(K)eine Mutter (eBook)

Abtreibung - Zwölf Frauen erzählen ihre Geschichte
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
256 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30379-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

(K)eine Mutter -  Jeanne Diesteldorf
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Tabuthema Abtreibung. Im Durchschnitt entscheidet sich jede vierte Frau einmal im Leben dafür, eine Schwangerschaft abzubrechen, und doch spricht kaum eine Betroffene darüber, weder öffentlich, noch im Privaten. So bestimmen aggressiv geführte Debatten und eine unklare rechtliche Situation den gesellschaftlichen Umgang mit einem höchst persönlichen Thema. »(K)eine Mutter« erzählt die Geschichten von zwölf Frauen, die abgetrieben haben. Das Buch gibt ihnen Raum, zu berichten: Von den Umständen der Schwangerschaft, dem Grübeln und der schwierigen Suche nach Informationen und medizinischer Versorgung. Vom Moment der Entscheidung und davon, wie die Abtreibung ihre Beziehung zu sich selbst und zu ihrem Umfeld veränderte. Es sind Geschichten von Schmerz und Verzweiflung, von Selbstbehauptung und von Befreiung. Jeanne Diesteldorf hat abgetrieben und jahrelang darüber geschwiegen. Ihr außergewöhnliches Buch ist ein entschiedenes Plädoyer für das Recht am eigenen Körper.

Jeanne Diesteldorf, geboren 1985, hat Geschichte und Volkswirtschaftslehre studiert und über die Stabilität von Finanzmärkten promoviert. Heute lebt sie als freie Publizistin in Frankfurt am Main. »(K)eine Mutter« ist ihr erstes Buch.

Jeanne Diesteldorf, geboren 1985, hat Geschichte und Volkswirtschaftslehre studiert und über die Stabilität von Finanzmärkten promoviert. Heute lebt sie als freie Publizistin in Frankfurt am Main. »(K)eine Mutter« ist ihr erstes Buch.

Inhaltsverzeichnis

NADJA KUTSCHKE


»ICH HÄTTE MIR DAMALS SO SEHR GEWÜNSCHT, BESSER INFORMIERT ZU SEIN. MEHR DARÜBER ZU WISSEN.«

Nadja hat uns an einem Sonntagmorgen im Sommer zu sich nach Hause eingeladen. Sie wohnt zusammen mit ihrem Freund Ole in Berlin. Es ist noch früh am Tag. Wir sitzen in ihrer Küche an einem Holztisch. Auf der Anrichte stehen Gläser mit frischer Erdbeermarmelade, mindestens ein Dutzend. Die hat Ole gestern Abend selbst gekocht, nun macht er Kaffee, wir frühstücken gemeinsam. Es gibt Müsli mit Milch und dunkelroten Kirschen. An der Wand tickt leise eine Uhr. Draußen, hinter dem gekippten Fenster, zwitschert irgendwo ein Vogel. Nadja studiert Medizin, in wenigen Monaten macht sie ihre Abschlussprüfung, dann ist sie Ärztin. Sie trägt dunkle Kleidung, dezenten Schmuck – drei kleine goldene Ringe an einer schmalen Halskette. Sie blickt uns aus strahlenden Augen an, trotz der frühen Stunde ist sie hellwach, herzlich. Nadja spricht schnell, mit klarer Stimme. Sie lacht viel. Man merkt schon nach kurzer Zeit: Nadja ist klug, ihre Gedanken sind sortiert, sie ist souverän.

Vor etwas mehr als viereinhalb Jahren steht Nadja in ihrem Badezimmer, hier in dieser Wohnung, gleich neben der Küche. Ein schmaler Raum mit Fenster, hinter der Tür ein Waschbecken und eine typische Berliner Altbaubadewanne. In wenigen Tagen ist Weihnachten. Nadja ist 24 Jahre alt. »Ich war zwei Wochen drüber«, beginnt Nadja zu erzählen. »Wie das eben so passiert, man bekommt es erst gar nicht richtig mit. Und dann fiel mir plötzlich auf: Ich hätte schon vor zwei Wochen meine Tage bekommen sollen. Also hatte ich auf dem Heimweg von der Uni einen Schwangerschaftstest besorgt, ganz pragmatisch. Ich wollte einfach so schnell wie möglich wissen, was Sache ist.« Nadja setzt sich auf den Rand ihrer Badewanne. Draußen ist es winterlich kalt, durch das milchige Fensterglas fällt diffuses Grau ins Zimmer. Der Test, den sie gerade gemacht hat, ist positiv.

Nadja trifft sich erst seit einiger Zeit mit Ole. Es ist noch relativ locker zwischen den beiden, nicht klar definiert, ob sie nun offiziell zusammen sind und was aus ihnen werden wird. Aber da ist schon so etwas wie Liebe. Nadja studiert seit zwei Jahren Medizin, sie wohnt allein in einer kleinen Genossenschaftswohnung. Das Geld ist knapp. Sie hat nicht die finanziellen Möglichkeiten, um ein Kind großzuziehen. Und absolut keine Intention, das zu tun. »Ich wollte kein Kind! Ich wollte ins Ausland gehen, ein längeres Praktikum in den Tropen machen. Es war schon alles geplant. In den nächsten Semesterferien sollte es losgehen. Ich hatte in den vergangenen Monaten so hart für diese Chance gekämpft. Ich wollte das jetzt nicht hinschmeißen. Ich wollte raus, Erfahrungen sammeln, lernen, frei sein. Da hätte ein Kind überhaupt nicht reingepasst.«

Nadjas Entscheidung fällt schnell, noch während sie auf dem Badewannenrand sitzt, den positiven Schwangerschaftstest in der Hand. »Als ich den Test sah, habe ich sofort ganz tief in mir drin gewusst: Nein, es geht nicht. Ich kann jetzt kein Kind haben. Und zugleich habe ich mich unglaublich weiblich gefühlt. Nach dem Motto: okay, theoretisch funktioniert es, theoretisch kann ich Kinder bekommen. Total absurd! Aber da war noch ein anderes Gefühl: Ich fühlte mich dumm. Und unwissend. Mir war in diesem Moment völlig unklar, was jetzt zu tun ist. Was ich jetzt machen, erledigen musste, weil ich kein Kind bekommen wollte. Das kannte ich so überhaupt nicht von mir. Ich wusste schon sehr früh, was ich will im Leben. Ich wusste, dass ich Medizin studieren möchte, war immer fleißig, stets darauf bedacht, in der Schule und auch später im Studium diejenige zu sein, die alles weiß. Doch in dem Moment fühlte ich mich einfach nur dumm. Ich wusste nicht, was ich jetzt tun sollte, was der nächste Schritt ist. Auf einmal war es weg, das Gefühl, immer Bescheid zu wissen.«

In Nadjas Schule wurde nie über Abtreibung gesprochen, in keinem Fach. Auch im Freundeskreis war Abtreibung kein Thema. Genauso zu Hause – obwohl Nadjas Ostberliner Familie in Sachen Werte und Moral vollkommen frei und offen ist. Selbst im Medizinstudium hat sie nichts über Abtreibungen gelernt, in keiner einzigen Lehrveranstaltung von Schwangerschaftsabbrüchen gehört – darüber wurde an der Universität schlichtweg nicht gesprochen. Umso härter trifft Nadja an diesem Wintermorgen das Gefühl der Unwissenheit. Völlig klar ist sie hingegen in ihrer Entscheidung, keine Mutter sein zu wollen. Sie will abtreiben. Vom ersten Moment an.

Ole ist zu diesem Zeitpunkt bereits im Weihnachtsurlaub bei seiner Familie in Süddeutschland. Nadja erzählt ihm erst einmal nicht, dass sie schwanger ist. Und abtreiben will. Dafür ruft sie sofort eine enge Freundin an, erzählt von dem positiven Schwangerschaftstest und ihrem Entschluss, das Kind nicht zu bekommen. Nadja und die Freundin kennen sich seit der ersten Klasse. Sofort bietet diese ihre Unterstützung an, fragt Nadja, was sie brauche, ob sie vorbeikommen solle oder ob Nadja einfach nur reden möchte. Auch zum Arzt könne sie Nadja begleiten. Nadja wehrt ab. Sagt, das sei nicht nötig, jetzt, in diesem Moment ihre Gedanken laut aussprechen zu können, reicht. Alles andere will sie allein schaffen.

Sie ist unsicher, in welcher Schwangerschaftswoche sie genau ist – aber sie weiß, dass das entscheidend ist. Zeitdruck hämmert in ihrem Kopf – tick, tack, tick – wie ein Metronom. Eine Art Schmerz-Rhythmus. Das Schlimmste wäre jetzt, zu lange zu warten. Sie darf auf keinen Fall warten. »Ich bin im ersten Moment immer wieder um die gleichen Fragen gekreist. Was, wenn ich schon über der Zeit bin? Was, wenn ich die Schwangerschaft jetzt nicht mehr abbrechen kann? Das war damals meine größte Angst.«

Irgendwo hat sie aufgeschnappt, dass man vor einem Schwangerschaftsabbruch auf jeden Fall einen Beratungstermin braucht. Darum beginnt sie sofort, im Internet nach Beratungsstellen zu suchen, findet zuerst Pro Familia. Es sind mehrere Adressen und Telefonnummern angegeben. Aber bald ist Weihnachten, viele Büros und Praxen haben über die Feiertage geschlossen.

Nadja überschlägt im Kopf: Ihr bleibt genau ein einziger Werktag, um sich beraten zu lassen und zum Arzt zu gehen. Sonst wird es knapp.

Und dieser Tag ist – heute.

Umgehend ruft sie bei der Beratungsstelle an, erklärt die Dringlichkeit und bekommt noch am selben Tag einen Termin, nur zwei Stunden später. Sie fährt sofort los, muss mit der U-Bahn ans andere Ende der Stadt. In dieser Gegend ist sie noch nie zuvor gewesen.

»Das Gespräch bei Pro Familia war klasse!«, erinnert sich Nadja. »Die Frau war sehr verständnisvoll, sie hat mich angeguckt und gefragt: ›Wollen Sie es behalten?‹ – ›Nein‹, habe ich direkt geantwortet. Und damit war alles klar. Sie hat in keiner Weise versucht, mich zu beeinflussen. Ich habe von ihr eine Liste mit Arztpraxen bekommen, die Abbrüche durchführen und zwischen Weihnachten und Neujahr geöffnet haben. Die Liste war lang, eine ganze DIN-A4-Seite mit Informationen, welcher Arzt operative bzw. medikamentöse Abbrüche vornimmt. Das war in der Situation eine große Hilfe.«

Nach dem Beratungstermin steht Nadja draußen auf der Straße. Mitten im Dezemberregen. Sie greift nach dem Handy und ruft ihre Frauenärztin an. Bei der Sprechstundenhilfe bittet sie um einen Termin, sie möchte im Ultraschall abklären lassen, in welcher Schwangerschaftswoche sie ist. Doch die Frau am anderen Ende der Leitung wimmelt sie ab. Nadja wird wütend, Verzweiflung pocht hinter ihren Schläfen. »Aber ich muss doch wissen, wie weit ich bin! Damit ich weiß, wie viel Zeit mir bleibt, um die Schwangerschaft abzubrechen.« Wie sie sich das alles überhaupt vorstelle, keift die Sprechstundenhilfe. Und davon abgesehen: »So etwas« würden sie in ihrer Praxis auch gar nicht machen. Also, nein! Das gehe definitiv nicht. »Diese Frau am Telefon war wirklich böse. Aber zum Glück war das tatsächlich die einzig doofe Situation damals.« Nach diesem erfolglosen Telefonat geht Nadja – immer noch am anderen Ende der Stadt – in die nächste Apotheke und kauft den teuersten Schwangerschaftstest, einen, der auch anzeigt, wie weit sie ist. Den Test macht sie sofort – auf einer öffentlichen Toilette. Das Ergebnis: achte Woche. Nadja bleibt also genügend Zeit. Langsam beruhigt sich ihr Pulsschlag.

Am selben Vormittag – zwischen dem positiven Test und dem Pro-Familia-Termin – hat sie im Internet gelesen, dass ihre Krankenkasse die Kosten für den Abbruch übernehmen wird, da sie noch studiert. Da deren Zentrale ohnehin auf ihrem Nachhauseweg liegt, beschließt Nadja, auch das sofort zu erledigen. »Im ersten Moment hatte ich echt ein bisschen Angst, da reinzugehen, in dieses riesige Gebäude mit Großraumbüro, in dem alle hören, was ich wollte.« Doch ihre Angst ist unbegründet. Die Mitarbeiter sind offen und hilfsbereit. »Die waren klasse! Total nett und professionell, es ging immer nur um die Sache und in keinem Moment um eine persönliche Meinung. Ich musste mich lediglich als Studentin ausweisen und bekam dann den Bescheid zur Kostenübernahme. Auf den Unterlagen stand auch der Geldbetrag, es waren mehrere Hundert Euro. Unglaublich, wie teuer so was ist! Das hätte ich selbst nie bezahlen können. Ich war unheimlich erleichtert, dass das so problemlos funktioniert hat.«

Nach dem Zwischenstopp bei der Krankenkasse ruft Nadja den ersten Arzt auf der DIN-A4-Liste von Pro Familia an und...

Erscheint lt. Verlag 4.11.2021
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte §218 Abtreibung • §219a STGB • Abtreibungsdebatte • Abtreibungsgegner • abtreibungspolitik • Erfahrungsbericht • Feminimus • Keine Mutter • Mutterschaft • Schwangerschaftsabbruch • ungewollt schwanger
ISBN-10 3-462-30379-1 / 3462303791
ISBN-13 978-3-462-30379-7 / 9783462303797
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