1977 (eBook)
600 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76804-4 (ISBN)
Philipp Sarasin untersucht in seinem gefeierten Buch die Linien, Muster und Ähnlichkeiten, die die Ereignisse des Jahres 1977 miteinander verbinden - und er erzählt davon, wie der Glaube an ein gemeinsames Allgemeines, der die Moderne formte, zu zerbröckeln begann. 1977 führt uns ein Jahr vor Augen, in dem nur die Unsicherheit gewiss und die Ahnung verbreitet war, dass die alten Koordinaten der industriellen Gesellschaft in Zukunft keine Orientierung mehr bieten würden. Eine phänomenale Zeitreise in die Geschichte unserer Gegenwart.
Philipp Sarasin ist emeritierter Professor für Neue Allgemeine Geschichte am Historischen Seminar der Universität Zürich und u. a. Mitherausgeber des Online-Magazins <em>Geschichte der Gegenwart</em>.
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27. März, Teneriffa. Auf dem Flughafen Aeropuerto Internacional de los Rodeos sind um 17.06 Uhr zwei Flugzeuge vom Typ Boeing 747 »Jumbo« zusammengestoßen; 583 Menschen kamen bei der Katastrophe ums Leben.
21. Juni, Paris. Unter strengen Sicherheitsvorkehrungen begann der dreitägige Staatsbesuch des sowjetischen Staatschefs und Generalsekretärs der KPdSU, Leonid Breschnew, beim französischen Präsidenten Valéry Giscard d'Estaing. Bei seiner Ankunft am Flughafen Paris-Orly sagte Breschnew Journalisten, er werde mit Giscard d'Estaing über »das zentrale Problem unserer Zeit, die Entspannung und die Sicherheit der Völker«, reden.
25. Dezember, Corsier-sur-Vevey (Schweiz). Der britische Komiker, Schauspieler, Regisseur, Komponist und Filmproduzent Charles »Charlie« Chaplin ist tot. Mit Filmen wie The Kid (1921), Modern Times (1936) oder The Great Dictator (1940) wurde Chaplin weltberühmt.
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Jeder erste, oberflächliche und kursorische Blick auf ein Jahr lässt ein rätselhaftes Bild erscheinen: ein Bild von Gleichzeitigkeiten ohne Zusammenhang, ein Bild der schieren Kontingenz. 1977 wurden die Raumsonden Voyager 1 und 2 ins All geschossen (die als bisher einzige menschliche Artefakte 2012 und 2018 den interstellaren Raum erreicht haben), wurde in Paris das Centre Pompidou eröffnet und in Kalifornien der »Personal Computer« Apple II lanciert – doch weder Zeitgenossen noch in der Regel Historikerinnen und Historiker stellen sich die Frage, warum das alles gleichzeitig geschah. Warum sprach Jimmy Carter in seiner Inaugurationsrede am 20. Januar von den Menschenrechten, rief die UNO den 8. März zum »Internationalen Tag der Frau« aus und machten in Paris die nouveaux philosophes von sich reden? Und warum das fast gleichzeitige Aufkommen von Hip-Hop, Disco und Punk, während in der Bundesrepublik die linksextreme Terrororganisation Rote Armee Fraktion (RAF) ihre »Offensive 77« startete?
12Jede Gegenwart ist ein Geflecht solcher Gleichzeitigkeiten und unzähliger, disparater Ereignisse. Dieses Buch widmet sich der Frage, welche Verbindungen es zwischen ihnen gab, welche Muster und Ähnlichkeiten in diesen disparaten Ereignissen sichtbar werden, wenn man den Blick auf (fast) ein Jahr konzentriert. Dabei wird sich zeigen: Im Fall des Jahres 1977 und mit Blick auf jene westlichen Gesellschaften, über die ich im Folgenden vor allem sprechen werde, entsteht ein Bild von tiefgreifenden Verschiebungen, Veränderungen und Brüchen im Gefüge der Gegenwart. Die Gewissheiten der Moderne und der Glaube an die fortgesetzte »Modernisierung« durch sozialstaatliche Steuerung waren ebenso in eine tiefe Krise geraten wie der Glaube an die Revolution. Zeitgleich aber entstand eine neue technische Kultur, die personal und »vernetzt« sein sollte, während unruhige Geister begannen, jenseits der traditionellen Deutungsangebote von Massenmedien, Wissenschaft und konfessionalisierter Religion nach »Sinn« zu suchen.
Die Geschichte solcher Diskontinuitäten, die unsere Gegenwart geformt haben, am Beispiel eines einzigen Jahres zu analysieren, mag allerdings paradox erscheinen. Wie sollen sich denn mit einem so engen Fokus längerfristige Veränderungen erfassen lassen? Ich werde darauf ebenso zurückkommen wie natürlich darauf, warum es das Jahr 1977 ist, um das sich hier alles dreht. Doch zuerst stellt sich die Frage, wieso überhaupt ein Jahr aus dem siebten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts unsere Aufmerksamkeit verdient. Was war an diesem Jahrzehnt so besonders?
Ein Jahrzehnt der Verunsicherung
Mit dem Jahr 1969 verebbte jene ausgelassene und erregte Stimmung, die das letzte Jahrzehnt des Nachkriegsbooms, die Entstehung von »Konsumgesellschaften« und die Verlockungen der »Sexuellen Revolution« begleitet hatte. Ein konjunktureller Abschwung ließ erste Ahnungen aufkommen, dass es bald vorbei sein könnte mit dem langen, fast ununterbrochenen volkswirtschaftlichen Wachstum, das den westlichen Gesellschaften seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges einen phänomenalen Aufschwung beschert hatte. Schon 1968 waren der Mord an Martin Luther King Jr., der Anschlag auf Rudi Dutschke in Westberlin, die Wiederwahl Charles 13de Gaulles, der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen zur Niederschlagung des Prager Frühlings, das Massaker unter protestierenden Studierenden in Mexiko-Stadt und die Wahl Richard Nixons zum amerikanischen Präsidenten als Zeichen dafür erschienen, dass die weltweiten Protest-, Jugend- und Studentenbewegungen der 1960er Jahre an ihre Grenzen gestoßen und die alten Mächte nicht zu weichen bereit waren. Wohl sprachen – und sangen, wie Jefferson Airplane auf dem Woodstock-Festival im August 1969 – noch viele von der »Revo-revolution«. Die Hippies in Woodstock meinten damit vor allem »Love and Peace«. Doch die Morde an der schwangeren Schauspielerin Sharon Tate Polanski und vier weiteren Personen durch eine satanistische Hippie-»Familie« um Charles Manson in Los Angeles nur wenige Tage vor »Woodstock« und die Messerstecherei vor der Bühne beim Rolling-Stones-Konzert im kalifornischen Altamont im Dezember desselben Jahres, bei der Rocker der Hells Angels einen Afroamerikaner töteten, raubte dem ganzen Hippie-Movement den Ruf friedfertiger Unschuld. »Flowerpower« verblasste ebenso wie die revolutionären Hoffnungen der Studentenbewegung. Kühlere Winde zogen auf. Schließlich erreichte das beklemmende Gefühl, seit längerem schon in einer von den Nachrichten und TV-Bildern aus Vietnam verdüsterten Welt zu leben, mit den grauenhaften Fotos vom Massaker in My Lai, die im November 1969 weltweit durch die Medien gingen, einen weiteren Tiefpunkt. Als am 5. Dezember in Großbritannien das neue Album der Rolling Stones erschien, klangen die ersten Worte Mick Jaggers, gesungen zu einem dunkel auftrumpfenden Bass, in den Ohren Vieler wie ein Fanal:
Oh, a storm is threat'ning
My very life today
If I don't get some shelter
Oh yeah, I'm gonna fade away
[…]
The floods is threat'ning
My very life today
Gimme, gimme shelter
Or I'm gonna fade away1
14Für den Musikkritiker Greil Marcus, der das Album am 27. Dezember 1969 in der amerikanischen Musikzeitschrift Rolling Stone tief beeindruckt rezensierte, war dies ein Song, der wie nichts anderes das Ende der Sechzigerjahre auf den Punkt brachte: »›Gimme Shelter‹ ist ein Song über die Angst; er dient wahrscheinlich besser als irgendetwas anderes, was dieses Jahr geschrieben wurde, als direkter Durchgang (passageway) in die nächsten paar Jahre.«2
Pop und Apokalypse
Doch nicht nur die lyrics von »Gimme Shelter« wiesen ins nächste Jahrzehnt. Auch die Basslinie des Songs war symptomatisch für eine Klangveränderung der Rockmusik, wie sie sich seit dem Ende der Sechzigerjahre mit den dröhnenden Riffs des neuartigen Hardrock unüberhörbar ankündigte. Bands wie Black Sabbath oder Alice Cooper inszenierten zudem ab 1970 auf der Bühne ein für die Hardrock- und Heavy-Metal-Szene der späten Siebziger- und der Achtzigerjahre stilbildendes Spektakel mit pseudo-okkulten Ritualen und fingierten Hinrichtungsszenen. Der Grundton der Rockmusik wurde härter, zuweilen apokalyptisch, während ein sich zur gleichen Zeit entwickelnder Folk- und Softrock für Ausgleich sorgte und Trost spendete. Doch auch die noch ganz der counter culture der kalifornischen Sechzigerjahre zugehörige Band The Doors stimmte nun düstere Töne an. Als sie am 17. Januar 1970 im Felt Forum in New York auftrat, begann ihr Doppelkonzert mit dem neuen, ebenso schnoddrigen wie illusionslosen »Road House Blues«:
Well, I woke up this morning
And I got myself a beer.
...Erscheint lt. Verlag | 20.6.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung ► Politische Theorie |
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ISBN-10 | 3-518-76804-2 / 3518768042 |
ISBN-13 | 978-3-518-76804-4 / 9783518768044 |
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