Kleiner Bruder (eBook)

Die Geschichte meiner Suche
eBook Download: EPUB
2021 | 1., Deutsche Erstausgabe
100 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76807-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kleiner Bruder - Ibrahima Balde, Amets Arzallus
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Als sein kleiner Bruder verschwindet und alles darauf hindeutet, dass er die gefährliche Reise nach Europa angetreten hat, macht sich Ibrahima auf die Suche. Und erfährt am eigenen Leib, was der Traum von einem Leben in Europa für so viele junge Männer in Afrika bedeutet: Unsicherheit, Gewalt, Ausbeutung, Einsamkeit, Verzweiflung. Ibrahima wird geschlagen, erniedrigt, verkauft, doch zur gleichen Zeit erlebt er den Zusammenhalt, die Hoffnung und die felsenfeste Zuversicht einer Schicksalsgemeinschaft, und schafft es schließlich nach Spanien, wo er seine eigene Stimme findet, um die Geschichte seiner Verlorenheit in eine Rettung zu verwandeln.

Ein Zeugnis, das unter die Haut fährt. Ein Stück Literatur, das berührt durch seine Unmittelbarkeit und Schönheit. Kleiner Bruder gewährt die Innenansicht auf die Fluchterfahrung, in einer Sprache, die staunen macht.



<p>Ibrahima Balde, geboren 1994 in Conakry, Guinea, gelangte im Oktober 2018 in die baskische Stadt Irun. Dort lernte er den Bertsolari-Sänger Amets Arzallus kennen und vertraute ihm seine Lebensgeschichte an. <em>Kleiner Bruder</em> ist mit Ibrahimas Stimme und Amets Händen geschrieben.</p>

Erster Teil


I


Ich wurde in Guinea geboren, aber nicht Guinea-Bissau oder Äquatorialguinea. Es gibt noch ein anderes Guinea, eines, das Conakry als Hauptstadt hat. Es grenzt an sechs Länder. Drei werde ich dir nennen: Senegal, Sierra Leone und Mali. Dort geschah es, dass ich geboren wurde.

Ich gehöre zur Ethnie der Fula, und unsere Sprache ist das Pular, aber ich spreche auch Malinke. Mit dem Susu komme ich ebenfalls klar. In Guinea werden fünfundzwanzig Sprachen gesprochen. Und Französisch. Sechsundzwanzig. Das kann ich auch, weil ich es in der Schule gelernt habe. Aber ich bin Fula, und auf Pular kenne ich alle Worte. Auf Susu mehr als tausend, auf Malinke ein bisschen weniger als auf Susu. Ich weiß nicht, wie viele Worte ich auf Französisch beherrsche.

Auf Susu sagt man für Brot tami, Vater ist baba. Auf Malinke heißt Mutter na, und für Schmerzen sagt man dimin. Als sie mich zur Welt gebracht hat, ist meine Mutter fast gestorben, weil ich zu dick war, und sie hat viel Blut verloren. Für Blut sagt man auf Pular yiiyan und für Welt aduna.

Ich wurde in Conakry geboren, weil mein Vater dort lebte, aber sobald ich auf der Welt war, sind wir ins Dorf zurückgekehrt, nach Thiankoi. Thiankoi ist weit vom Meer entfernt und in der Nähe von Kankalabé. Die Region heißt Mamou, und die Präfektur Dalaba. Bis ich fünf Jahre alt war, lebte ich dort mit meiner Mutter. Mein Vater kam in der Regenzeit, im März, um Mama beim Bestellen des Landes zu helfen. Nach mir kamen noch drei weitere Geschwister zur Welt.

Wir hatten zu Hause zwölf oder dreizehn Kühe, und ich habe meiner Mutter mit dem Vieh geholfen. Manchmal hat sie mich zum Wasserholen geschickt, puiser de l’eau. Ich habe auch andere Arbeiten gemacht, die Wäsche gewaschen und beim Trocknen auf sie aufgepasst. Das sind mehr oder weniger die Erinnerungen, die ich an die Zeit mit meiner Mutter habe. Als ich fünf war, kam der Vater, um mich zu holen.

II


Mein Vater verkaufte Schuhe. Er verkaufte sie auf der Straße, aber es waren Hausschuhe, des repose-pieds. Das Haus ist kein Ort, um zu rennen. Der Verkaufsstand war fünfhundert Meter von unserer Wohnung entfernt und bestand aus einem am Straßenrand aufgestellten Tisch. Dort verbrachte mein Vater den ganzen Tag. Manchmal kam jemand vorbei, und sie begannen sich zu unterhalten, zuerst über die Hausschuhe, dann über Geld. Dann war mein Vater sehr zufrieden. Aber die Freude hält nicht lange an. Und nachdem sie über das Geld gesprochen hatten, holte mein Vater zwei Stücke Bambus unter dem Tisch hervor und machte in jedes ein kleines Loch. Ein Stück behielt mein Vater, das andere nahm der Käufer mit. Die Größe des Lochs zeigte die Höhe der Schulden an. Vater hatte viele solcher Bambusstücke unter seinem Tisch. Er sagte öfter, dass er die Schuhmacherei eines Tages aufgeben und anfangen werde, Flöte zu spielen, doch er verkaufte weiter Schuhe.

Ab und an ging er weg, um zu beten, und ich blieb allein am Stand zurück. Leute kamen und schauten sich unsere Schuhe an. Aber ich sagte ihnen, »Ich kann dir nichts verkaufen, der Alte ist nicht da, ich muss hier auf ihn warten«. Ich kannte mich mit der Farbe des Geldes nicht gut aus und wusste nicht, wie viel jeder Schein wert war. Ich war noch sehr klein. Also warteten wir auf den Alten. Der Alte ist mein Vater, er heißt Mamadou Bobo Balde.

Von meinem fünften bis zum dreizehnten Lebensjahr lebte ich mit dem Vater in Conakry. Zwischen fünf und dreizehn sind acht Zahlen, aber von Conakry in unser Dorf ein bisschen mehr, ungefähr vierhundertdreißig. Zu viele, um allein zu fahren. Mit den Hausschuhen kann man nicht so weit laufen. Das sagte der Vater immer zu mir; dass ich nicht ankommen würde. Deshalb blieb ich bei ihm, an unserem kleinen Tisch am Straßenrand, ohne die Mutter zu sehen.

Aber ich hatte einen Freund, er war älter als ich und liebte mich sehr. Er sagte zu mir, dass ich ihn um alles bitten solle, was ich brauche. Manchmal bat ich um Schuhe, und er gab sie mir. Andere Male fragte ich nach etwas zu essen, und er brachte mir etwas. Er kümmerte sich um mich wie um einen kleinen Bruder. Dieser Freund hieß Muhtar. Einmal bat ich ihn, einen Brief an meine Mutter zu schreiben, und er schrieb ihn. Wir gingen zusammen zum Busbahnhof von Conakry und gaben ihn jemandem, damit er ihn ins Dorf mitnehme. Ich weiß nicht, ob er mit dem Fahrrad oder dem Bus fuhr, aber ich weiß, dass er ankam. Die Ferne ist für einen Brief kein Problem.

Ich denke viel an meine Mutter. Sie heißt Fatimatu Diallo, und seit Monaten habe ich nicht mit ihr gesprochen. Sie weiß nicht einmal, dass ich in Europa angekommen bin.

III


Mir gefällt es nicht, das zu sagen, aber ich hatte Angst vor meinem Vater. Wenn er befahl, »Ibrahima, mach das nicht«, machte ich es nicht. Doch manchmal vergaß ich es und tat es doch. In diesem Fall hatte der Vater eine Gewohnheit. Er lockerte den Gürtel und sagte, »Ibrahima, leg dich auf den Boden«. Ich antwortete »dakor«, und er gab mir fünf Schläge. Oder zehn. Ich verstand sehr gut, warum er mich schlug, und versuchte das nächste Mal es nicht wieder zu tun.

Mein Vater war niemals in die Schule gegangen, und deshalb ärgerte er sich so, wenn ich nicht ging. Abends fragte er mich immer, »Ibrahima, bist du heute in der Schule gewesen?«. Und ich antwortete, »Ja, ich war dort«. Oder aber, »Nein, Vater, ich bin nicht in der Schule gewesen, ich habe mit Freunden Fußball gespielt«. Doch bevor ich antwortete, wusste der Vater schon Bescheid, weil ich mit schmutziger Hose heimgekommen war. Nachdem er vom Abendgebet zurückgekehrt war und das Haus betreten hatte, sagte er dann zu mir, »Ibrahima, du weißt Bescheid«. Ich legte mich auf den Boden, und er nahm den Gürtel ab. Fünf Schläge gab er mir. Oder zehn. Bis mir der Rücken brannte. Danach zog er den Gürtel wieder an, sprach ein Gebet, und wir gingen schlafen.

Ich liebte meinen Vater. Und mein Vater liebte mich.

Am Morgen weckte er mich immer. Er kam zu mir und sagte, »Ibrahima, Zeit zum Aufwachen«. Ich stand auf, betete und ging in die Schule. Die Schule war alles andere als einfach, das Einzige, was sie uns beibrachten, war Französisch. Französisch und drei andere Sachen. Erstens: Wie man eine Straße überquert, »Du schaust nach links und nach rechts und dann gehst du hinüber«. Daran erinnere ich mich. Zweitens lernten wir, Respekt vor anderen Leuten zu haben. Man muss andere Menschen respektieren, parce que c’est comme ça, so ist das. Und drittens … habe ich vergessen, ich erinnere mich nicht, aber ich glaube, es war wichtig. Diese drei Dinge habe ich in der Schule gelernt.

Es war eine staatliche Schule, doch ich ging vor dem Ende der sechsten Klasse ab, weil ich keine Unterstützung hatte. Unterstützung bedeutet Geld, und Geld wird immer gebraucht. Ich wollte weiter in die Schule gehen, aber es war unmöglich.

IV


Mein Vater war ein guter Mann, aber er litt an einer Krankheit, der Diabetes. Ständig mussten wir ins Krankenhaus, und wenn wir ins Krankenhaus gingen, konnten wir nicht an unserem Stand stehen. Dann verkauften wir viel weniger und hatten kein Geld.

Der Vater begann mir schwierige Fragen zu stellen, »Ibrahima, wie sollen wir das jetzt machen? Ich bin nicht gesund, und du bist noch ein Kind«. Ich antwortete, »Papa, ich werde die Schule verlassen und Geld verdienen«. Aber das wollte er nicht. »Du bist noch klein«, sagte er, »für dich ist es zu früh, du wirst das später machen.« Aber dieses Später kommt nicht immer.

An einem Nachmittag kam ich um sechzehn Uhr null null von der Schule zurück. Ich ging nach Hause, wusch mich ein wenig...

Erscheint lt. Verlag 10.5.2021
Übersetzer Raul Zelik
Sprache deutsch
Original-Titel Miñan
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Asyl • Black History Month • Brudergeschichte • Bruderliebe • Europa • Flucht • Flüchtlinge • Immigration • Miñan deutsch • Refugees • ST 5142 • ST5142 • suhrkamp taschenbuch 5142
ISBN-10 3-518-76807-7 / 3518768077
ISBN-13 978-3-518-76807-5 / 9783518768075
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