Kategorisierungsarbeit in Hilfen für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung -  Daniela Molnar,  Andreas Oehme,  Anna Renker,  Albrecht Rohrmann

Kategorisierungsarbeit in Hilfen für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung (eBook)

Eine vergleichende Untersuchung
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
207 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-6677-7 (ISBN)
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Jedes Kind und jeder Jugendliche hat »ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung« (§ 1 Abs. 1 SGB VIII). Die Art und Weise der Förderung, sofern sie der professionellen Unterstützung bedarf, ist jedoch stark abhängig von Kategorisierungen und Zuschreibungen von Hilfebedarfen. Der Band legt Ergebnisse einer DFG-geförderten Untersuchung von Verfahren und Akten aus vergleichbaren, jedoch bislang rechtlich getrennten Hilfen für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderungen vor. Der Vergleich macht Unterschiede zwischen den amtlichen Verfahren und Perspektiven auf Kinder, Jugendliche und Eltern deutlich, die in Folge der Inklusionsdebatte überwunden werden sollen.

Dr. Daniela Molnar ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Department Erziehungswissenschaft und Psychologie der Universität Siegen. In Forschung und Lehre setzt sie sich insbesondere mit Hilfen für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung und mit dem Handlungsfeld der niedrigschwelligen Drogenhilfe auseinander.

2.   Akten und ihre Analyse


Anna Renker

Der „Grundsatz der Aktenmäßigkeit der Verwaltung“ ist nach Max Weber (1976, S. 128) ein sinnvolles Element jeder Bürokratie. Für Verwaltungen gilt, „quod non est in actis, non est in mundo“ (was nicht in den Akten ist, ist nicht in der Welt) (Müller 1980, S. 37). Dies verweist auf die zentrale Bedeutung von Akten im Kontext behördlicher Entscheidungs- und Bearbeitungsprozesse und betont, dass in Sozialverwaltungen ausschließlich „die der Behörde gesetzlich zustehenden und in der Akte niedergelegten Kenntnisse von personenbezogenen Daten […] Gegenstand der Datenverarbeitung“ sein können (Maas 1996, S. 129 f.). Akten sichern Verwaltungshandeln und fungieren als Medien zur inter- und intraorganisationellen Kommunikation, „in denen das administrative Handeln seine Spuren in verschlüsselter Form hinterlassen hat“ (Müller/ Müller 1984, S. 40).

Akten sind dabei als eine „unter chronologischen und/oder sachlichen Gesichtspunkten angelegte Sammlung von zumeist sehr unterschiedlichen Einzelschriftstücken“ (ebd., S. 30) zu verstehen. Diese Schriftstücke einer Akte sind Dokumente, die in bestimmten Formaten aufzufinden sind, wie z. B. Notizen, Berichte, Vermerke, Protokolle, Urteile, Briefe, E-Mails und Gutachten1. „Aktenführung meint das Erstellen, Bearbeiten und Ändern von Akten, also die verschiedenen Tätigkeiten rund um die ‚Datenverarbeitung‘. Als Dokumentation bezeichnen wir das Ergebnis der Aktenführung, die Sammlung und Ablage der auf Papier […] gespeicherten Daten in der Organisation“ (Geiser 2000, S. 23).2

Die Aktenanalyse des Forschungsprojektes ‚Kategorisierungsarbeit in Hilfen für Kinder und Jugendliche‘ fokussiert die Analyse von Akten als Verwaltungsdokumente in zwei verschiedenen Sozialleistungsbereichen und bezieht sich auf einzelfallbezogene Dokumente, die in einer Akte der jeweils leistungsverwaltenden Institution geführt werden. Da diese einzelfallbezogenen Dokumente im Prozess der Fallbearbeitung generiert werden, sind bei ihrer Analyse die Wechselwirkungen zwischen organisationalen Strukturen des spezifischen Sozialleistungsträgers und der Aktenführung zu beachten.

Im folgenden Kapitel werden die projektspezifische Perspektive auf Akten und das Vorgehen der Aktenanalyse beschrieben. Anhand von unterschiedlichen Perspektiven auf das Themenfeld von Dokumentationen in Sozialverwaltungen erfolgt eine allgemeine Einführung. Ein besonderes Augenmerk liegt hierbei auf der Interdependenz von Akten und ihren organisationalen Kontexten sowie auf den unterschiedlichen Funktionen von Verwaltungsdokumenten in der behördlichen Fallbearbeitung. Der zweite Abschnitt dieses Kapitels geht auf die dem Projekt zugrundliegende ethnomethodologische Perspektive auf das empirische Datenmaterial ein. Die ethnomethodologische Dokumentenanalyse betrachtet Dokumente als Herstellungsleistung, was insbesondere bei Verwaltungsdokumenten eine dem Gegenstand angemessene Forschungshaltung ist, denn die Konstruktion verwaltbarer Fälle entsteht erst durch die Herstellungsprozesse im Rahmen der Herstellung von Akten. Zur Fallbearbeitung in Sozialverwaltungen müssen verwaltbare ‚Adressat*innen‘ und deren ‚Probleme‘ organisational hergestellt und wohlfahrtstaatlich ‚bearbeitbar‘ gemacht werden (vgl. Böhringer et al. 2012; Wolff/Müller 1997; Messmer/Hitzler 2007), was sich als fallbezogene Kategorisierungsprozesse in den Akten niederschlägt. Sozialverwaltungen beziehen sich auf Akten als Darstellungsform von Wirklichkeit. Daher richtet sich die ethnomethodologische Aktenanalyse auf dokumentarische Wirklichkeiten der Fallakten und die Methodologie ihrer sozialen Produziertheit. Im dritten Teil stehen das konkrete Vorgehen der Aktenanalyse, die Beschreibung des Datenmaterials, sowie eine Übersicht der unterschiedlichen Dokumentenarten in Fallakten der Kinder- und Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe (SGB XII) im Vordergrund.

2.1   Dokumentation und Akten in Sozialverwaltungen


Dokumentationen wirken sich sowohl auf die Einzelfallarbeit, auf die jeweilige Organisation als auch auf Professionalisierungstendenzen der Sozialen Arbeit aus (vgl. Schimke 2015; Merchel 2004; Ley/Seelmeyer 2014). Im Rahmen der Fallbearbeitung im Einzelfall dient Dokumentation als Grundlage für Berichte und Gutachten und wird als Tätigkeitsnachweis sowie als Legitimation gegenüber Adressat*innen, Kolleg*innen und prüfenden Instanzen herangezogen. Als das zentrale Kommunikationsmedium kann die Akte zudem der dokumentierenden Fachkraft sowohl im Verfahren der Fallbearbeitung als auch in der Organisation zur Darstellung der eigenen Professionalität oder von Machtkonstellationen dienen. Die Aktenführung trägt zur Kritikimmunisierung im Kontext der Fallbearbeitung bei, denn die Akte dokumentiert, „daß gearbeitet wird, ohne allerdings deutlich machen zu können, was wirklich getan wird und vor allem, was aus welchen Gründen unterlassen wurde“ (Müller/Müller 1984, S. 24; vgl. Lau/Wolff 1981).

Forderungen nach mehr Dokumentationsarbeit im Zusammenhang mit Evidenzbasierung sind u. a. in Relation zu politischen Narrativen knapper öffentlicher Haushalte zu sehen. „Effektivität und Effizienz werden zu Leitkategorien der geforderten Legitimation Sozialer Arbeit, und mit Hilfe von transparenter Dokumentation soll der Forderung und dem Bedürfnis nach Legitimation Rechnung getragen werden“ (Merchel 2004, S. 17). Insbesondere im Kontext von kontroversen Verantwortlichkeiten, Zuständigkeiten und Leistungsansprüchen kommt der Dokumentation die wachsende Bedeutung als Handlungsnachweis hinsichtlich straf-, aufsichts- und haftungsrechtlicher oder auch arbeitsrechtlicher Überprüfungen zu. In gerichtlichen Verfahren werden Akten als Beweismittel herangezogen. Dabei ist es wesentlich, inwiefern die angeklagten Fachkräfte ihr Handeln in der Akte begründen und in seiner Prozesshaftigkeit dokumentieren (ebd., S. 20).

Die Dokumentierenden sind sich sowohl der grundlegenden Differenz zwischen ihren Akten und ihrer Handlungspraxis bewusst, wissen aber auch, dass die erwarteten Rezipient*innen Akten tendenziell ‚wörtlich‘ nehmen und richten ihre Dokumentationsweise darauf aus. Nur in seltenen Fällen kommt es zur umfassenden Akteneinsicht der Adressat*innen der Hilfe. Solche direkten Konfrontationen mit behördlichen Dokumentationen in den eigenen Fallakten können schmerzliche Differenzerfahrungen auslösen, insbesondere da schlussendlich nach Aktenlage als dominantes Kriterium entschieden wird (vgl. Wolff 2015). Jene Differenzerfahrungen zwischen den Wahrnehmungsweisen und den institutionalisierten Machtkonstellationen werden nur selten genutzt, um latente bzw. implizite Prozesse transparent zu machen und mehr Partizipation an den Verfahren zu ermöglichen.

Auf institutioneller Ebene richtet sich an die Dokumentation eine „Hoffnung auf Professionalitätsgewinn“ sowie „Bestrebungen zur Evaluation und Qualitätsgewinnung“ (Merchel 2004, S. 18). Die Dokumentation zielgerichteter Handlungsweisen der Fachkräfte und wohlfahrtstaatlicher Institutionen soll eine Professionalitätssteigerung ermöglichen, indem die Methodisierung des Handelns verdeutlicht wird. Da Dokumentationen zudem Einblicke auf Zwischenschritte der Fallbearbeitung gewähren, werden sie als Ausgangspunkt für Supervision, Evaluation sowie für Forschung und wissenschaftliche Praxis-Entwicklungsprozesse herangezogen.

Auf organisationaler Ebene fungieren Dokumentationen sowohl als Gedächtnis der Organisation als auch als Kommunikationsmedien. Eine Organisation „muss Regeln des Handelns aufbauen, sie transparent machen, deren Befolgung überprüfen und auf diese Weise die Leistungserstellung kalkulierbar machen“ (Merchel 2004, S. 19). Dokumentationen sind wichtige Medien und Repräsentanten der organisationalen Kommunikationsweisen „und prägen gleichermaßen Form, Inhalte und Stil der Kommunikation in der Organisation“ (ebd., S. 3). Sie sichern die organisatorischen Rahmenbedingungen und Handlungsfähigkeiten und ermöglichen die erforderlichen Kooperationen der Organisation (vgl. ebd., S. 19). Auch zur Wahrung von Kontinuität trotz hoher Personalfluktuation sind Dokumentationen in den organisationalen Arbeitsbezügen u. a. für Nachfolge und Vertretung wesentlich. Unabhängig von einzelnen Mitgliedern der Organisation speichern Dokumentationen so Organisationswissen.

Akten und Verwaltungshandeln

Akten verdeutlichen „als Beispiel praktischer Bürokratie“ (Lau/Wolff 1981, S. 200) bestimmte verwaltungsförmige Bearbeitungsweisen. Sozialverwaltungen sind von ihrem Selbstverständnis her an die jeweils zugrundeliegenden Rechtsordnungen gebunden und auf die Produktion von Entscheidungen hin programmiert (vgl. Müller/Müller 1984, S. 24; Lau/Wolff 1981, S. 200). Systemübergreifend ist der Erhalt wohlfahrtsstaatlicher Unterstützung abhängig vom Rechtsanspruch, der Zuordnung eines Falls zu einem spezifischen Unterstützungssystem und von rechtsgebundenen Entscheidungen im behördlichen Verwaltungsverfahren. Diese Entscheidungen werden zum einen durch das Verfahren betreffende Rechtsnormen (SGB I und SGB X) und zum anderen durch Rechtsnormen, die den Inhalt der Entscheidungen fokussieren (z. B. SGB VIII und SGB XII), geprägt.

Verfahrensrecht und materielles Recht sind zwar wesentliche Strukturmerkmale der Entscheidungsfindung, legen allerdings weder den genauen Vorgang noch den Inhalt der Entscheidung abschließend fest. Bestehende gesetzliche Handlungsprogramme fundieren Zweck- und Zielsetzungen von behördlichen Verwaltungshandeln, die es im Prozess der Entscheidungsfindung im Einzelfall zu konkretisieren gilt (vgl. Maas 1996; Becker 1989)....

Erscheint lt. Verlag 21.7.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Sozialpädagogik
ISBN-10 3-7799-6677-8 / 3779966778
ISBN-13 978-3-7799-6677-7 / 9783779966777
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