Konzentration (eBook)
208 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30269-1 (ISBN)
Volker Kitz, 1975 geboren, studierte Jura in Köln und New York. Seine Bücher wurden in zehn Sprachen übersetzt und stehen regelmäßig auf der SPIEGEL-Bestsellerliste, zuletzt »Feierabend« und »Konzentration«. Er lebt in Berlin.
Volker Kitz, 1975 geboren, studierte Jura in Köln und New York. Seine Bücher wurden in zehn Sprachen übersetzt und stehen regelmäßig auf der SPIEGEL-Bestsellerliste, zuletzt »Feierabend« und »Konzentration«. Er lebt in Berlin.
Augen
Wie man die Bilder beruhigt
Edgar Allan Poe fehlen die Worte für das, was er sieht. Vor dem Ersten Weltkrieg verschreckt ein junger Mann Hunde im nächtlichen Paris. Zwei Forscherinnen ordnen ein Trinkgelage an.
Wer um das Jahr 1910 nachts durch Paris lief, konnte öfter einem jungen Mann begegnen, der Hunde vor sich hertrieb. Unbarmherzig scheuchte er die müden Tiere durch die Morgenstunden, bis zum Sonnenaufgang. Auch dann ließ er sie nicht schlafen, mit seinen Mitarbeitern wechselte er sich ab, um die Hunde rund um die Uhr wach zu halten.
Der Mann war der Psychologe Henri Piéron, gerade dreißig Jahre alt und bereits Professor an der Sorbonne. Ihn beschäftigte ein alltägliches Phänomen, über das sich damals nur wenige Gedanken machten: Warum schlafen wir ein? Piérons Hypothese: Im Gehirn bildet sich ein »Hypnotoxin«, wie er es nannte, eine Art Schlafgift. Mit jeder Stunde, die wir wachen, reichert es sich an. Übersteigt seine Menge eine Grenze, fallen uns die Augen zu. Während wir schlafen, baut sich die Substanz ab, wir wachen auf, und der Kreislauf beginnt von vorn. Um seine Hypothese zu prüfen, erfand Piéron das Experiment mit den Hunden. Den übermüdeten Tieren entnahm er Liquor, Flüssigkeit aus dem Gehirn, und injizierte ihn in die Gehirne ausgeruhter Hunde. Wie er vermutet hatte, schliefen diese Hunde sofort ein.
Das geheimnisvolle »Schlafgift« ist bis heute nicht vollständig entschlüsselt. Womöglich handelt es sich um Adenosin, einen Stoff, der bei neuronaler Aktivität im Gehirn entsteht. Obwohl der Schlafdruck mit jeder Stunde steigt, bleiben wir tagsüber in der Regel wach. Das liegt an einem zweiten Vorgang: Der »zirkadiante Rhythmus«, die innere Uhr, gibt den optimalen Zeitraum zum Schlafen vor. Sie tickt bei jedem Menschen ein wenig anders. Wie beides zusammenwirkt, hat der Pharmakologe Alexander Borbély im Jahr 1982 in seinem »Zwei-Prozess-Modell der Schlafregulation« beschrieben:
Irgendwann kommt der Punkt, an dem der Schlafdruck (S) besonders hoch ist – und das Wachsignal der inneren Uhr (C) besonders niedrig. An diesem Punkt schlafen wir ein.
Auf die Konzentration wirkt sich das »Schlafgift« allerdings viel früher aus, mit drastischen Folgen. Um sie zu verdeutlichen, verglichen die Psychologinnen Ann Williamson und Anne-Marie Feyer zwei Gruppen von Probanden. Die eine durfte nicht schlafen. Die andere musste sich betrinken. Alle absolvierten Konzentrationsaufgaben, zum Beispiel den sogenannten Mackworth-Uhrentest. Dabei durchläuft ein Lichtpunkt einen Kreis wie der Sekundenzeiger einer Uhr. Ab und zu überspringt er eine Position, dann soll der Proband eine Taste drücken. Schon wer siebzehn bis neunzehn Stunden wach war, machte ähnlich viele Fehler wie mit 0,5 Promille Alkohol im Blut. In diesem Zustand dürfte man in Deutschland und vielen anderen Ländern kein Auto mehr steuern. Wenige Wachstunden später arbeiteten die Probanden schludrig wie Betrunkene mit einem Promille. Und nach einer durchwachten Nacht waren fünfzehn Prozent von ihnen nicht mehr in der Lage, die Aufgaben überhaupt irgendwie zu Ende zu bringen. Auch Schafmangel, der sich schleichend aufbaut, stört die Konzentration: Wer vier Nächte hintereinander nur fünf Stunden geschlafen hatte, erreichte Ergebnisse wie mit 0,6 Promille.
Natürlich hat die Wissenschaft auch untersucht, ob zu viel Schlaf der Konzentration schadet. In einer internationalen Studie absolvierten mehr als zehntausend Menschen Onlinetests, die Konzentration erforderten. In einem Fragebogen schilderten sie ihre Schlafgewohnheiten. Dabei kristallisierte sich eine optimale Schlafdauer heraus. Insgesamt am besten schnitt ab, wer zwischen sieben und acht Stunden pro Nacht schlief. Wer deutlich darunter lag, konzentrierte sich schlechter – aber auch, wer deutlich mehr schlief.
Zu viel Schlaf vernebelt die Konzentration offenbar. Doch die Gefahr laufen in Deutschland nur wenige: Gerade einmal zwei Prozent schlafen neun Stunden und mehr – über die Hälfte der Bevölkerung dagegen sechs Stunden und weniger.
Manche feiern Schlafmangel als ein Wesensmerkmal der Erfolgreichen. Vielleicht wären sie noch erfolgreicher, wenn sie mehr schliefen? Vielleicht gehören sie aber auch zu einer besonderen Gruppe: Etwa ein Drittel der Menschen zeigte sich in den Experimenten tatsächlich unempfindlich gegenüber Schlafmangel, zumindest was Konzentration betraf. Ein anderes Drittel war umso empfindlicher, bei ihm fiel jede fehlende Stunde Schlaf besonders ins Gewicht. Diese Veranlagung scheint erblich bedingt.
Betrachten Sie dieses Bild und blättern Sie um.
Nun dieses:
Unterscheiden sich die Zeichnungen?
Sie nehmen gerade an einem klassischen Experiment der Psychologie teil. Im Originalversuch beantworteten weniger als siebzig Prozent der Probanden die Frage richtig. Das klingt viel. Es ist aber wenig, denn bei einer Ja/Nein-Frage liegt bereits die Wahrscheinlichkeit für einen Zufallstreffer bei fünfzig Prozent. Der Versuch verdeutlicht die »Veränderungsblindheit«: Zeigt man Probanden in kurzen Abständen zwei Bilder mit Alltagsgegenständen, merken verblüffend wenige, wenn Objekte vertauscht wurden. In unserem Fall entsteht der Zeitsprung durch das Umblättern. Vertauscht sind Banane und Karotte.
Experimente zur Veränderungsblindheit gehören zu den eindrucksvollsten der Psychologie, denn der Effekt ist gravierend. In einer Filmszene kann man unbemerkt Köpfe von Dialogpartnern auswechseln, wenn man beim Publikum nur eine kurze Augenbewegung provoziert, etwa durch ein Ruckeln im Bild. Legendär sind Streiche mit versteckter Kamera, in denen ein Lockvogel einen Passanten in ein Gespräch verwickelt. Während jemand »zufällig« ein überdimensioniertes Paket zwischen beiden hindurchträgt, tauscht der Lockvogel seinen Platz mit einer anderen Person. Die meisten bemerken es nicht. Sie unterhalten sich weiter, als wäre nichts geschehen, als wäre ihr Gegenüber derselbe Mensch wie vorher.
Diese Experimente zeigen: Unsere Wahrnehmung hangelt sich von Augenblick zu Augenblick. Die berühmte Momentaufnahme speichert unser Gehirn nicht. Sie wird, so scheint es, mit jedem Blinzeln gelöscht, überschrieben. Forscher vermuten, dass wir eine Zwischenspeicherfunktion nicht haben, weil wir sie nicht brauchen. Denn wir können uns jederzeit ein neues aktuelles Bild machen. Das funktioniert in der Regel, denn meist ändert sich unser Umfeld nicht so drastisch wie in der Laborumgebung der psychologischen Forschung. Die Gesprächspartner des wahren Lebens behalten ihre Köpfe, tauschen nicht für Spaßfilme die Plätze. Zusätzlich arbeitet unser Gehirn mit Eifer daran, eine konstante Wahrnehmung zu erzeugen. Ein realer Elefant zum Beispiel ist in unserer Vorstellung immer gleich groß, egal, ob er direkt vor uns steht oder hundert Meter entfernt, ob sein Bild auf unserer Netzhaut also groß oder klein ist. Die Psychologie nennt das »Wahrnehmungskonstanz«.
Doch sie ist ein Trick des Gehirns, eine Täuschung. Den Moment können wir wirklich nur wahrnehmen, während er passiert. Details halten wir nur fest, wenn wir uns auf sie konzentrieren, zum Beispiel auf die Position der Banane in den Zeichnungen oben. Sonst sind sie verloren.
Können Sie Ihren Vornamen rückwärts buchstabieren, ohne dass die Buchstaben vor Ihrem geistigen Auge erscheinen?
Fast alle Konzentrationsübungen beanspruchen die Augen. Zum Beispiel: zählen, wie oft ein Buchstabe in einem Text vorkommt. Der römische Dichter Lukrez hat ein paar Verse über die Frage geschrieben, was die Bilder im Kopf mit Konzentration zu tun haben – ob die Bilder die Gedanken lenken oder umgekehrt. Wie viele kleine »h« stecken in diesem Text?
Über Wille und Aufmerksamkeit
Viel ist auf diesem Gebiet noch zu fragen und viel noch zu klären, / Wenn wir dieses Problem vollständig erledigen wollen. / Da ist die wichtigste Frage: Weshalb denkt unser Verstand just / Das alsbald, was zu denken ihm grade die Lust ist gekommen? / Schauen die Bilder vielleicht auf unseren Willen und stellt sich / Uns, wenn wir wollen, sofort das entsprechende Bild zur Verfügung? […]
Oder ist folgender Grund wohl richtiger? Weil in dem einen / Zeitraum, wo wir empfinden, das heißt wo ein Wörtchen wir sprechen, / Viele Momente versteckt sind, die nur die Berechnung ermittelt, / Daher kommt’s, dass in jedem Moment und von jeglicher Art uns / Bilder an jeglichem Orte bereit zur Verfügung sich stellen. / So beweglich und zahlreich erscheint uns die Menge der Dinge. / Denn wenn das frühere Bild uns verschwand und ein neues mit andrer / Stellung entstand, so scheint uns das erste die Haltung zu ändern. […]
Siehst du nicht auch, wie das Auge sich spannt und den Willen darauf lenkt, / Wenn es begonnen den Blick auf zarte Gebilde zu richten? / Ohn’ ein solches Bemühn ist deutliches Sehen nicht möglich. / Kann man doch selbst erfahren, dass deutlich erkennbare Dinge, / Wenn sie der Geist nicht beachtet, so gut wie dem Blicke entrückt sind / Während der ganzen Zeit und in weiteste Ferne verschlagen.
Weshalb soll es nun wunderbar sein, dass dem Geiste das andre / Alles verloren geht, nur das nicht, worauf er sich einstellt? / Ferner fügen wir oft den kleinsten Erscheinungen größte / Wahnvorstellungen zu und verstricken uns selbst so in Täuschung.
Lukrez (um 99 v. Chr. – 55 v. Chr.)
Wie echt sind die...
Erscheint lt. Verlag | 7.10.2021 |
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Zusatzinfo | mit 18 Zeichnungen |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Aufmerksamkeit • Bestseller-Autor • Digitalisierung • Feierabend • Fokus • Geschenkbuch • Kulturgeschichte • Ratgeber Gesundheit • Reizüberflutung • Stress |
ISBN-10 | 3-462-30269-8 / 3462302698 |
ISBN-13 | 978-3-462-30269-1 / 9783462302691 |
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