Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit (eBook)

Wie schafft man Demokratie?
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
270 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76782-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit -  Jan-Werner Müller
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Wenige Jahre nach seinem Erscheinen gilt Jan-Werner Müllers Was ist Populismus? als Klassiker der Gegenwartsdiagnose. Die New York Times sprach von einem »brillanten Buch«, der französische L'Obs von einem »Standardwerk«, die NZZ attestierte dem Essay »brennende Aktualität«.
Populisten reklamieren für sich, sie seien die einzige Stimme des wahren Volkes; gleichzeitig gelten sie vielen als Bedrohung der Demokratie. Angesichts dieser unübersichtlichen und oft von Alarmismus geprägten Debattenlage tritt Jan-Werner Müller einen Schritt zurück und fragt nach den leitenden Prinzipien dieser Regierungsform: Was bedeutet Freiheit, wenn wir das Regieren an andere delegieren? Wie viel ökonomische Ungleichheit ist noch mit der Grundanforderung politischer Gleichheit kompatibel? Wie kommen wir mit Verfahren zurecht, deren Ergebnisse notwendigerweise ungewiss sind?
Demokratie ist, so Müller, nicht zuletzt auf funktionierende vermittelnde Institutionen angewiesen: auf unabhängige Medien, die Öffentlichkeit schaffen, auf Parteien, die politische Konflikte auf demokratische Weise strukturieren - und vor allem auf mobilisierte Bürgerinnen und Bürger, die bereit sind, unbequem, ja sogar ungehorsam zu sein, um demokratische Prinzipien zu verteidigen.

<p>Jan-Werner M&uuml;ller, geboren 1970, lehrt Politische Theorie und Ideengeschichte an der Princeton University. Im Suhrkamp Verlag erschienen bislang <em>Verfassungspatriotismus</em>, <em>Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert</em> und <em>Was ist Populismus? Ein Essay</em> (2016). <em>Was ist Populismus?</em> wurde in zahlreiche Sprachen &uuml;bersetzt und gilt als zentraler Text zum Verst&auml;ndnis zeitgen&ouml;ssischer politischer Entwicklungen. Jan-Werner M&uuml;ller &auml;u&szlig;ert sich regelm&auml;&szlig;ig zum Zeitgeschehen; er schreibt u. a. f&uuml;r Foreign Affairs, die Neue Z&uuml;rcher Zeitung, die New York Times und die S&uuml;ddeutsche Zeitung.</p>

Vorwort


Demokratie? Es wäre eine Illusion, wenn wir annähmen, wir hätten sie bereits, um dann entweder mit ihr zufrieden zu sein oder sie als mangelhaft zu kritisieren. Sie ist jenes Spiel der Möglichkeiten, das in noch naher Vergangenheit entstand und das wir in seiner Gänze erst noch zu entdecken haben.

Claude Lefort

Es ist ein Gemeinplatz geworden: Die Demokratie steckt in der Krise. Was genau eine Krise ausmacht, darüber wird gestritten; die Sorge ist berechtigt, dass es sich bei Krisendiagnosen um das handelt, was Saul Bellow einmal als crisis chatter, als Krisengeschwätz, abqualifizierte. Doch so oder so wäre es wichtig, erst einmal eine noch grundsätzlichere Frage zu stellen: Was macht Demokratie eigentlich aus?

Die Gründe für das verbreitete Krisengefühl scheinen auf der Hand zu liegen: Zum ersten Mal in diesem Jahrhundert finden sich unter den Ländern mit über einer Million Einwohnern mehr Nicht-Demokratien als Demokratien. Und jenseits abstrakter Zahlen arbeitet da noch immer in vielen das doppelte Trauma von 2016, der Brexit und die Wahl eines Reality-TV-Stars zum Präsidenten der ältesten und mächtigsten Demokratie der Welt.

Beweist jedoch die Wahl eines offensichtlich ungeeigneten Kandidaten ins höchste Amt des Landes bereits, dass die Demokratie sich in einer Krise befindet? Oder bestand der Beweis erst darin, dass dieser Mann seine Anhänger in den allerletzten Tagen seiner Amtszeit zum Sturm auf die Legislative aufhetzte? Oder zeigte die amerikanische Demokratie da nicht gerade ihre Widerstands- und grundsätzliche Fähigkeit, einen Schock für das System zu absorbieren?

Nicht jeder Schock signalisiert schon eine Krise. In der ursprünglichen altgriechischen Bedeutung bezeichnet krisis einen Augenblick, in dem Entscheidendes geschieht: Ein Patient stirbt oder erholt sich, ein Angeklagter wird verurteilt oder freigesprochen (tatsächlich war »Urteil« die zweite Bedeutung des Ausdrucks in der Antike).1 Wenn das zutrifft, war Trumps Wahlsieg 2016 dann vielleicht ein Augenblick, in dem in Wirklichkeit die Wähler beurteilt wurden – nämlich als ungeeignet für die Demokratie? Wie wir inzwischen wissen, kann es durchaus zu einer Frage von Leben oder Tod werden, wenn ein Präsident unwahre Behauptungen twittert oder auf Pressekonferenzen herausposaunt – nämlich falls Teile des Publikums ihn während einer Pandemie beim Wort nehmen. Aber untergräbt es die Demokratie schon, wenn jemand Lügen über das Desinfektionsmittel Lysol verbreitet, zusammen mit allerhand anderem Postfaktischen? Und ist es wirklich ein tödlicher Schlag für die Demokratie, wenn ein Land entscheidet, eine supranationale Organisation zu verlassen – und das nach einem Referendum, das die älteste politische Partei der Welt, die Tories in Großbritannien, initiiert hatte? Es gibt alle möglichen Ergebnisse demokratischer politischer Prozesse, die man für verabscheuenswürdig oder irrational halten mag. Doch was sind die Kriterien, mit denen sich ein Augenblick, in dem es wirklich um Leben oder Tod geht, bestimmen ließe? Und gibt es eine Möglichkeit, dies so zu tun, dass diese Kriterien nicht von vorneherein als einseitig parteipolitisch motiviert erscheinen?

All diese Fragen lassen sich nicht beantworten, solange man nicht geklärt hat, was Demokratie eigentlich sein und leisten soll. Gewiss, wir glauben, wir erkennen sie mehr oder weniger deutlich, wenn wir eine vor uns sehen (gemäß der berühmten, von einem US-Richter stammenden Definition von Pornografie: I know it when I see it). Viele Politiker, die entschlossen sind, die Demokratie zu unterminieren, haben allerdings ein beträchtliches Geschick entwickelt, uns glauben zu machen, da sei etwas, obwohl es längst schon verschwunden ist. Was ist wirklich entscheidend für die Demokratie? Sind es primär Wahlen oder verschiedene Grundrechte wie die Meinungsfreiheit, oder geht es um etwas schwerer zu Fassendes wie kollektive Einstellungen, zum Beispiel dass die Bürger bereit sind, einander zivilisiert und mit Respekt zu begegnen?

Bei der Beantwortung dieser Fragen wird man nicht weit kommen, wenn man nicht zunächst auf Grundprinzipien zurückgeht – eine Art back to basics. Wobei das Verständnis dieser Prinzipien nicht vom Himmel gefallen, sondern bekanntlich in der Geschichte auch immer umkämpft gewesen ist. Dieses Buch will für dieses back to basics eine Route anbieten. Es ist unvermeidlich, dass wir rückwärts in die Zukunft gehen. Doch ein Gefühl dafür zu haben, woher wir kommen und wie der Weg bisher beschaffen war, kann uns helfen herauszufinden, ob wir von unserem Weg abgekommen sind (was allerdings nicht heißt, dass es nur einen einzigen politisch seligmachenden Weg gäbe).

Es wäre falsch, anzunehmen, jegliches Nachdenken über die Demokratie müsste sich heute als Antwort auf die neuen Autoritären verstehen. Man kann aber auch nicht so tun, als wäre gar nichts passiert. Deshalb wird das erste Kapitel dieses Buchs die Frage aufnehmen, die Hillary Clinton nach der Niederlage gegen Trump in ihren Sofortmemoiren stellte: Was ist geschehen? Und warum geschieht es noch immer, obwohl so viele selbsterklärte Verteidiger der Demokratie Alarm geschlagen haben?

Es gibt zwei bequeme, aber letztlich verfehlte Reaktionen. Die eine sieht die Schuld bei den Bürgerinnen und Bürgern selbst. Man findet diese Position insbesondere bei Liberalen (im weitesten Sinne), die individuellen Rechten den Vorrang geben, mit dem Kapitalismus mehr oder weniger zufrieden sind und Vielfalt schlechthin als wertvoll empfinden – aber sich auch fast obsessiv darum sorgen, die Demokratie könne sich in eine Tyrannei der Mehrheit verwandeln. Viele dieser Liberalen nehmen den oft zitierten »weltweiten Aufstieg des Rechtspopulismus« zum Anlass, endlich einmal wieder ungeniert in den Klischees aus der Massenpsychologie des 19. Jahrhunderts zu schwelgen. Für sie ist immer schon klar, dass die Massen alle erdenklichen Katastrophen über sich selbst gebracht haben und einfache Menschen (falsch informiert, und selbst wenn einigermaßen informiert, vollkommen irrational) stets danach lechzten, sich von Demagogen verführen zu lassen. Die offenkundige Lehre daraus lautet, die Macht wieder den beschönigend so genannten »Gatekeepern« zu geben. Und das heißt im Klartext vielfach: den traditionellen Eliten.2 Kritiker dieser Haltung sahen bereits in der Personalauswahl sowie der Amtseinführungszeremonie Joe Bidens etwas leicht Selbstzufriedenes nach dem Motto: »Wir, die Erwachsenen (und Gatekeeper), übernehmen wieder.«

Konkreter lautet das Argument für liberale »Türsteher« an den Institutionen: Lasst uns den Prozess der amerikanischen Vorwahlen umgestalten, um die Entscheidungsmacht derer zu minimieren, die in den USA oft seltsamerweise everyday citizens, »Alltagsbürger«, genannt werden.3 Lasst uns Schluss machen mit Referenden und anderen unverantwortlichen Übungen in direkter Demokratie. Lasst uns einfach anerkennen, dass Politik ein Beruf (und nichts für Amateure) ist.4 Man darf schließlich nicht vergessen, dass zwei Drittel aller US-Amerikaner mindestens ein Jurymitglied der Fernsehshow American Idol namentlich benennen können, aber nur 15 Prozent wissen, wie der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs heißt.5 Laien mögen eine besonders kunstvolle Politikdarstellung in einer TV-Debatte beklatschen, doch während und insbesondere nach der Sendung sollte man sie auf die Zuschauerbänke verbannen. Wer so denkt – und dabei nicht gerade von der guten alten Demophobie befallen ist, also der Angst vor dem gemeinen Volk –, begründet sein Misstrauen gegenüber den Massen meist gerne mit zeitlosen Erkenntnissen aus der Sozialpsychologie: Die Menschen neigten eben zu Tribalismus. Konflikte, Polarisierung, Feindseligkeit zwischen Gruppen – das sei der Normalzustand aller Politik. Und wir sollten psychologische Übungen wie »Achtsamkeit«, so der Journalist Ezra Klein, ersinnen, damit gewöhnliche Menschen sich in allem ein wenig mäßigen.6 Wer an den Massen verzweifelt, verweist zudem gerne auf Umfragen, die angeblich zeigen, dass die Menschen weltweit immer mehr dazu tendierten, »starke Führer« oder gar Herrschaft des Militärs zu unterstützen.

Man weiß gar nicht, wo man anfangen soll, um diesen wohlfeilen Polit-Pessimismus zu kritisieren....

Erscheint lt. Verlag 10.5.2021
Übersetzer Michael Bischoff
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Bestseller bücher • buch bestseller • Daniel • Daniel Ziblatt • Demokratie • Demokratietheorie • Francis • Francis Fukuyama • fukuyama • Leistungsgesellschaft • Mitte-rechts • Mounk • Populismus • Rechtspopulismus • Rechtsruck • Sachbuch-Bestenliste • Sachbuch-Bestseller-Liste • Steven Levitsky • Yascha • Yascha Mounk • Ziblatt
ISBN-10 3-518-76782-8 / 3518767828
ISBN-13 978-3-518-76782-5 / 9783518767825
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