Krise der Wahrheit (eBook)

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
256 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491349-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Krise der Wahrheit -  Peter Trawny
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Was ist wahr, was falsch? Aus philosophischer Sicht erklärt Peter Trawny die gegenwärtige Krise der Wahrheit. Es tobt eine Riesenschlacht um die Wahrheit: Fake News, Alternative Fakten, Verschwörungstheorien, Lügenpresse, Great Reset, Geschichtsklitterung, postfaktisches Zeitalter - die Situation ist unübersichtlich. Gibt es einen gefährlichen Anschlag auf die Wirklichkeit, eine Krise der Wahrheit? Peter Trawny meint: Nein! Was wir heute erleben, ist nichts anderes als das, was Wahrheit von Anfang an ist: eine Krise. Denn was ist eine Krise? Eine Entscheidung auf Leben oder Tod. Und genau das ist die Wahrheit: eine Macht, die unser Leben in vielen Bereichen bestimmt. Folglich durchdenkt Trawny die Rolle der Wahrheit auf den Feldern Medien, Politik, Öffentlichkeit, Kunst, Geschlecht. Denn es geht nicht ohne Wahrheit: Wir sind Wahrheitswesen durch und durch, unser Leben steht und fällt im Licht und im Schatten der Wahrheit. Mit ihr entscheidet sich, was ich denke und wer ich bin.

Peter Trawny, geboren 1964, studierte Philosophie in Bochum und promovierte anschließend an der Universität Wuppertal über Martin Heidegger. Nach der Habilitation lehrte er an verschiedenen Universitäten im In- und Ausland und gründete 2012 das Martin-Heidegger-Institut an der Bergischen Universität in Wuppertal, dessen Leitung er seitdem innehat. Neben verschiedenen Publikationen zu Heidegger schrieb Peter Trawny Bücher u.a. zu den Themen Intimität, Pop, Deutschsein und Revolution.

Peter Trawny, geboren 1964, studierte Philosophie in Bochum und promovierte anschließend an der Universität Wuppertal über Martin Heidegger. Nach der Habilitation lehrte er an verschiedenen Universitäten im In- und Ausland und gründete 2012 das Martin-Heidegger-Institut an der Bergischen Universität in Wuppertal, dessen Leitung er seitdem innehat. Neben verschiedenen Publikationen zu Heidegger schrieb Peter Trawny Bücher u.a. zu den Themen Intimität, Pop, Deutschsein und Revolution.

ein tiefgreifend perspektivischer, vielstimmiger und hellsichtiger philosophischer Text, der im besten Sinne archäologisch um „Wahrheit“ ringt

Vorwort


Es tobt eine Riesenschlacht um die Wahrheit: Fake News, alternative Fakten, Verschwörungstheorien, Lügenpresse, The Great Reset, Corona-Diktatur, postfaktisches Zeitalter – die Öffentlichkeit wird erschüttert von Schlagworten und Diskussionen um alles oder nichts. Die Situation ist unübersichtlich. Es droht ein allgemeiner Orientierungsverlust. Alles weist darauf hin, dass es einen gefährlichen Anschlag auf die Wirklichkeit gibt, eine Krise der Wahrheit.

Diese Erscheinungen beschäftigen uns seit geraumer Zeit. Sie sind nicht zu übersehen, drängen sich auf, stecken uns an. Was – wie groteske Geschichten von einer geheimen internationalen Verschwörung – vor ein paar Jahren noch als unmöglich oder überwunden galt, bricht wie ein beinahe vergessenes Virus aus unsichtbaren Informationskanälen wieder hervor und vergiftet die Gesellschaft. Man kämpft dagegen an; der Streit um die Deutungshoheit der Wahrheit ist unvermeidbar.

Einsätze der Riesenschlacht liegen auf der Hand: Wie ist die Klimakrise zu bewältigen, wenn der Status wissenschaftlicher Resultate bezweifelt wird? Wie kann ein global wirkendes Virus eingedämmt werden? »Kann man den Klimaforschern glauben?« und »Sagen uns die Virologen die Wahrheit?« sind eigentlich unmögliche Fragen – jedenfalls solche, die vom tatsächlichen Problem ablenken. Der Naturwissenschaft liegen Regeln zugrunde, die alle kennen können und wenig Anlass zu Misstrauen bieten. Die Frage wäre also, warum man diese Regeln zu ignorieren versucht.

Was wahr ist und was falsch, scheint sich also nicht in Erkenntnissen und Argumenten zu bezeugen, sondern in Interessenskämpfen ausgefochten zu werden. Aus der Geschichte ist bekannt, dass die Sieger die Wahrheit festschreiben; heute haben nicht wenige den Eindruck, mächtige Institutionen steuerten, was als wahr und wirklich zu gelten habe. Die moderne Gesellschaft, ein Darknet unsichtbarer Machenschaften? Die wichtigen Dinge geschehen hinterrücks?

Eine dieser scheinbar unpersönlichen Institutionen sind die Massenmedien, zu denen auch die sozialen Medien gehören. Niemals in der Geschichte der Menschheit verfügte eine wirklichkeitsbildende Institution über so viel Macht und Einfluss wie sie. Die Medien sind der Raum, in dem die Riesenschlacht beinahe ausschließlich stattfindet. Diese Öffentlichkeit spielt für unser Verständnis von Wahrheit und Wirklichkeit eine große Rolle. Kein Leben mehr ohne Medien. Sie sind die eigentlichen Lebensmittel: Es leuchtet kaum noch ein, sie nicht konsumieren zu wollen.[1]

Darum kann eine drastische Verwirrung unseres öffentlichen Verhältnisses zu Wahrheit und Wirklichkeit tiefe Einschnitte und Umbrüche in unserer funktionstüchtigen Gesellschaft hinterlassen. Was wahr ist und wirklich, was tatsächlich existiert, und was unwahr und unwirklich, was es nur scheinbar gibt – diese Unterscheidung gehört zur conditio humana, zur grundlegenden Ausrichtung unseres Daseins. Doch so klar, wie der Unterschied von wahr und falsch in der Theorie auch sein mag, so vieldeutig wird er in der Praxis.

An der Schnittstelle zu den Medien kann man nämlich fragen, ob wir überhaupt eine Öffentlichkeit wollen, in der nichts als die Wahrheit herrscht: Wollen wir eine Wahrheits-Gesellschaft? Oder müssen wir nicht anders fragen, wie viel Wahrheit eine Gesellschaft zu ertragen vermag? Wollen wir wissen, wie die moderne Gesellschaft in Wirklichkeit funktioniert, welche sozialen Unterschiede sie produziert und als gerechtfertigt gelten lässt? Wollen wir verstehen, wie die Medien in diesem gnadenlosen Spiel mitspielen? Vielleicht lebt die Gesellschaft mehr von Unwahrheit als von Wahrheit.

Damit hängt eine weitere Frage zusammen: Wie wäre es, wenn Politikerinnen demnächst tatsächlich anfangen würden, im Namen der Wahrheit zu sprechen und zu entscheiden? Wenn sich die Parteien auflösten und eine Wahrheits-Regierung an die Macht käme? Wie sähe eine Politik der Wahrheit aus? Die Antwort liegt nahe – bereits im 19. und 20. Jahrhundert haben totalitäre Herrschaftssysteme im Namen der Wahrheit operiert. Eine Politik der Wahrheit könnte auf ein Terrorregime hinauslaufen. Ist darum etwa eine menschliche Politik keine der Wahrheit? Womöglich nicht. Aber was ist sie dann?

Neben diesen Wahrheits-Fragen, die unser Leben in der Öffentlichkeit betreffen, gibt es auch solche, die einzig und allein uns selbst beschäftigen. Sie beunruhigen uns in unserer Intimität. Deshalb können sie nicht im Kontext von Erkenntnissen und Argumenten diskutiert werden. Denn unser Selbstverhältnis bewegt sich nicht selten außerhalb dieser Formen des Intellekts. Was ich brauche, wen ich begehre, was ich liebe – all das entzieht sich den politischen und moralischen Kriterien, die die Öffentlichkeit beherrschen. Und wenn irgendwo, dann beginnt dort die religiöse Wahrheit. Diese stellt sich in Kunstwerken oder in Dichtungen dar.

Überhaupt spielt die Wahrheit auch für die Kunst eine große Rolle – und zwar in mehrfacher Hinsicht. Einmal ist es offenbar wichtig, dass Kunstwerke echt sind, dass sie tatsächlich von dem Künstler stammen, der sie signiert hat. Dann wollen wir die Kunst als eine Möglichkeit betrachten, uns von Tatsachen eines harten und hässlichen Lebens im Kampf ums Dasein abzulenken. Manche meinen sogar, dass Kunstwerke die Wahrheit auf einzigartige Weise verkörpern. Zeigt nicht Picassos Guernica die Schrecken des Krieges besser als jede historische Abhandlung?

Schließlich gehört auch die Frage nach dem eigenen Geschlecht zur Riesenschlacht. Wie erscheine ich mir und den anderen mit meinem Körper? Fasse ich den Mut, aus der biologisch fixierten Binarität des biologischen Geschlechtes (sexus) auszubrechen und mein eigentliches Geschlecht (gender) anders zu bestimmen? Fühle ich mich bewogen, mein biologisches Geschlecht mittels eines operativen Eingriffs zu ändern? Sehe ich mich mit meinem Körper sexistischen und rassistischen Diffamierungen ausgesetzt? Identitätspolitische Entscheidungen spielen eine immer größere Rolle; die Denk- und Lebensfigur der Identität aber hat mit der Wahrheit zu tun.

*

Massenmedien summen wie Bienenkörbe, eine aufgeregte Debatte jagt die andere. Es sieht so aus, als würde unsere Zeit alle Anzeichen einer Krise der Wahrheit aufweisen. Aber wann wäre die Wahrheit jemals keine Frage gewesen? Wann war jemals selbstverständlich, was wahr und falsch, was wirklich und unwirklich ist? Haben nicht Menschen zu allen Zeiten nicht nur Wahrheiten, sondern auch die Wahrheit problematisiert, stand nicht die Wahrheit mit ihren Wahrheiten immer zur Entscheidung?

Tatsächlich – was wir heute erleben, ist nichts anderes als das, was Wahrheit von Anfang an ist: eine Krise. Und was ist eine Krise? Gemäß der Herkunft des Wortes aus der Medizin: eine Entscheidung auf Leben oder Tod. Genau das aber ist die Wahrheit: eine Macht, die unser Leben in virulenten Bereichen bestimmt. Wahrheit ist lebens- und todeswichtig. Es ist unmöglich, ohne Wahrheit und den mit ihr verbundenen, zum Teil auch ganz alltäglichen Fragen zu existieren. Wie will ich mich hier und jetzt verhalten? Wohin möchte ich verreisen? Begehre ich Dich? – alles Fragen, die uns sozusagen die Wahrheit stellt. Dann aber ist sie niemals nur eine theoretische oder logische Frage. Das ist sie auch – aber in ihrer Vieldeutigkeit unermesslich viel mehr: Mit ihr entscheidet sich, was ich denke, wie ich lebe und wer ich bin.

Dann ist die Krise der Wahrheit die Wahrheit der Krise. Diese Denkfigur – ist es nur eine Denkfigur? – durchdringt sich wechselseitig und ergibt einen Kreis, aus dem es für uns keinen Ausweg gibt. Wir sind Wahrheitswesen durch und durch, unser Leben steht und fällt im Licht und im Schatten der Wahrheit. Sie ist Grund und Anlass dafür, dass wir philosophieren: Die Wahrheit fordert uns heraus, über sie nachzudenken. Die Notwendigkeit, das, was uns begegnet, zu bejahen oder zu verneinen, es zu begehren oder zu verabscheuen, ist ohne Wahrheit nicht zu verstehen. Sie bringt uns dazu, diese Unterscheidungen zu machen, sie zu leben.[2]

So wie die Wahrheit kritisch ist, sind wir ihre Kritiker, ihre Verneiner und Bejaher. Wer sich mit der Geschichte der Philosophie beschäftigt, sie vielleicht studiert, der oder die wird schnell merken, dass über die Wahrheit selbst, über ihr Wesen oder ihren Charakter, keine Übereinstimmung herrscht. Die Riesenschlacht um die Wahrheit – sie wogt selbst noch zwischen Philosophen und Philosophinnen hin und her. Das liegt offenbar daran, dass die Wahrheit kein bloß zu beschreibender Gegenstand ist. Was Wahrheit ist, entscheidet sich mit uns.

Wahrheits-Krise – Zeit und Ort meines Lebens, an denen sich erst zeigt, was Wahrheit ist und wer ich bin. Ein Ereignis, das demnach die Quelle dieses Buches sein muss. Dies ist ein Zeugnis, ein Dokument, dem ich nicht entkommen kann. Selbst wenn ich mich hinter Texten und Gedanken bedeutender Männer und Frauen verstecken würde, der Autor dieses Buches wäre immer noch ich. Und wenn ich mich verleugnen würde und in der Maske des Entertainers erschiene, Leser und Leserinnen würden es bemerken und ihre Schlüsse ziehen. Seltsam, diese Wahrheit, sie ist wie der Igel, der sagt: »Ick bün all hier.«

Dann kommen wir, was die Wahrheit betrifft, immer zu spät? Sicher. Die Philosophie als ein Nachdenken über die Wahrheit ist ein Nachtrag: »Wir leben, ehe wir philosophieren, wir existieren, ehe wir es wissen.«[3]...

Erscheint lt. Verlag 8.9.2021
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte alternative Fakten • Corona • Fake News • Friedrich Nietzsche • Gender • great reset • Identität • Immanuel Kant • Impfung • Lüge • Massenmedien • Medien • Moral • Philosophie • Philosophiegeschichte • Platon • postfaktisches Zeitalter • Qanon • Querdenker • Race • Soziale Medien • Verschwörungstheorie • Wahrheit • Wirklichkeit
ISBN-10 3-10-491349-8 / 3104913498
ISBN-13 978-3-10-491349-0 / 9783104913490
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