Grimme Online Award 2021 gewann.
»Wladimir der Unterhosenvergifter:
So geht er in die Geschichte ein«
Verhandlung gegen Alexei Nawalny wegen des Vorwurfs von
Verstößen gegen Bewährungsauflagen im Fall Yves Rocher –
Hauptverhandlung vor dem Bezirksgericht Simonowski (Moskau),
2. Februar 2021
Ende 2012 reichte die russische Tochtergesellschaft des Kosmetikunternehmens Yves Rocher bei dem Ermittlungskomitee der Russischen Föderation eine Anzeige gegen ein russisches Unternehmen, das unter der mittelbaren Kontrolle von Alexei Nawalny und Oleg Nawalny stand, ein (im Folgenden steht »Yves Rocher« immer für jene Tochtergesellschaft). Am selben Tag wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Dem Politiker Alexei Nawalny, der bereits damals eine prominente Oppositionsfigur war, sowie seinem Bruder Oleg wurde vorgeworfen, Yves Rocher bei der Erbringung von Dienstleistungen im Zeitraum zwischen 2008 und 2012 betrogen zu haben. Es gibt viele Hinweise darauf, dass es Ermittlungsbehörden waren, die das Unternehmen ursprünglich zu der Verdachtsanzeige aufgefordert hatten. Noch vor Prozessbeginn reichte Yves Rocher aus eigener Initiative eine Stellungnahme ein: Eine interne Ermittlung habe ergeben, dass dem Unternehmen kein Schaden entstanden sei. Die Rücknahme der Anzeige durch den Anzeigensteller hinderte jedoch die Ermittlungsbehörden nicht daran, das Verfahren fortzuführen.
2013 wurden die Konten der Nawalny-Brüder eingefroren; Ende 2014 wurden die beiden trotz öffentlicher Proteste und Kritik seitens verschiedener Menschenrechtsorganisationen des Betrugs und der Geldwäsche für schuldig befunden. Alexei wurde zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung von dreieinhalb Jahren mit einem Bewährungszeitraum von fünf Jahren verurteilt, Oleg zu dreieinhalb Jahren Gefängnis ohne Bewährung und beide jeweils zu einer Geldstrafe in Höhe von 500000 Rubel. Ein Berufungsgericht beließ das Urteil Anfang 2015 bis auf die Geldstrafe von Alexei Nawalny unverändert. Während Oleg Nawalny seine Gefängnisstrafe abbüßte, musste Alexei Auflagen erfüllen und sich insbesondere regelmäßig bei den Behörden melden. 2017 wurde sein Bewährungszeitraum bis Ende 2020 verlängert.
In der Zwischenzeit wandten sich die Brüder Nawalny an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dieser befand 2017, dass das ursprüngliche Urteil jeglicher Grundlage entbehre, und sprach den Verurteilten Schadenersatz zu. Nun geschah etwas Seltsames: Das Geld wurde tatsächlich vom russischen Staat an Nawalny ausgezahlt, die Verurteilung blieb jedoch in Kraft. Das Oberste Gericht der Russischen Föderation entschied nämlich im Folgejahr, dass die unterinstanzlichen Entscheidungen nicht gegen russisches Recht verstießen und damit rechtskräftig blieben.
Am 28. Dezember 2020, als Nawalny sich nach dem Giftanschlag und seiner Behandlung an der Charité noch in Deutschland befand, erklärte die russische Bundesstrafvollzugsbehörde, er habe sich am nächsten Tag in Moskau einzufinden, andernfalls werde seine Bewährungsstrafe in eine Haftstrafe umgewandelt. Als Begründung wurde ein in der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet eine Woche zuvor veröffentlichter Fallbericht angegeben: Dort dokumentierten Ärzte der Charité Nawalnys Krankheitsverlauf und erwähnten unter anderem, dass er am 20. September 2020 aus dem Krankenhaus entlassen worden und seit Oktober beinahe symptomfrei sei. Nachdem am 18. Januar 2021 über Nawalnys Verhaftung bei der Einreise entschieden worden war, fand am 2. Februar 2021 die Hauptverhandlung zum Verstoß gegen Bewährungsauflagen im Fall Yves Rocher statt. Es folgt die Stellungnahme von Alexei Nawalny nach der Beweisaufnahme durch das Gericht.
Ich möchte zunächst eine juristische Frage erörtern, die mir entscheidend vorkommt und die bisher unter den Tisch gefallen ist. Es mutet ja doch etwas seltsam an: Hier sitzen zwei Personen, und die eine sagt: ›Stecken wir Nawalny ins Gefängnis, weil er am Donnerstag statt am Montag erschienen ist.‹ Darauf die andere: ›Nein, stecken wir Nawalny ins Gefängnis, weil er nicht unmittelbar, nachdem er aus dem Koma erwacht war, zu seinem Bewährungstermin gekommen ist.‹ Und so geht diese Diskussion weiter – ob Montag oder Donnerstag, wer wann welche Papiere hätte schicken sollen etc.[11]
Aber lassen Sie mich mal einen kleinen Elefanten hier im Raum erwähnen. Ich möchte, dass alle – die Presse, die über diesen Prozess schreibt, und auch alle anderen – bedenken: Es geht darum, mich wegen einer Sache einzusperren, in der ich bereits für unschuldig befunden wurde, ja, wegen eines erwiesenermaßen fingierten Falles.
Das ist nicht einfach nur meine persönliche Meinung. Wenn wir ein beliebiges Strafrechtslehrbuch aufschlagen – ich hoffe, Euer Ehren, Sie haben das in Ihrem Leben ein paar Mal gemacht –, sehen wir, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zum russischen Justizsystem gehört, da Russland Mitglied des Europarats ist. Die Urteile des EGMR sind bindend. Ich habe mich an den Europäischen Gerichtshof gewandt und alle notwendigen Stufen des Prozesses durchlaufen, und der Europäische Gerichtshof hat eine Erklärung abgegeben, in der schwarz auf weiß steht: Es gibt nicht einmal einen Straftatbestand. Der Fall, wegen dem ich mich in diesem seltsamen Käfig[12] befinde, ist von Anfang bis Ende fingiert. Nicht nur das, die Russische Föderation hat diese Entscheidung im Grunde anerkannt – wenn auch nur halbherzig –, denn ich habe wegen des EGMR-Urteils sogar eine Entschädigung erhalten.
Trotzdem saß mein Bruder in dieser Sache dreieinhalb Jahre im Gefängnis – ich wiederhole, nachdem das Ganze offiziell als fingiert anerkannt worden war, und zwar von einem Gericht, dessen Urteile in Russland bindend sind. Ich habe in dieser Sache ein Jahr unter Hausarrest gestanden. Eine Woche bevor dieser auslief, wurde ich verhaftet, vor Gericht gebracht – ohne richtigen Anwalt, mir wurde ein Pflichtverteidiger aufgezwungen –, und dann wurde mein Hausarrest um ein weiteres Jahr verlängert.
Wir wollen mal ein wenig rechnen. 2014 wurde ich zu dreieinhalb Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Jetzt schreiben wir das Jahr 2021, aber ich stehe immer noch vor Gericht. Ich bin bereits als unschuldig anerkannt worden; es gibt überhaupt keinen Straftatbestand. Trotzdem bemüht sich unser Staat mit geradezu manischer Sturheit, mich in dieser Sache ins Gefängnis zu stecken.
Warum gerade in dieser Sache? An Strafverfahren gegen mich mangelt es sicher nicht, ein weiteres wurde gerade erst eröffnet.[13] Aber jemand wollte, dass ich sofort nach meiner Rückkehr verhaftet werde; jemand wollte unbedingt, dass ich keinen einzigen Schritt als freier Mensch in unserem Land mache. Er wollte, dass ich zu einem Gefangenen werde, sobald ich die Grenze überquere. Und wir wissen alle, wer das war. Wir wissen, warum das passiert ist. Grund dafür sind der Hass und die Angst eines Menschen, der im Bunker lebt. Schließlich habe ich ihn tödlich beleidigt: Ich habe überlebt, obwohl man mich auf seinen Befehl hin umzubringen versucht hat.
Staatsanwältin Frolowa: Ich beantrage, Nawalny zur Ordnung zu rufen.
Mich brauchen Sie nicht zur Ordnung zu rufen. Zum wiederholten Male, Euer Ehren: Will diese Staatsanwältin mich jetzt daran hindern, meine Meinung zu sagen?
Richterin Repnikowa: Ich erinnere Sie daran, dass wir den Widerruf einer Strafaussetzung prüfen. Wir befassen uns in diesem Prozess mit keinen anderen angeblichen Straftaten. Die Angelegenheit, um die es hier geht, ist der Widerruf einer vom Bezirksgericht Moskau-Samoskworetschje ausgesprochenen Bewährung. Ich bitte Sie, bei der Sache zu bleiben.
Das tue ich, Euer Ehren. Ich äußere meine Meinung zu dieser Sache in voller Übereinstimmung mit dem Gesetz. Dass eine Vertreterin der Staatsanwaltschaft mich immer wieder unterbricht und zum Schweigen zu bringen versucht, veranschaulicht übrigens gut, was hier vor sich geht. Was ich sage, hat unmittelbar mit dem zu tun, was hier geschieht. Nun, machen wir weiter.
Ich habe ihn tödlich beleidigt, indem ich überlebt habe – dank guter Menschen, dank Piloten und Ärzten. Dann habe ich ihn noch ärger beleidigt: Nicht nur bin ich am Leben geblieben, ich habe mich auch nicht versteckt, habe mich nicht irgendwo in einen bewachten Bunker verzogen – einen kleineren, meinen Mitteln entsprechend. Und schließlich kam es noch schlimmer: Nicht nur bin ich am Leben geblieben und habe mich nicht einschüchtern lassen – ich habe mich auch noch an Recherchen zu meiner eigenen Vergiftung beteiligt, und wir konnten beweisen, dass es Putin war, der mithilfe des Föderalen Sicherheitsdienstes das Attentat verübt hat.[14] Ich war auch nicht sein einziges Opfer.[15] Viele wissen das inzwischen, und viele andere werden es erfahren, und das treibt den diebischen kleinen Mann im Bunker in den Wahnsinn. Diese Enthüllung, dass das alles jetzt an die Öffentlichkeit kommt, verstehen Sie? Da ist nichts mit hohen Beliebtheitswerten und allgemeiner Unterstützung. Wir wissen jetzt: Um einen politischen Gegner zu bekämpfen – einen, der keinen Zugang zum Fernsehen besitzt und nicht einmal eine politische Partei hinter sich hat[16] –, muss man einfach versuchen, ihn mit einer chemischen Waffe umzubringen. Natürlich dreht er durch: Jetzt...
Erscheint lt. Verlag | 2.8.2021 |
---|---|
Übersetzer | Dr. Alexandra Berlina |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Aleksey Navalny • Alexei Navalny • Alexei Nawalny • Alexej Nawalny • Anklage • Anschlag • Anti-Korruptions-Kampagne • Autokratie • Buch Nawalny • Demokratie • Diktatur • Dissident • fsb • Gabriele Krone-Schmalz • Geheimdienst • Gerhart Baum • Gericht • Geschichte des Faschismus • GULAG • Held • Hungerstreik • Internationale Politik • KGB • Korruption • Kreml • Kremlkritiker • Krim • Leonid Volkov • Leonid Wolkow • Mafia • Moskau • Nawalny-Affäre • Nowitschok • Opposition • Plädoyer • Politische Geschichte • Prozess • Rechtsprechung • Reden • reden nawalny • Reden vor Gericht • Regimekritiker • Richter • Richterin • Russisch • russische politik • russischer Politiker • Russland • Russland Buch • Russland verstehen • Schlusswort • Schlussworte • Schweigt nicht! • Solschenizyn • Strafkolonie • Straflager • verurteilt • Whistleblower • Wladimir Putin |
ISBN-10 | 3-426-46428-4 / 3426464284 |
ISBN-13 | 978-3-426-46428-1 / 9783426464281 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 801 KB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich