Autonom und mündig am Touchscreen -

Autonom und mündig am Touchscreen (eBook)

Für eine konstruktive Medienarbeit in der Schule

Ralf Lankau (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
214 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-25894-6 (ISBN)
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Digital- und Medientechnik sind heute typische Bestandteile des Unterrichts. Um Lern- und Verstehensprozesse zu ermöglichen, braucht es aber vor allem das Gespräch und den Diskurs. Lernen ist ein individueller und sozialer Prozess, der nicht digital kompensiert werden kann, wenn Verstehen und nicht nur Repetition das Ziel ist. Medien und Medientechnik können Lernprozesse unterstützen, aber wir lernen im Miteinander. Dieser Band soll die beabsichtigte digitale Transformation von Schule und Unterricht aus sowohl pädagogischer wie philosophischer, aus bildungstheoretischer wie kognitionswissenschaftlicher Perspektive betrachten, zugleich praxisnah die beabsichtigte digitale Steuerung und Quantifizierung von Lernprozessen transparent machen und Alternativen für einen verantwortungsvollen und pädagogisch sinnvollen Einsatz von Medien- wie Digitaltechnik im Unterricht aufzeigen. Das Ziel ist Emanzipation und Mündigkeit durch konstruktive und produktive Medienarbeit.

Prof. Dr. Ralf Lankau ist Grafiker, Philologe und Kunstpädagoge. Er unterrichtet seit 2002 als Professor für Mediengestaltung und Medientheorie an der Hochschule Offenburg und forscht zu Digitaltechnik, Kommunikationswissenschaft und Medienpädagogik.

Ralf Lankau

Wenn aus Science-Fiction Realität wird


Digitalisierung statt pädagogischer Konzepte

Seit 40 Jahren wird über den Einsatz von Digitaltechnik in Schulen kontrovers diskutiert. Jede neue Gerätegeneration (PC, Laptop, Tablet) wird sofort für den Unterricht reklamiert. Der Nachweis über Nutzen und Mehrwert fehlt bis heute, dank Covid-19 werden jetzt aber mit Lernmanagementsystemen, Schul-Cloud und personalisierter Lernsoftware im Netz Fakten geschaffen – ohne weitere Diskussion.

Zu denken geben sollte weniger die der Pandemie geschuldete Umstellung von Präsenz- auf Distanzunterricht, sondern dessen beabsichtigte Verstetigung samt Forderung nach zunehmend automatisierten Beschulungssystemen. Während offiziell über eine bessere technische Ausstattung der Schulen und Endgeräte für Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler gesprochen wird, entsteht im Hintergrund eine technische Infrastruktur zum softwaregesteuerten Beschulen und Testen. Was Shoshana Zuboff für den Online-Konsum als »Zeitalter des Überwachungskapitalismus« charakterisiert, kann durch IT-Systeme in Schulen zu einer Überwachungspädagogik werden. Science-Fiction wird Realität.

Margie und die Lernmaschine


Der russisch-amerikanische Biochemiker und Science-Fiction-Schriftsteller Isaac Asimov (1920–1992) interessierte sich früh für die sogenannte »Künstliche Intelligenz« (KI) und Roboter. In der Geschichte »Die Schule« von 1954 beschreibt er, wie die Schule der Zukunft aussieht – oder genauer: dass es gar keine Schulen mehr gibt. Jedes Kind hat neben seinem Kinderzimmer im Elternhaus einen kleinen Schulraum, in dem es ein »mechanischer Lehrer« (eine Maschine mit Bildschirm und Schlitz zum Einwerfen der Hausaufgaben) unterrichtet. Diese Lehrmaschine sei perfekt auf die Fähigkeiten jedes Kindes eingestellt und könne es so optimal beschulen. Heute heißt das euphemistisch »individualisiertes« oder »personalisiertes« Lernen und beruht auf dem kleinteiligen Aufzeichnen des Lernverhaltens und aller Aktionen am Bildschirm. Die Denkfigur dahinter ist identisch: Eine Datenverarbeitungsmaschine sammelt Nutzerdaten und berechnet für den Menschen vor dem Display die jeweils passenden Lerneinheiten, die ihn oder sie zum (vom System oder Programmentwickler) vorgegebenen Ergebnis führen.

Asimov beschreibt mehr als ein halbes Jahrhundert vor den heutigen Lernmanagement-, genauer: Lernkontrollsystemen einen Apparat, der sowohl Lernziele wie passende Lernmethoden und notwendige Lernschritte vorgibt und auch Hausaufgaben korrigiert. Diese Maschine ist in Funktionsweise und Zielvorgaben für Nutzer (Schülerinnen und Schüler) wie Eltern intransparent – und autoritär. Zugleich wird Lernen auf automatisiert Prüfbares reduziert. Selbstbestimmtes Lernen, Neugier oder eigene Interessen sind nicht vorgesehen. Und so geht die Geschichte weiter: Ein 13-jähriger Junge findet beim Spielen auf dem Speicher ein altes Buch und erzählt der elfjährigen Margie, was drinsteht. Dass es früher Geschichten nur in solchen gedruckten Büchern gab und die Schule ein Ort war, an dem menschliche Lehrer in einem Klassenzimmer einer ganzen Gruppe von Kindern etwas beibrachten. Das kann Margie nicht glauben und bettelt darum, das Buch selbst zu lesen. Doch die Mutter ruft sie zur Ordnung, sie müsse an ihre Schulmaschine. Während sie wieder alleine vor ihrer mechanischen Lernmaschine sitzt, stellt sie sich vor, wie es wohl wäre, mit anderen Kindern zusammen in einem Klassenraum zu lernen, gemeinsam zu spielen und sich gegenseitig zu helfen. Daraus leitet sich der Schlusssatz der Kurzgeschichte ab: »She was thinking about the fun they had«.

Die Vertreter der Automatisierung und Steuerung von Lernprozessen glaubten unter den Stichworten Kybernetik und Künstliche Intelligenz (KI) schon in den 1950er Jahren daran, Schule und Unterricht an Rechner und Algorithmen delegieren zu können – wohingegen selbst ein Kind wie Margie, die das gemeinsame Lernen gar nicht kennt, eine Vorstellung davon hat, dass es besser wäre, gemeinsam zu lernen anstatt alleine an einer Maschine zu sitzen.

Die »Schulmaschine zu Hause« ist heute eher eine Lösung für die Erwachsenenbildung. Es ist meist eine Kombination von gedrucktem und Online-Material, wie bei der Open University (UK) oder der Fernuniversität Hagen, ergänzt um direkte Kontakte zu Dozenten oder Mentoren. Man liest, schaut Videos und trifft sich zu bestimmten Zeiten online in Chatrooms oder zu Videokonferenzen. Um solche Angebote erfolgreich abzuschließen, ist ein hohes Maß an Organisation, Ausdauer, Frusttoleranz und vor allem Selbstdisziplin notwendig. Abbrecherquoten von über 95 Prozent bei den sogenannten MOOC (Massive Open Online Courses; Lankau 2014) zeigen das ebenso wie erfolgreiche Angebote im Netz, die zwar kostenpflichtig sind, dafür aber von Mentoren betreut werden – mit regelmäßiger Präsenzpflicht für Videokonferenzen (SPOC: Small and Private Online Courses; Lankau 2017). Wichtig ist: Diese Angebote richten sich an Erwachsene, die Abschlüsse nachholen oder berufsbegleitend studieren. Es sind keine Angebote für Kinder oder Jugendliche.

Non-Fiction: Beschulung per Web und App


»Sprechende« Computer sind heute Realität, wenn auch bislang eher im Consumer-Segment (Alexa, Siri, Google Home u. a.). Für Schulen werden Systeme angeboten, bei denen Kinder und Jugendliche zwar noch gemeinsam Räume teilen (was Aufsichtspersonal spart), in denen sie aber sozial isoliert mit Kopfhörern an ihren PC-Arbeitsstationen sitzen und tun, was ihnen der Rechner auf dem Bildschirm anzeigt oder die Computerstimme sagt. Die großen IT-Monopole (Apple, Facebook, Google, Microsoft) haben komplette Hard- und Softwarelösungen samt Cloud Computing und Identitätsmanagement (IM), um die Lernenden auch über Geräte hinweg zu identifizieren. Das ist keine Science-Fiction, sondern Realität und betriebswirtschaftlich effizient. Richard Münch hat in seinem Buch »Der bildungsindustrielle Komplex« das Einsparungspotenzial an Lehrkräften im Kapitel »Personalisiertes Lernen digital« beschrieben:

»Für die komplett digitalisierte Synthese von Lernen und Testen werden kaum noch Lehrer/innen gebraucht. (…) Das Lehrpersonal kann auf ein Minimum reduziert werden, weil beim digitalisierten und personalisierten Lernen auf einen Lehrer bzw. eine Lehrerin im Vergleich zum herkömmlichen Unterricht ein Vielfaches an Schüler/innen kommt. (…) Nehmen wir nur das Verhältnis 1 zu 150, dann werden von 10 Lehrer/innen in der digitalisierten Zukunft des Unterrichts nur noch zwei gebraucht, 80 Prozent sind überflüssig.« (Münch 2018, S. 177)

Als historische Konstante zeigen Claus Pias oder Edwin Hübner solche Irrwege auf. Pias hat sich mit der historisch seit dem 17. Jahrhundert belegten Automatisierung der Lehre und mit Lernkontrollsystemen befasst, mit »Unterrichtsmaschinen, Lerngutprogrammierung, Lehrstoffdarbietungsgeräten und Robbimaten«. Die Vorstellung, »man könne Lehre automatisieren, um sparsamer, effektiver und sachgemäßer zu unterrichten, ist schließlich deutlich älter als Internet und Computer«, so Pias. Edwin Hübner hat die Idee der Medialisierung als Bedingung der Standardisierung und Einsparung von Lehrkräften bis zu Comenius, dessen Orbis Pictus Sensualis und den dort genannten Hilfslehrern zurückverfolgt (Hübner 2005, S. 274 f.).

Die Grundidee ist historisch durchgängig wie irritierend: Mediale Fixierungen objektivieren und standardisieren Inhalte und ermöglichen so standardisierte Lernprozesse. Wenn Kinder mit den gleichen Büchern und Abbildungen Deutsch und Latein lernen, wenn ergänzend Fragen samt Musterantworten formuliert werden, kann Unterricht auch von Hilfslehrern (heute: Lernbegleitern) gehalten werden. Sie müssen ja nur die Übereinstimmung von vorgegebener und tatsächlicher Antwort prüfen. Exakt so arbeiten Computersysteme (Mustererkennung). Antworten werden automatisiert auf Korrektheit geprüft, wobei auch unterschiedliche Prüfformen und Lösungswege möglich sind, solange sie vorab definiert wurden. Auf Verständnis, Kontext und Zusammenhänge können binäre Systeme (0/1; Ja/Nein) nicht prüfen.

Begriffsklärung: Was heißt digital und digitalisieren?


Um etwas zu...

Erscheint lt. Verlag 21.7.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
ISBN-10 3-407-25894-1 / 3407258941
ISBN-13 978-3-407-25894-6 / 9783407258946
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