Auf Basidis Dach (eBook)

Über Herkunft, Marokko und meine halbe Familie

*****

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
224 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30275-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Auf Basidis Dach -  Mona Ameziane
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In wundervollen Episoden erzählt WDR-Moderatorin Mona Ameziane klug und sympathisch von einem Marokko, das uns weder der Reiseführer noch das »Auslandsjournal« zeigen können. Als Mona ihren Vater fragt, wie oft sie wohl schon in Marokko war, denkt er nur kurz nach und antwortet: »Nimm einfach dein Alter mal eineinhalb, das müsste passen.« Wie genau er auf diese Formel kommt, weiß sie nicht, aber sie ist fest entschlossen, noch mehr Fragen zu stellen. Nicht nur ihrem Vater, sondern auch sich selbst und dem Land, das für sie schon immer mehr war als für die meisten Menschen in Deutschland. Mehr als Urlaubsziel oder »Herkunftsland« in der Zeitung nach einem Terroranschlag - mehr als oberflächliche Orientromantik und rassistische Stereotypen. Ihre Suche führt sie nach Fès zum Haus ihrer Großeltern, nach Agadir, wo sie die reichste Seite des Landes kennengelernt hat, und in abgelegene Dörfer, in denen Menschen beim Wort »Europa« nur verständnislos mit den Achseln zucken.

Mona Ameziane, geboren 1994, ist im Ruhrgebiet aufgewachsen. Ihr Vater kommt aus Marokko, ihre Mutter aus Deutschland. Sie hat Journalistik an der TU Dortmund studiert und moderiert, neben anderen Radio- und Fernsehformaten, seit 2017 die Büchersendung »Stories« bei 1LIVE. »Auf Basidis Dach« ist ihr erstes Buch.

Mona Ameziane, geboren 1994, ist im Ruhrgebiet aufgewachsen. Ihr Vater kommt aus Marokko, ihre Mutter aus Deutschland. Sie hat Journalistik an der TU Dortmund studiert und moderiert, neben anderen Radio- und Fernsehformaten, seit 2017 die Büchersendung »Stories« bei 1LIVE. »Auf Basidis Dach« ist ihr erstes Buch.

Inhaltsverzeichnis

2


Zu den größten Aha-Momenten in meinem Leben gehört auf jeden Fall der Tag, an dem ich endlich verstand, wie das mit dem Wechselgeld funktioniert. Lange Zeit war ich davon ausgegangen, dass die Verkäuferin beim Bäcker meiner Mutter nicht nur die Brötchen über den Tresen reicht, sondern auch Geld als Dank dafür, dass wir sie essen. Als mir plötzlich klar wurde, dass man beim Einkaufen nichts verdient, sondern nur etwas bezahlt, hat ein großer Teil der Welt von einer Sekunde auf die nächste viel mehr Sinn ergeben. Ich hatte das Gefühl, dem Erwachsensein mit einem Mal ein ganzes Stück näher gekommen zu sein.

Grundlegend anders war der Moment, als ich feststellte, dass nicht nur meine Großeltern in Marokko Lalla und Basidi heißen, sondern alle Großeltern. Basidi bedeutet übersetzt so etwas wie »Vater meines Herrn«, Lalla war ursprünglich die Anrede für weibliche Mitglieder der Königsfamilie, gilt mittlerweile aber als Bezeichnung für jede ältere Dame, der man Respekt entgegenbringen möchte. Theoretisch hat es also schon alles Sinn ergeben, aber die Empörung, die diese Information in mir ausgelöst hat, lässt sich immer noch nicht in Worte fassen. Bis heute horche ich jedes Mal auf, wenn jemand von einem Basidi spricht, weil ich natürlich denke, dass mein Basidi gemeint ist. Ich mag mir einfach keinen anderen Menschen vorstellen, zu dem diese Bezeichnung genauso gut passt wie zu ihm, und bin der festen Überzeugung, dass es nur den einen geben kann. Ähnlich ist es beim Wort »Dachterrasse«. Ich kann kein Buch, keinen Artikel, keine Meldung, nicht mal einen Tweet lesen, in dem es um eine Dachterrasse geht, ohne direkt an diese eine denken zu müssen. Diese eine, auf der ich jetzt gerade stehe. Diese eine, die zwar groß, aber unspektakulär ist. Auf zwei Leinen hängen ein paar Handtücher, darunter steht ein Korb mit Wäscheklammern. Der Boden ist mit gelben und roten Kacheln gefliest, die einen Farbton dunkler werden, wenn sie mit Flüssigkeit in Berührung kommen. Bisher hat es genau drei Situationen gegeben, in denen ich das beobachten konnte. Das erste Mal war ich mit einem der ständig wechselnden Hausmädchen hier oben gewesen, um zu putzen. So richtig mit Flitscher und Seife und Badeschlappen. Das zweite Mal hatte mein Onkel in einem besonders heißen Sommer die wirklich fantastische Idee gehabt, aus der Dachterrasse ein Privatfreibad zu machen. Leider war meinem Vater irgendwann aufgefallen, dass der Plastikpool in gefülltem Zustand ungefähr sieben Tonnen wiegen würde und er hatte angemerkt, dass die Statik des Hauses dafür sicher nicht ausgelegt sei. Also mussten wir das Projekt sehr frühzeitig und sehr enttäuscht wieder abbrechen und dabei zusehen, wie das Wasser in einer dunklen Spur über das halbe Dach lief. Beim dritten Mal schließlich hatte ich von den Fliesen überhaupt nichts mehr gesehen, weil sie von dickflüssigem dunklem Blut bedeckt waren. Sehr sicher habe ich auf dieser Dachterrasse noch nichts gesehen, was sich stärker in mein Gedächtnis eingebrannt hat als dieser Anblick. Bevor sich die Erinnerung jedoch vollständig in meinem Kopf aufbauen kann, passiert das, worauf ich immer warte, wenn ich hier oben stehe.

»Allahu Akbar! Allahu Akbar!«, ertönt es. Zunächst ganz leise von links, dann etwas lauter von vorne und nach und nach aus allen anderen Richtungen.

»Ashadu an la ilaha illa llah!«

Früher habe ich mir immer vorgestellt, dass die Dachterrasse meiner Großeltern der einzige Ort in Fès ist, an dem man die Gebetsrufe aller Moscheen der Stadt im Kanon hören kann. Das stimmt natürlich nicht, aber gerade fühlt es sich wieder genauso an.

»Ashadu anna Muhammadan rasulu llah!«

Ich stelle mich an den vorderen Rand der Terrasse und lehne mich leicht gegen die kleine Mauer. Von dieser Seite blickt man auf die große Straße vor dem Haus, und ich sehe Basidi in einer weißen Djellaba mit hinter dem Rücken verschränkten Händen und leicht gesenktem Blick in Richtung seiner Stamm-Moschee gehen. Langsam, im typischen Basidi-Gang, bei dem alle Schritte immer kurz den Boden streifen, ohne dass es wie Schlurfen aussieht. Auf dem Kopf trägt er etwas, das hier Tarboush genannt wird, für das es in der deutschen Sprache aber leider keine passende Übersetzung gibt. Hut klingt zu sehr nach etwas mit Krempe, Mütze klingt zu sehr nach etwas mit Bommel und Kappe klingt zu sehr nach etwas mit Schirm. Ein Tarboush ist aber etwas ohne alles, und bei Basidi ist er immer weiß. War er immer weiß. Denn leider läuft er nicht wirklich da unten. Nicht mehr.

Mit einem letzten »La ilaha illa llah« verstummen nacheinander die Muezzine aus der Umgebung und ich atme tief ein. Wie schön wäre es, wenn sich das, was ich da einatme, nach frischer Abendluft anfühlen würde. Aber alles, was ich rieche, sind die Abgase der vorbeifahrenden Autos.

 

Das Haus meiner Großeltern befindet sich in einem Viertel, von dem ich bis heute nicht sagen kann, ob es zu den besseren oder schlechteren von Fès gehört. Ich habe die Vermutung, dass es mal besser war und langsam schlechter wird, zumindest haben hier früher wohl mal richtig wichtige Menschen gewohnt.

Ein Ritual, das für mich seit Jahren zu jedem Aufenthalt in Fès dazugehört, ist das Frühstück vor dem Frühstück. Unter dem Vorwand, Baguette kaufen zu gehen, laufen wir jeden Morgen zum Café Titanic, das etwa zehn Gehminuten vom Haus entfernt an der Ecke einer Hauptstraße liegt, um dort mit Pfefferminztee und Milchkaffee in den Tag zu starten.

Zu dieser Tradition zählt für mich nicht nur die immer gleiche Begrüßung vom immer gleichen Kellner in Richtung meines Vaters (»Ça va, Chef?«), sondern auch die immer gleichen Geschichten an den immer gleichen Ecken des Viertels: In dem weißen Haus mit den blauen Balkonen ist die Cousine des Königs aufgewachsen. Gegenüber, da, wo seit Jahren die große Müllkippe ist, stand früher eine Villa, in der ein französischer Professor zur Miete gewohnt hat. Von ihm hat mein Vater seine erste echte Schallplatte bekommen, ein Album von Charles Aznavour, das er nach zwei Wochen unberührt zurückgeben musste, weil es im Haus meiner Großeltern keinen Plattenspieler gab. Direkt daneben, an der Ecke zum kleinen Hof, wohnte der »Ballkiller«. Ein Mann, den ich mir immer hasserfüllt und grimmig vorstelle, denn alles, was ich über ihn weiß, ist, dass er Fußbälle, die in seinem Garten gelandet sind, in zwei Teilen zurückgeworfen hat. Manchmal musste mein Vater mit seinen Freunden deshalb mehrfach zum Laden um die Ecke laufen, um sich für jeweils zwei Dirham, also umgerechnet etwa 20 Cent, einen neuen Ball zu kaufen und das laufende Spiel zu beenden.

Immer wenn mein Vater diese Geschichten erzählt, versuche ich mir vorzustellen, wie sich sein Leben hier vor 50 Jahren angefühlt hat. Alles, was er beschreibt, klingt irgendwie schön und nach Spaß und warmer Unbeschwertheit, aber so ist das ja immer mit Geschichten aus der Vergangenheit. Heute sehe ich von hier oben fast nur noch Gebäude, die eigentlich keine Wohnhäuser mehr sind, sondern Unternehmen, Schulen, Institute, Praxen, Baustellen. Da, wo mal die Cousine vom König gewohnt hat, sind seit Jahren die Rollläden dicht, und ich bin mir sicher, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis auch Basidis Dach verschwinden wird.

 

Auf dem Papier und in Reiseführern ist Fès so etwas wie der kulturelle Kern von Marokko, das geistige Zentrum, die Hauptstadt der Herzen. Der Schriftsteller Tahar Ben Jelloun, der selbst hier geboren und aufgewachsen ist, bezeichnet Fès in einem seit Jahrzehnten kursierenden Zitat als »das Gedächtnis der marokkanischen Nation« und »den Schmelztiegel einer Kultur«. Das klingt wuchtig und ist durchaus wahr, denn diese Seite der Stadt gibt es tatsächlich. Dort, wo Altes alt bleiben durfte, wird die Schönheit von Fès besonders deutlich. In vielen anderen Gegenden hat sich dagegen eine traurige Moderne ausgebreitet, die sich anfühlt wie rückschrittlicher Fortschritt.

Das beste Beispiel dafür ist das Verschwinden der traditionellen Hanouts. Sie sind die marokkanische Version des Tante-Emma-Ladens, mit dem Unterschied, dass Tante Emma hier in den allermeisten Fällen Sidi Mohammed heißt. Auf zwei bis zehn Quadratmetern stapeln sich in einem Hanout Dosenerbsen, Bleistifte, Slipeinlagen, Reis, Glühbirnen, Schokolade, Flummis, Waschmittel, Brot, Socken, Eis, Zahnpasta, Käse, Briefmarken, Tee, Joghurt, Klobürsten, Cola, Öl, Nähgarn, Salz, Kekse, Wasserpistolen, SIM-Karten, Gewürze, Marmelade, Gaskartuschen, Anti-Aging-Cremes und Chipstüten. Es kann vorkommen, dass man nach Lockenshampoo für dunkles Haar fragt und mehr Auswahl geboten bekommt als bei Rossmann und DM zusammen. Ebenfalls gut möglich, dass die Flaschen etwas verstaubt oder mit verblassten Etiketten über die Theke gereicht werden, und vor allem bei Lebensmitteln lohnt sich hier und da mal ein genauerer Blick aufs Haltbarkeitsdatum. Trotzdem gibt es, nach meinem aktuellen Kenntnisstand, kein vergleichbares Einkaufserlebnis auf diesem Planeten, und lange Zeit gab es in Marokko auch keine Alternative zu den kleinen Hanouts. Ich erinnere mich an eine Zeit, in der man von Lallas und Basidis Dach aus vier Stück zählen konnte. Alle im Umkreis von nicht mal 300 Metern. Heute gibt es in diesem Bereich nur noch einen einzigen. Dafür sind zwei große Supermärkte fußläufig erreichbar und seit Neustem sogar ein Sushi-Restaurant. Ich wüsste wirklich gerne, ob das eine gute oder eine schreckliche Entwicklung ist. Wahrscheinlich ist es einfach eine, die unumgänglich ist,...

Erscheint lt. Verlag 7.10.2021
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 1Live Stories • Familiengeschichte • Herkunft • Kindheit • Marokko • Marokko Erlebnisbericht • Marokko-Geschichte • Marokko-Kultur • Marokko-Reise • Memoir • Reisebericht • Suche nach Wurzeln • WDR-Moderatorin • Wurzeln
ISBN-10 3-462-30275-2 / 3462302752
ISBN-13 978-3-462-30275-2 / 9783462302752
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