Unverkürzte Demokratie (eBook)

Eine Theorie deliberativer Bürgerbeteiligung
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
450 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76795-5 (ISBN)

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Unverkürzte Demokratie -  Cristina Lafont
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Welche Form der Demokratie sollten wir in Zeiten von Rechtspopulismus, Wutbürgern und Fake News anstreben? In ihrem neuen Buch entwickelt die Philosophin Cristina Lafont eine partizipatorische Konzeption der deliberativen Demokratie, die das Ideal der Selbstregierung trotz aller Unkenrufe ernst nimmt. Sie plädiert dafür, das Mitspracherecht der Bürgerinnen und Bürger nicht nur zu verteidigen, sondern sogar zu stärken.

Lafont entwickelt ihre Position in kritischer Auseinandersetzung mit pluralistischen, epistokratischen und lottokratischen Konzeptionen von Demokratie. Diese sehen verschiedene »Abkürzungen« vor, um Probleme der demokratischen Regierung - unüberwindliche Meinungsverschiedenheiten, politische Ignoranz, die schlechte Qualität politischer Deliberationen - zu lösen. All diese Abkürzungen untergraben jedoch die Demokratie, weil sie nur funktionieren, wenn die Bürgerinnen und Bürger sich blindlings Akteuren unterwerfen, deren Entscheidungen sie nicht mehr kontrollieren können. Auch die Annahme, dass eine Gemeinschaft bessere Ergebnisse erzielen kann, wenn sie ihre Mitglieder übergeht, erweist sich als falsch. Es gibt keine »Abkürzungen«, sondern nur den langen, bisweilen beschwerlichen partizipatorischen Weg, der beschritten wird, wenn die Bürgerinnen einen kollektiven Willen schmieden. Das ist unverkürzte Demokratie.



<p>Cristina Lafont, geboren 1963, ist Harold H. and Virginia Anderson Professor of Philosophy an der Northwestern University, Chair des Philosophy Department und Direktorin des Program in Critical Theory.</p>

11Einleitung
Demokratie für uns Bürger


Neueren empirischen Untersuchungen zufolge sind die Vereinigten Staaten keine Demokratie mehr. Technisch gesehen sind sie eine Oligarchie. Zu diesem alarmierenden Schluss kamen Benjamin Page und Martin Gilens, indem sie einen simplen Demokratiestandard anlegten: Sie werteten aus, in welchem Maß politische Präferenzen und Überzeugungen einer Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger tatsächlich die öffentliche Politik beeinflussen.[1]  Ihre Untersuchung deutet darauf hin, dass dieser Einfluss erstaunlich gering ist. Sie konstatieren zwar, dass es immer noch eine gewisse Überein12stimmung zwischen den Ansichten der Bürger und der realen Politik geben kann, allerdings nur dann, wenn das, was die meisten Bürger wollen, auch das ist, was die Oligarchen wollen.[2]  Anders als es das demokratische Ideal der Selbstregierung verlangen würde, richtet sich die Gesetzgebung der Vereinigten Staaten aber keineswegs nach den Interessen, den Meinungen und dem Denken der meisten ihrer Bürgerinnen. In einem technischen Sinne sind die USA also keine Demokratie mehr.

Nun besteht durchaus Anlass zu der Sorge, dass diese Diagnose auch für viele andere vordergründig demokratische Länder gilt. Seit Jahrzehnten schon beklagt man das »Demokratiedefizit« der EU. Die griechischen Parlamentswahlen von 2015 stellen vielleicht das offensichtlichste Beispiel für dieses Defizit dar: Hier wurde eine bestimmte Partei wegen eines bestimmten Wirtschaftsprogramms von einer Mehrheit der Bürgerschaft demokratisch gewählt. Statt dieses Programm allerdings in die Tat umzusetzen, betrieb die neue Partei am Ende jedoch wieder genau dieselbe Sparpolitik, die eine große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger gerade abgewählt hatte. Die Ergebnisse der jüngsten europäischen Wahlen (wie in Italien) und Referenden (etwa des Brexits) bestätigen diesen negativen Trend. Die Bürger fühlen sich von ihren politischen Institutionen im Stich gelassen und nicht mehr repräsentiert. Diese wachsende Unzufriedenheit weist darauf hin, dass es überall höchste Zeit ist, die demokratischen Kontrollmöglichkeiten der Bevölkerung zu stärken. Und es ist ja genau der allgemeine Wunsch, to take back control, der gegenwärtig zu einem solchen Aufschwung des Populismus geführt hat. Die populistischen Angriffe auf die traditionellen Ideale und Institutionen der Demokratie machen aber auch deutlich, warum wir uns im Hinblick auf die Demokratie nicht in Sicherheit wiegen dürfen. Zahlreiche Titel jüngerer Veröffentlichungen – Der Zerfall der Demokratie, Wie Demokratien sterben, Authoritaria13nism in America, So endet die Demokratie[3]  – zeugen von einer Sorge um die Demokratie beziehungsweise um die Gefahr einer demokratischen »Entkonsolidierung«; eine Sorge, die auch unsere bisher tiefsitzende Überzeugung untergräbt, die Demokratie sei eine unhintergehbare Errungenschaft.[4] 

Die zugrundeliegende Befürchtung – der Bürger wie der Wissenschaftlerinnen – ist offenbar, dass das Grundgerüst der Rechte und Chancen auf politische Mitgestaltung, das demokratische Gesellschaften ihren Bürgerinnen gewähren, derzeit an politischer Bedeutung verliert.[5]  Diese Rechte und Chancen scheinen nicht mehr hinreichend zu gewährleisten, dass Bürger auch wirklich die Möglichkeit haben, die Politik, der sie unterworfen sind, mitzugestalten und als ihre eigene zu betrachten. Angesichts der mangelnden Ansprechbarkeit des politischen Systems für seine Bürger können sich diese nicht mehr als gleichberechtigte Partner in einem demokratischen Projekt der Selbstregierung begreifen. Auch wenn sie nach wie vor alle formalen Rechte demokratischer Teilhabe genießen, verlieren diese Rechte doch gerade ihren »fairen Wert« – um einen Ausdruck von John Rawls zu gebrauchen.[6]  Es scheint vor diesem Hintergrund also notwendig zu sein, den fairen Wert der gegenwär14tigen Bürgerrechte und die realen Einflussmöglichkeiten der Bürger auf die Politik zu vergrößern, um Demokratiedefiziten zu begegnen. Damit sich der politische Prozess wieder mehr nach den Interessen, Meinungen und politischen Zielen der Bürgerinnen und Bürger richten kann, sollten demnach institutionelle Reformen deren Möglichkeiten zu einer Beteiligung an Entscheidungsprozessen, die die Politik auch wirklich beeinflussen, möglichst stärken und nicht schwächen.[7] 

Obwohl dies den intuitiven Kernsinn der Klagen über Demokratiedefizite – von Bürgerinnen, politischen Organisationen und Wissenschaftlerinnen – ausmacht, finden genau diese Bedenken in den wichtigsten demokratietheoretischen Debatten keinen ausreichenden Niederschlag. Versucht man nämlich, sich im Feld normativer Demokratietheorien einen Überblick darüber zu verschaffen, wie demokratische Institutionen gestärkt beziehungsweise wie umgekehrt Demokratiedefizite verringert werden könnten, erkennt man schnell, dass schon bei der Frage, was das Ideal der Demokratie eigentlich verlangt, große Uneinigkeit herrscht. Nicht anders verhält es sich im Hinblick auf die daran anknüpfende Frage, welche institutionellen Reformen heutige Gesellschaften dem Ideal der Demokratie näherbrächten. Im Folgenden möchte ich diese Debatte um die Formulierung und Begründung einer partizipatorischen Interpretation deliberativer Demokratie ergänzen.[8]  Erst mit ihrer Hilfe lässt 15sich meines Erachtens das demokratische Potential neuerer institutioneller Reformvorschläge beurteilen, die sich gegenwärtig unter Demokratietheoretikerinnen immer größerer Beliebtheit erfreuen. Ich möchte in diesem Zusammenhang vor allem zeigen, dass einige Vorschläge, die gerne als demokratische Verbesserungen angepriesen werden, die heutigen Demokratiedefizite nicht nur nicht beseitigen, sondern möglicherweise sogar verschärfen würden. Der Weg in eine undemokratische Hölle könnte durchaus mit guten demokratischen Vorsätzen gepflastert sein.

Vorschläge zu einer Reform der bestehenden demokratischen Institutionen werden oft als praktische »Abkürzungen« für die Lösung schwieriger Probleme des demokratischen Regierens verkauft. Dagegen möchte ich deutlich machen, dass derart abkürzende Verfahren, durch die man die öffentliche Deliberation über politische Entscheidungen zu umgehen versucht, unser grundlegendes Festhalten am demokratischen Ideal der Selbstregierung nur noch weiter erschweren würden. Durch solche verkürzten Verfahren würde nämlich noch weniger gewährleistet, dass sich alle Bürgerinnen und Bürger die Institutionen, Gesetze und Regelungen, denen sie unterworfen sind, gleichermaßen zu eigen machen und sich mit ihnen identifizieren können. Dieses Festhalten am demokratischen Ideal ist in pluralistischen Gesellschaften recht mühsam und ein zerbrechliches Gut. Die Versuchung ist somit groß, eine solche Selbstverpflichtung einfach zu »überspringen« und abkürzende Verfahren zu wählen, mit denen politische Entscheidungen aus dem öffentlichen Raum herausgehalten werden können, um Schwierigkeiten wie die Überwindung fundamentaler Meinungsverschiedenheiten, die politische Ignoranz der Bürgerinnen und Bürger oder eine qualitativ schlechte Deliberation im öffentlichen Raum zu umgehen.[9]  Wie ich aber zei16gen möchte, würden die ausschließenden und entfremdenden Konsequenzen jener »Abkürzungen« zu einer Erosion der gegenseitigen Empathie und staatsbürgerlichen Solidarität zwischen den Bürgern führen. Die Demokratie kann allerdings auf diese Ressourcen nicht verzichten. Das demokratische Ideal, sich wechselseitig als Freie und Gleiche zu behandeln, lebt von der Selbstverpflichtung, einander von der Vernünftigkeit allgemein verbindlicher politischer Entscheidungen zu überzeugen, und dieses Ideal verkümmert, wenn wir uns gegenseitig schlicht zu Gehorsam nötigen. Nur wenn sich Bürgerinnen und Bürger wirklich verpflichtet fühlen, einander zu überzeugen, können sie sich mit den Institutionen, Gesetzen und Regelungen, denen sie unterworfen sind, auch weiterhin identifizieren und sie ohne Entfremdung als ihre eigenen begreifen. Der gegenwärtige Aufstieg des Populismus zeigt an, welche Gefahr Demokratien droht, die diese Bedenken kurzerhand in den Wind schlagen. Im Rahmen dieser »Abkürzungsvorschläge« wird außerdem...

Erscheint lt. Verlag 10.5.2021
Übersetzer Michael Adrian, Bettina Engels
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Politische Systeme
Schlagworte Bürgerrechte • Democracy without Shortcuts. A Participatory Conception of Deliberative Democracy deutsch • Fake News • Lebowitz Prize 2022 • Populismus • Selbstregierung
ISBN-10 3-518-76795-X / 351876795X
ISBN-13 978-3-518-76795-5 / 9783518767955
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