Über das Unbehagen im Wohlstand (eBook)
200 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76853-2 (ISBN)
In interdisziplinärer Zusammenarbeit untersuchen Gernot und Rebecca Böhme Quellen des Unbehagens in unserer Lebenswelt. Eigentlich müsste sich im Großen etwas ändern, doch darauf kann der Einzelne nicht warten. Gemeinsam schlagen der Philosoph und die Neurowissenschaftlerin Strategien vor, wie wir Stress und Überforderung entgegenwirken können. Ihr ebenso kritischer wie optimistischer Essay postuliert: »Es gibt doch ein richtiges Leben im Falschen.«
<p>Gernot Böhme, geboren 1937, war Professor em. für Philosophie an der Technischen Universität Darmstadt, Direktor des Instituts für Praxis der Philosophie e. V. und Vorsitzender der Darmstädter Goethe-Gesellschaft. Im Suhrkamp Verlag sind erschienen: <em>Ethik leiblicher Existenz</em> (stw 1880) und <em>Ästhetischer Kapitalismus</em> (es 2705), sowei eine erweiterte Auflage seines Klassikers <em>Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik</em> (es 2664). Gernot Böhme verstarb am 20.01.2022.</p>
Vorwort
Nach Corona? Exit?
Dieses Buch ist eine Kritik des Gegenwartsbewusstseins, die unter dem Titel »Unbehagen im Wohlstand« steht. Es unterstellt, dass dieses Bewusstsein vom Gefühl, im Wohlstand zu leben, fundiert ist, wenngleich es gewissermaßen angekränkelt ist, prekär, besorgt oder sagen wir es mit Hegel: »unglücklich«. Wenn wir es als »Unbehagen« qualifizieren müssen, so wird das erst richtig deutlich, wenn man es mit Goethe'schen Texten, also etwa mit den Gesprächen der Bürger während des Osterspazierganges im Faust oder mit den nachbarlichen Gesprächen in Hermann und Dorothea, vergleicht. Was uns da als bürgerliches Selbstbewusstsein entgegentritt, ist ein sicheres Selbstbewusstsein, die Erfahrung des Wohlstandes als Sicherheit und Situiertheit, als Legitimität eines Wohlstandes, der ererbt und erarbeitet ist und den man nun in Ruhe genießen kann. Nichts von alledem ist vergleichbar mit der psychischen Lage, in der sich unser Wohlstandsbürger, in der wir uns vorfinden: gestresst, besorgt, verunsichert und kein Genuss, der nicht durch schlechtes Gewissen getrübt ist.
Und nun Corona. In einem Zustand, in dem fast alle Selbstverständlichkeiten ausgehebelt sind, würde kaum jemand noch sagen »Uns geht es doch gut«. Nicht nur, dass viele Unternehmen Insolvenz beantragen mussten und viele Menschen arbeitslos geworden sind. Vielmehr sind auch diejenigen, die freigesetzt worden sind durch Streichung aller Termine, durch Kurzarbeit oder Homeoffice in einem Nebel von Ungewissheit gefangen, so dass eine nur einigermaßen sichere Zukunftserwartung, wie sie letztlich zum Gefühl der Behaglichkeit gehört, nicht zu erwarten ist. Gleichwohl ist die Grundierung des Gegenwartsbewusstseins, nämlich, dass wir im Wohlstand leben, nicht verschwunden; und das ist der Entschiedenheit, mit der Bund und Länder als Krisenmanager auftreten, und dem ihnen antwortenden Zutrauen zu verdanken: Der Staat wird's schon richten. Hier hat die Entschiedenheit staatlichen Handelns ein neues Zutrauen zum Staat geschaffen. Zum »Vater Staat«, auf dessen Fürsorge man sich verlassen kann beziehungsweise die man legitimerweise einfordern kann. Zwar haben staatliche Stellen immer wieder darauf hingewiesen, dass wir dank unserer vernünftigen und sparsamen Politik in den letzten Jahren uns die großzügige Hilfe auch leisten könnten. Freilich wird dabei verdeckt, dass viele Maßnahmen der bisherigen radikalen Sparpolitik – schwarze Null – dafür verantwortlich waren, dass ein Behagen im Wohlstand nicht aufkommen konnte, dass die auf Effizienz gerichtete Wohlstands- und Technologiepolitik uns die Lebensumstände als »stählernes Gehäuse« (Max Weber) empfinden ließ.
Und nun steht der Exit an, die schrittweise Rückkehr zur Normalität. Dabei stellt sich die Frage, ob »nach Corona« überhaupt bedeuten kann, dass wir zu Zuständen zurückkehren, die vor Corona normal waren, und vor allem – das ist ja unsere Grundfrage unter dem Stichwort eines »Unbehagens im Wohlstand« –, ob diese Rückkehr überhaupt wünschenswert ist. Die Kritik, die in unserem bisherigen gebrochenen Wohlstandsbewusstsein sich schon anbahnte, muss in einer Zeit, in der sehr viele unserer Lebensgewohnheiten suspendiert sind, explizit werden. Was sagte uns denn das Unbehagen, mit dem wir unsere Situation im Wohlstand wahrnahmen, über dessen Legitimität und Stimmigkeit? Inzwischen haben sich die außerordentlichen Aufwendungen des Staates zur Abwendung oder auch nur Milderung der Folgen der Pandemie zu einer Politik der Wirtschaftsförderung gewandelt. Natürlich muss man den Ministern, die für Wirtschaftspolitik und Finanzpolitik verantwortlich sind, zugestehen, dass sie tun, was ihres Amtes ist. Und wenn unser Wohlstand auf einer gut funktionierenden Wirtschaft und einer stabilen Finanzlage beruht, so ist natürlich auch in diesem Sinne ein Konjunkturprogramm, mit dem Wirtschaft, aber auch Konsum wieder angekurbelt werden sollen, fast selbstverständlich. Nur darf man nicht vergessen, dass diese Wirtschafts- und Finanzpolitik den Maximen des Kapitalismus folgt. Danach ist eine Wirtschaft nur gut, wenn sie wächst, und das Wachstum wird am Bruttoinlandsprodukt gemessen. Die Borniertheit, die in diesem Denken liegt, werden wir später in diesem Buch analysieren. Hier muss nur festgehalten werden, dass »Rückkehr zur Normalität« nicht verstanden wird als Rückkehr zu einem stabilen Zustand, sondern als Wiederanknüpfen an eine dynamische Entwicklung, die »Wachstum« hieß. Es soll ja keineswegs bloß das Niveau des bisherigen Bruttoinlandsproduktes wieder erreicht werden, sondern eine vorübergehende Krise durch ein verschärftes Wachstum in den nächsten Jahren ausgeglichen werden. Da Deutschland eine Exportnation ist, heißt das ferner, dass die staatliche Konjunkturpolitik darauf zielt, für Deutschland wieder eine »Spitzenstellung« im internationalen Konkurrenzkampf zu erreichen. Das heißt aber, dass die staatlichen Maßnahmen zur Förderung von Wirtschaft und Konsum, die allerdings für die Reparatur der Schäden, durch die unser Wohlstand zurückgegangen war, nötig sind, darüber hinaus jedoch als »Normalität« zugleich auf die Wiederherstellung von Strukturen abzielen, die dafür verantwortlich sind, dass der Wohlstand eben mit Unbehagen wahrgenommen wurde.
Und überhaupt: Was heißt »Exit«? Dieser Ausdruck, der als politisches Schlagwort in unbedachter Weise dem Ausdruck »Brexit« (für den Ausstieg Großbritanniens aus der Europäischen Union) nachgebildet wurde, unterstellt, dass irgendwann einmal – oder gar bald – mit der Corona-Zeit Schluss ist, so wie man einen Raum verlässt und die Tür hinter sich zuschlägt. Vor allem aber implizierte diese Perspektive auf ein definitives baldiges Ende der Pandemie eine tiefliegende – sogar auf die Bibel gestützte – Illusion, nämlich, dass man die Natur beherrschen könne. Im Zusammenhang von Krankheit und Gesundheit implizierte diese Illusion die Hoffnung auf »Ausrottung« bestimmter Erreger oder gar die Abschaffung von Krankheit überhaupt. Dabei fällt die Erfahrung unter den Tisch, dass auch große Erfolge in der Krankheitsbekämpfung – nehmen wir als Beispiel die Tuberkulose (TBC) oder die Malaria – nicht durchschlagend waren: Im Falle von TBC und ihrer Bekämpfung durch Antibiotika führte gerade der Erfolg der Bekämpfung zur Entstehung resistenter Bakterienstämme. Im Falle von Malaria, dass einerseits gerade das wirksamste Mittel gegen die Malaria übertragenden Mücken, nämlich DDT, wegen seiner verheerenden Nebenwirkungen verboten werden musste und dass andererseits die Erreichbarkeit von betroffenen Bevölkerungsschichten beschränkt war und ist. Für den Kenner: Beides sind typische Beispiele für die Dialektik der Aufklärung.
Ferner wurde der Bevölkerung suggeriert, dass durch Erreichung von Herdenimmunität – nämlich, dass dann, wenn zwei Drittel der Bevölkerung eine Covid-19-Erkrankung hinter sich haben (und das würde für Deutschland bedeuten, mindestens fünfzig Millionen Personen) – die Verbreitung der Erkrankung zum Stillstand kommen werde. Das stimmt zwar, bedeutet aber nur, dass sie von diesem Zeitpunkt an von selbst nicht mehr exponentiell wachsen werde – aber das heißt umgekehrt gerade: endemisch geworden ist, also schlicht zum Alltagsrisiko gehören wird. Dieser Zustand – also mit einer Reproduktionsrate von 1 (auf jeden Geheilten kommt nur eine Neuansteckung) – kann, wie wir gesehen haben, durch massive Schutzmaßnahmen »simuliert« werden, die aber so aufwändig und vor allem kostspielig sind, dass sie nicht auf Dauer durchgehalten werden können. So oder so: Wir müssen lernen, mit Corona zu leben.
Doch wenn die massiven Restriktionen für Wirtschaft, Verkehr und Konsum, also die Maßnahmen, die man unter dem Schlagwort »Shutdown« zusammenfasst, nicht durchgehalten werden können, so gewinnen die Vorschriften für das individuelle Verhalten aller Bevölkerungsteile, also strikte Hygiene, körperlicher Abstand und Schutzmasken, den Charakter von bürgerlichem Wohlverhalten – mit unabsehbaren Folgen für den psychosozialen Bereich.
Was heißt unter diesen Perspektiven »Rückkehr zu Normalität«? Viele sprechen heute unter den genannten Perspektiven vorsichtshalber von einer neuen Normalität, und das heißt genau genommen, dass es eben keine Rückkehr ist. Vielmehr würde sogar der Begriff »Normalität« seinen Sinn verändern: Er wird nicht einfach das durchschnittlich Erwartbare...
Erscheint lt. Verlag | 10.5.2021 |
---|---|
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Achtsamkeit • Bestseller • Bestseller bücher • Bestsellerliste • buch bestseller • Burnout • Christina Berndt • edition suhrkamp 2767 • ES 2767 • ES2767 • Hartmut Rosa • Kapitalismus • Resilienz • Sachbuch-Bestenliste • Sachbuch-Bestseller-Liste |
ISBN-10 | 3-518-76853-0 / 3518768530 |
ISBN-13 | 978-3-518-76853-2 / 9783518768532 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 1,5 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich