Freisprüche (eBook)

Revolutionäre vor Gericht
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
481 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75273-9 (ISBN)

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Freisprüche -
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Fünfundzwanzig Revolutionäre äußern sich zu ihren Prozessen, als Angeklagte und als Ankläger, meist in der Form eines Schlußworts. Die Staatsanwälte breiten eine reiche Auswahl von Tatbeständen aus, vom Vergehen gegen die Zensurbestimmungen bis zum Hochverrat, von der Zusammenrottung bis zum Mord, von der Brandstiftung bis zum bewaffneten Umsturz. Die Wahrheit aber ist, daß die Handlungen der Angeklagten mit keinem Strafgesetzbuch der Welt zu fassen sind. Nur gescheiterten Revolutionen ist mit der politischen Justiz zu begegnen. Die Urteile gegen die Autoren dieses Bandes reichen vom Freispruch bis zum Tod durch Erhängen; aber ihre Rechtskraft währt nur solange wie die Macht der herrschenden Klasse, die sie gefällt hat. Der Titel des Buches nimmt ihre Revision vorweg. Es steckt als Zitat in dem berühmten Schlußsatz aus Fidel Castros Verteidigungsrede vor dem Standgericht zu Santiago de Cuba: »Verurteilen Sie mich, meine Herren; darauf kommt es nicht an. Die Geschichte wird mich freisprechen.«

Die Auswahl beginnt mit Babeuf und endet mit Kurón und Modzelewski, zwei jungen Polen. Die beiden Grenzfälle des Buches signalisieren den Eintritt der bürgerlichen wie den der sozialistischen Revolution in eine reaktionäre Phase. Das Buch handelt also im wesentlichen vom revolutionären Kampf gegen die Bourgeoisie. Ein besonderer Platz wird den Führern der Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt eingeräumt. Jedes der Plädoyers ist mit einem historischen Kommentar versehen. Ein Essay des Herausgebers beschließt den Band.



<p>Hans Magnus Enzensberger wurde am 11. November 1929 in Kaufbeuren geboren und starb am 24. November 2022 in M&uuml;nchen. Als Lyriker, Essayist, Biograph, Herausgeber und &Uuml;bersetzer war er einer der einflussreichsten und weltweit bekanntesten deutschen Intellektuellen.</p>

Nat Turner 1831


So wie er es selbst am Abend seiner Einlieferung ins Gefängnis vorgeschlagen hatte, besuchte ich Nat am Dienstag, dem 1. November, mit Erlaubnis des Gefängniswärters, als er, ohne irgendwie gefragt worden zu sein, seine Erzählung mit den folgenden Worten begann:

Sir, Sie haben mich gebeten, von den Beweggründen zu sprechen, die mich zu dem jüngsten Aufstand, wie Sie es nennen, veranlaßt haben. Um dies zu tun, muß ich in die Tage meiner Kindheit zurückgehen und sogar in die Zeit vor meiner Geburt. Ich bin am 2. Oktober vergangenen Jahres einunddreißig geworden und wurde als Eigentum von Ben. Turner geboren, der in dieser Gegend lebt. In meiner Kindheit ereignete sich etwas, das einen unauslöschlichen Eindruck auf mich machte und die Grundlage zu der Begeisterung legte, die für viele, Schwarze und Weiße, zu einem so verhängnisvollen Ende gekommen ist und für die ich nun am Galgen büßen werde. Es ist notwendig, hier von diesem Umstand zu erzählen, so geringfügig er erscheinen mag; denn er war der Anfang jenes Glaubens, der mit der Zeit gewachsen ist, und auch jetzt, Sir, in diesem Kerker, kann ich mich, hilflos und verlassen wie ich bin, nicht davon losmachen. Als ich vier oder fünf Jahre alt war und mit anderen Kindern spielte, erzählte ich ihnen etwas, das nach den Worten meiner Mutter, die gelauscht hatte, vor meiner Geburt geschehen war – Ich blieb jedoch bei meiner Geschichte und berichtete einige Dinge, die sie in ihrer Meinung noch bestätigen – andere, die davon hörten und wußten, daß diese Dinge geschehen waren, zeigten sich sehr erstaunt und sagten daraufhin, so daß ich es hören konnte, ich würde gewiß ein Prophet werden, da der Herr mir Dinge gezeigt habe, die vor meiner Geburt geschehen seien. Und mein Vater und meine Mutter bestärkten mich in diesem meinem ersten Eindruck, indem sie in meiner Gegenwart sagten, ich sei zu etwas Großem bestimmt. Das hätten sie immer gedacht, wegen gewisser Male auf meinem Kopf und auf meiner Brust gedacht [einige Auswüchse, die, wie ich glaube, nicht ungewöhnlich sind, besonders bei Schwarzen, da ich mehrere damit gesehen habe. Was ihn betrifft, so hat er sie entweder weggeschnitten oder sie sind fast verschwunden]. Meine Großmutter, die sehr fromm war, und an der ich sehr hing, mein Herr, dem die Kirche gehörte, und andere religiöse Leute, die in das Haus kamen und die ich oft beim Gebet sah, bemerkten, glaube ich, mein eigenartiges Benehmen und meine für ein Kind ungewöhnliche Intelligenz und äußerten, ich hätte zu viel Verstand, um mich erziehen zu lassen, und wenn man es täte, so wäre ich für niemanden als Sklave etwas nütze – Man kann leicht vermuten, daß für ein ruheloses, wißbegieriges Gemüt wie meines, das alles beobachtete, was vorging, die Religion das Thema war, auf das es gelenkt wurde, und obwohl vor allem dieses Thema meine Gedanken beschäftigte, gab es doch nichts, was ich sah oder hörte, worauf sich meine Aufmerksamkeit nicht gerichtet hätte. – Die Art, wie ich Lesen und Schreiben lernte, beeinflußte nicht nur mich selbst sehr, da ich es mir mit der größten Leichtigkeit aneignete, so daß ich mich nicht erinnern kann, das Alphabet gelernt zu haben – sondern setzte auch die Familie in Erstaunen, denn eines Tages, als man mir ein Buch zeigte, damit ich zu weinen aufhörte, begann ich die Namen verschiedener Dinge zu buchstabieren – das war eine Quelle des Wunders für alle in der Nachbarschaft, vor allem für die Schwarzen – und diese Art zu lernen wurde dauernd gefördert durch alle möglichen Gelegenheiten – als ich groß genug zur Arbeit war, dachte ich währenddessen über viele Dinge nach, die mir in den Sinn kamen, und jedesmal wenn sich eine Gelegenheit bot, in ein Buch zu sehen, wenn die Schulkinder ihre Stunden hatten, fand ich viele Dinge, die mir meine fruchtbare Phantasie schon vorher gezeigt hatte; alle Zeit, die nicht meines Herren Dienst gewidmet war, verbrachte ich entweder im Gebet oder mit Experimenten, die mich, obwohl ich sie nicht richtig ausführen konnte, doch von ihrer Durchführbarkeit überzeugten, wenn ich das richtige Material hätte. [Als er über die Art der Herstellung dieser verschiedenen Dinge befragt wurde, fand man ihn gut über das Thema unterrichtet.] Ich hatte in meiner Jugend keinen Hang zum Stehlen, auch nicht späterhin – Doch so groß war schon in dieser frühen Zeit meines Lebens das Vertrauen der Schwarzen aus der Nachbarschaft in meinen überlegenen Verstand, daß sie mich oft zu irgendeiner Schurkerei mitnahmen, um für sie zu planen. Ich wuchs unter ihnen auf mit dem Vertrauen in meinen überlegenen Verstand, und dieser war ihrer Meinung nach, wie die schon erwähnten Umstände in meiner Kindheit gezeigt hatten, durch göttliche Inspiration so vollkommen ausgebildet; ein Glaube, der auch nachher immer eifrig bekräftigt wurde durch mein strenges Leben und mein Benehmen, das auf Weiße und auf Schwarze großen Eindruck machte – Da ich früh entdeckt hatte, daß ich groß war, mußte ich so erscheinen und vermied darum absichtlich, mich unters Volk zu mischen und umgab mich mit Geheimnis, indem ich meine Zeit Fasten und Beten widmete – Zu der Zeit, da ich ins Mannesalter gelangt war und bei Zusammenkünften Bibelauslegungen hörte, fiel mir die Stelle auf, wo es heißt: »Suchet das Himmelreich, und alle Dinge werden Euch gegeben werden.« Ich dachte viel über diese Stelle nach und betete täglich um Erleuchtung darüber – Als ich eines Tages an meinem Pflug betete, sprach der Geist zu mir und sagte: »Suchet das Himmelreich, und alle Dinge werden Euch gegeben werden.«

Frage: Was meinen Sie mit Geist?

Antwort: Der Geist, der in früherer Zeit zu den Propheten sprach – und ich war sehr erstaunt und betete zwei Jahre lang fortwährend, sowie es mir meine Pflichten erlaubten – und dann hatte ich wieder die gleiche Erscheinung, die mich ganz in dem Eindruck bestärkte, daß ich in den Händen des Allmächtigen zu irgendeiner großen Aufgabe bestimmt war. Mehrere Jahre vergingen, während derer sich viele Dinge ereigneten, um mich in meinem Glauben zu bestärken. Zu dieser Zeit kam ich mit meinen Gedanken wieder auf die Bemerkung, die man in meiner Kindheit gemacht hatte, und auf die Dinge, die mir gezeigt worden waren – und daß von mir in meiner Kindheit gesagt worden war, von denen, die mich beten gelehrt hatten, Schwarzen und Weißen, und zu denen ich das größte Vertrauen hatte, daß ich zu viel Verstand hätte, um mich erziehen zu lassen, und falls man es täte, daß ich nie jemandem als Sklave etwas nütze sein würde. Und da ich nun sah, daß ich ins Mannesalter gelangt war und ein Sklave war, und da ich jene Offenbarung gehabt hatte, begann ich meine Aufmerksamkeit auf dieses große Ziel zu richten, um die Aufgabe zu erfüllen, für die ich, wie ich jetzt sicher fühlte, bestimmt war. Ich wußte, welchen Einfluß ich auf die anderen Sklaven erlangt hatte (nicht durch Beschwörungen und solche Tricks – denn ich sprach von diesen Dingen immer mit Verachtung), sondern durch die Gemeinschaft mit dem Geist, dessen Offenbarungen ich ihnen oft mitteilte, und sie glaubten und sagten, meine Weisheit käme von Gott. Ich begann nun, sie für meine Aufgabe vorzubereiten, und sagte ihnen, daß etwas geschehen werde, was mit der Erfüllung des großen Versprechens, das mir gemacht worden war, enden würde – Etwa zu dieser Zeit wurde ich einem Aufseher unterstellt, dem ich fortlief – und nachdem ich dreißig Tage lang in den Wäldern geblieben war, kehrte ich wieder auf die Plantage zurück, zur Verwunderung der Schwarzen, die dachten, ich wäre in einen anderen Teil des Landes geflohen, wie mein Vater es vor mir getan hatte. Aber der Grund für meine Rückkehr war, daß mir Gott erschien und sagte, ich hätte meine Wünsche auf die Dinge dieser Welt gerichtet und nicht auf das Himmelreich, und ich sollte in die Dienste meines irdischen Herrn zurückkehren – »Denn wer da seines Herrn Willen kennt und ihn nicht tut, soll mit vielen Peitschenhieben geschlagen werden, und also habe ich dich gezüchtigt.« Und die Schwarzen waren unzufrieden und sprachen im geheimen gegen mich und sagten, wenn sie meinen Verstand hätten, dann würden sie keinem Herrn der Welt dienen. Und zu dieser Zeit hatte ich eine Vision – Ich sah weiße Geister und schwarze Geister miteinander kämpfen und die Sonne verfinsterte sich – der Donner rollte in den Himmel und Blut floß in den Flüssen – und ich hörte eine Stimme sagen: »Das ist dein Schicksal, das bist du bestimmt zu sehen, und ob es rauh oder glatt kommt, du mußt es tragen.« Ich entzog mich nun so sehr, wie es meine Lage erlaubte, dem Umgang mit den anderen Sklaven, um dem Geist mehr zu dienen – und er erschien mir und erinnerte mich an die Dinge, die er mir schon gezeigt hatte und daß er mir die Geheimnisse der Elemente enthüllen werde, die Bahnen der Planeten, die Bewegung der Gezeiten und den Wandel der Jahreszeiten. Nach...

Erscheint lt. Verlag 20.6.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Befreiungsbewegung • Gerichtsrede • Herrschaft • Justiz • Politik • Rechtsgeschichte • Repression • Revolution • Revolutionär • ST 111 • ST111 • suhrkamp taschenbuch 111
ISBN-10 3-518-75273-1 / 3518752731
ISBN-13 978-3-518-75273-9 / 9783518752739
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