Iran - die Freiheit ist weiblich (eBook)
320 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00973-8 (ISBN)
Golineh Atai, geboren 1974 in Teheran, war von 2006 bis 2008 für die ARD als Korrespondentin in Kairo und von 2013 bis 2018 Korrespondentin in Moskau, danach arbeitete sie für den WDR in Köln. Seit 2022 leitet sie das ZDF-Studio in Kairo. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. als «Journalistin des Jahres 2014», mit dem Peter-Scholl-Latour-Preis sowie dem Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis. Ihr Buch «Die Wahrheit ist der Feind. Warum Russland so anders ist» (2019) war ein Bestseller. 2021 erschien ihr Buch «Iran - die Freiheit ist weiblich».
Golineh Atai, geboren 1974 in Teheran, war von 2006 bis 2008 für die ARD als Korrespondentin in Kairo und von 2013 bis 2018 Korrespondentin in Moskau, danach arbeitete sie für den WDR in Köln. Seit 2022 leitet sie das ZDF-Studio in Kairo. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. als «Journalistin des Jahres 2014», mit dem Peter-Scholl-Latour-Preis sowie dem Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis. Ihr Buch «Die Wahrheit ist der Feind. Warum Russland so anders ist» (2019) war ein Bestseller. 2021 erschien ihr Buch «Iran - die Freiheit ist weiblich».
1. Die Tochter des Mullahs
Sie erinnert sich genau daran. An diese Sehnsucht, ihr Leben zu verlassen und eines dieser Mädchen zu sein. Als sie 1971 ins Kuhsangi-Viertel zogen, wo die Familie damals noch bei der Großtante lebte, ging Fatemeh Sepehri immer heimlich an die Tür. Der allmorgendliche Weg der Schulmädchen führte am Haus vorbei. Fatemeh wollte sie sehen. Ihre blauen Uniformen, ihre blütenweißen Krägen, ihre verzierten Haarreifen. Mittags kamen sie zurück, und Fatemeh schlich sich wieder an die Tür. Sie musste aufpassen, nicht dabei erwischt zu werden, wie sie den Schülerinnen nachschaute – und träumte. Als sie mir diese Erinnerung erzählt, stützt sie die Ellenbogen auf den Tisch, hält ihr Gesicht mit beiden Händen, macht eine kurze Pause, und ihr Blick schweift wehmütig ins Weite.
«Vor der Revolution durfte ich das Haus nicht verlassen», erzählt sie. Damals kamen die Aktivisten der staatlichen Alphabetisierungskampagne immer wieder vorbei – im ganzen Land waren sie unterwegs – und drängten ihren Vater, das Mädchen in die Schule zu bringen, ins Internat sogar. Vergeblich. Der Vater, ein angehender Mullah, wollte nicht, dass sie hinausgeht – und dabei, Gott behüte, vielleicht sogar ihren Tschador, den Ganzkörperschleier, ablegt. Wenn Fatemeh Sepehri die Außenwelt betrat, dann nur, um zum nahegelegenen heiligen Imam-Reza-Schrein zu gehen. Nicht in den Park. Schon gar nicht ins Kino. Der einzige Ausflug waren die gelegentlichen Besuche der Familie im Dorf, in dem Fatemeh geboren wurde, unweit von Maschhad. «Unser Tschador musste immer ganz weit vorne sein und das halbe Gesicht bedecken», erinnert sie sich und lacht laut auf: «Nicht wie jetzt, jetzt ist er ja total weit hinten.» Ich lache mit. Bis sie sagt: «Ich möchte, dass der Oberste Führer, Ajatollah Seyyed Ali Chamenei, zurücktritt. Samt seinen Wahlurnen, seinen Richtern, seinen Präsidenten, seinen Parlamentsabgeordneten. Ich will, dass die Islamische Republik gründlich weggefegt wird. Ich verlange, dass der Iran eine säkulare Demokratie wird. Ein Staat, der die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte endlich achtet.»
Ausgerechnet die Tochter eines Geistlichen. Ausgerechnet die Frau eines Märtyrers. Ausgerechnet im heiligen Maschhad ist Fatemeh Sepehri aufgewachsen, in der Pilgerstadt im Nordosten des Landes, in der spirituellen Kapitale der Islamischen Republik, diesem Stück «Himmel auf Erden». Ausgerechnet dort, wo Religion, Ökonomie und Staatsgewalt miteinander verschmelzen, wo Märtyrerverehrung sinnbildlich für die gegenwärtige Ordnung steht, stellt eine gläubige Frau und praktizierende Muslimin alles in Frage. Maschhad, das bedeutet wörtlich: die Stätte des Märtyrertums. Der Platz, an dem der achte Imam der Zwölferschiiten begraben liegt, der einzige Imam auf iranischem Boden – vor tausendzweihundert Jahren angeblich vom Kalifenherrscher mit Weintrauben vergiftet, ermordet wie fast alle schiitischen Führer, die stellvertretend für die Menschen litten. Die zwölf Imame, das sind Ali, der Schwiegersohn des Propheten Mohammed, und eine bestimmte Reihe seiner Nachkommen. Sie sind im schiitischen Verständnis von Gott zur politischen Herrschaft über die islamische Gemeinde auserwählt. Die Imame stehen dem schiitischen Menschen näher als Gott selbst; als göttliche sündlose Lichtwesen sind sie Mittler Gottes und Adressat der Rituale. Mit einer Wallfahrt und einem – zumindest symbolischen – Märtyrertod können die Schiiten ihre Schuld bei ihren religiös-politischen Oberhäuptern begleichen.
Der Wallfahrtsort in Maschhad ist der größte Schreinkomplex der Welt – größer noch als Mekka, größer als der Vatikan. Er gleicht einem funkelnden Lichterschloss. Neun Höfe, achtundzwanzig Hallen, Bibliotheken, Museen. Monumentale Kuppeln mit hellblau glasierten oder goldenen Ziegeln – im Innern wie prächtige Audienzzelte, die den Himmel zeigen sollen. Das Auge kann sich nicht sattsehen an den riesigen Kronleuchtern, an den Tausenden funkelnder, zu Mosaiken geschliffener Spiegelsteine, an den zu Teppichmustern zusammengefügten Wandkacheln, an den Blumen- und Schriftornamenten, am grün-roten Marmorboden mit den fein geknüpften Persern und schließlich an der mit Gold beschlagenen Grabkammer – alles wirkt betäubend schön und schwer.
Unter dieser Stätte der Trance wurde ein Autobahnring gezogen. Maschhad, das ist die zweitgrößte Stadt des Landes. Die Bevölkerung hat sich in den letzten vierzig Jahren auf über drei Millionen verdreifacht und wächst und wächst. Mit zwanzig Millionen Besuchern jährlich ist der Bauboom in der Stadt ein Dauerzustand. «Wer kommt, will zum Schrein, wer bleibt, will Geschäfte machen», erklärt mir ein Einheimischer aus der Familie der Schreinwächter und Schreindiener – jene dreihundert Männer, denen die Reinigung und Verwaltung des Schreins obliegt und deren Dienst vererbt wird. Je höher ihr Rang, umso näher am Heiligengrab ihre letzte Ruhestätte. Maschhad ist ein Knotenpunkt, dessen Wirtschaft in die ganze Region ausstrahlt, ja weit darüber hinaus. Nicht dass man in diesem Land besonders sauber sein Brot verdienen könne: «Der Basar um den Schrein herum wurde schon vor der Revolution ‹Basar der Diebe› genannt – wegen seiner überteuerten Souvenirs und Waren», lächelt der Mann. Geschäfte in Maschhad, das bedeutet Business mit Touristen, Landwirtschaft und Lebensmittel, Industrie und Bergbau. Was in Teheran fünf Sterne sind, sind in Maschhad nur vier: Nirgends hat das Land so prächtige Hotels, mit Säulen, Palmen, üppigen Interieurs. Die Pilger wollen angenehm wohnen, im Überfluss speisen. Überhaupt: Das Irdische ist offenbar die Hälfte des Reisegenusses, für ein berühmtes Lammspieß-Restaurant fliegen Teheraner sogar mal eben nach Maschhad.
Und die Einheimischen? Lange dachte ich, sie seien besonders fromm, besonders systemverbunden, besonders streng. «Also erstens: Die Iraner insgesamt sind im Vergleich zu früher weniger religiös, sogar weniger gottesgläubig. Das Schiitentum ist für das Land von enormer Bedeutung – aber innerlich? Kaum. Erst recht gilt das für die jüngere Generation», erklärt der Mann aus der Familie der Schreinwächter. «Weil sie aus der Nähe vieles selbst erfahren kann, hat die jüngere Generation einen wahrhaftigeren Blick auf die Dinge hier. Deswegen kann man genau beobachten, wie sich ein freier, säkularer Teil der Gesellschaft abspaltet, der eben nicht die Überzeugungen und Riten der Vorfahren teilt und einen immer größeren Raum einnimmt. Außerdem: Die Aufpasser und Sittenwächter hier kommen nicht aus dem Volk; in Maschhad trifft man weniger die typischen Männer in Zivil mit Knüppeln in der Hand – die öffentliche Moral obliegt hier mehr den offiziellen Sicherheitsorganen. Natürlich, Konzerte und Musik sind in der Stadt schon vor der Revolution nicht Sitte gewesen» – aber offenbar doch all jenes, das die Wallfahrt zum irdischen Vergnügen macht, denke ich mir. Und erinnere mich an die Iranerinnen, die mit Pilgern aus dem Irak und Pakistan ein paar Stunden die Ehe eingehen: die moderne und durch schiitische Rechtskniffe sanktionierte Form der Prostitution, die so verbreitet ist, dass Nutzer sozialer Medien Maschhad prompt zum schiitischen Thailand umbenannten. Und ein weiterer Gedanke: Wären die Maschhadis besonders gehorsam und staatstreu, wären sie wohl 2017 nicht auf die Straße gegangen, um gegen Armut und Ungleichheit zu protestieren.
Die Familie des Obersten Führers stammt zwar aus dem iranischen Aserbaidschan. Doch Ajatollah Ali Chamenei selbst ist in Maschhad geboren, und wer das System der tausend Familien in der Stadt kennt, der weiß, wie die Macht im Land funktioniert, wenn aus dem Maschhader Beziehungsgeflecht die obersten Führungsreihen besetzt werden. Wer dem Führer loyal ergeben ist und ihm effizient dient, steigt auf, so wie der in Maschhad geborene Ebrahim Raissi, der 2021 von Chamenei zum Präsidenten ausgesucht und gewählt wurde. Wer aus der Familie ausschert – wie Chameneis Schwager Scheich Ali Teherani, der mit Frau und Kind in den Irak zog und von dort gegen das Regime agitierte –, der kann Gnade erfahren, wenn er bereut. Allerdings wird sie nicht allen Geistlichen und ihren Nachkommen zuteil. Chameneis Schwager lebt nun – nach einem Gefängnisaufenthalt – unbehelligt in Teheran.
Maschhad ist Macht. Maschhad ist eine Trumpfkarte des Regimes. Maschhad ist Pietät und Profit. Hier treffen sich das Materielle und das Spirituelle. Die Schia-Geistlichkeit verfügt seit Jahrhunderten über enormen Reichtum, aber noch nie war sie so reich wie jetzt – durch die Verwaltung des Grabmals und den Besitz der Stiftung Astane Qods Razavi, die den Schrein betreut. Wer dem achten Imam seine irdischen Güter überlässt, kann sich himmlischen Segens gewiss sein – im Jenseits, aber auch schon im Diesseits. Eine solche Schenkung – eine Investition des Gläubigen ins Nachleben – trifft sich mit dem Interesse des göttlichen Statthalters im Hier und Jetzt. Im Jahr 42 nach der iranischen Revolution heißt dieser Vertreter Gottes auf Erden Ali Chamenei. Es ist mittlerweile Chameneis Stiftung geworden, erfahre ich aus Maschhad, seitdem dieser einen ihm hörigen Verwalter eingesetzt habe. Die Stiftung Astane Qods Razavi ist der Schlüsselplayer in Maschhads Wirtschaft. Spötter sprechen von einer heiligen Geldmaschine, hat sie doch ein mehrere Milliarden Dollar schweres Budget. Sie sammelt Bargeld, Land, Immobilien, Schmuck und Kunst, Aktien und Firmen. Die Megastiftung ist im Grunde ein Konglomerat aus...
Erscheint lt. Verlag | 16.11.2021 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Ajatollah Ali Chamenei • Ajatollah Chomeini • Ausschreitungen • ayatolla khomeini • Demokratie • Ebrahim Raisi • Emanzipation • Exil • Frauen • Freiheit • Grimme Preis • Iran • Islam • Kopftuch • Länderporträt • Mahsa Amini • Masih Alinejad • Mullahs • Politik • Polizei • Protest • Religion • Revolution • Revolutionsführer • Revolutionsgarde • Schah • Sittenpolizei • Theokratie • Unruhen • Unterdrückung |
ISBN-10 | 3-644-00973-2 / 3644009732 |
ISBN-13 | 978-3-644-00973-8 / 9783644009738 |
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