10 Lessons of my Life (eBook)
220 Seiten
Berlin Verlag
978-3-8270-8036-3 (ISBN)
Kent Nagano, 1951 in Berkeley geboren, wuchs in Morro Bay auf, einem Fischerdorf an der kalifornischen Küste. Er studierte Musik und Soziologie. Nach ersten Erfolgen in den USA wurde er 1988 als Generalmusikdirektor an die Opéra National de Lyon berufen, wo er bis 1998 tätig war. Von 1991 bis 2000 war er Chefdirigent des Hallé Orchestra in Manchester und wurde 2003 zum Ersten Musikdirektor der Los Angeles Opera ernannt. Von 2000 bis 2006 war er Chefdirigent und Künstlerischer Leiter des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin, bevor er 2006 Generalmusikdirektor an der Bayerischen Staatsoper München (bis 2013) sowie Chefdirigent des Orchestre symphonique de Montréal wurde (bis 2020). Seit 2015 ist er Generalmusikdirektor und Chefdirigent der Hamburgischen Staatsoper und des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg. 2014 erschien im Berlin Verlag sein Longseller Erwarten Sie Wunder! Expect the Unexpected (mit Inge Kloepfer), der in mehrere Sprachen übersetzt und von Inge Kloepfer verfilmt wurde. 2021 folgte das Buch 10 Lessons of my Life. Was wirklich zählt.
Kent Nagano, geboren in den USA, wuchs in Morro Bay, einem Fischerdorf an der kalifornischen Küste, auf – ohne Fernsehen, Kino und Stereoanlage, dafür mit Klavier und Klarinette. Er studierte Musik und Soziologie. Nach ersten Erfolgen in den USA wurde er 1988 als Music Director an die Opéra National de Lyon berufen, wo er bis 1998 tätig war. Von 1991 bis 2000 war er Music Director des Hallé Orchestra in Manchester und wurde 2003 zum Ersten Musikdirektor der Los Angeles Opera ernannt. Von 2000 bis 2006 war er Chefdirigent und Künstlerischer Leiter des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin, bevor er 2006 Generalmusikdirektor an der Bayerischen Staatsoper München (bis Juli 2013) sowie Music Director des Orchestre Symphonique de Montréal wurde. Im September 2015 beginnt seine Amtszeit als Generalmusikdirektor und Chefdirigent der Hamburgischen Staatsoper.
1. Lektion: Sarah Caldwell
Wie ich lernte, dass Demut schmerzhaft ist
Lerne so viel, wie du kannst,
zu jeder Zeit
und von wem auch immer.
Es wird die Zeit kommen,
dass du dafür dankbar bist.
Sarah Caldwell
Music’s Wonder Woman stand in kursiven weißen Lettern unter dem Cover-Foto des Time Magazine vom 10. November 1975. Darüber prangte das Porträt einer Dame, die man getrost als übergewichtig bezeichnen durfte. Pausbacken, ein faszinierendes Doppelkinn, das – einem breiten Fleischring gleich – das Gesicht umrahmte, kinnlange dunkle Haare, seitlich gescheitelt, an den Enden leicht gelockt. Eine randlose Brille thronte auf der Nase, die für das zumindest in der unteren Hälfte nahezu kreisrunde Gesicht viel zu fein geraten war. Und dann ihre Augen, braune Augen, die in die Ferne blickten, derart unbeirrt und fokussiert, als hätte sie hinter dem Horizont etwas entdeckt, das es im nächsten Moment einzufangen gelte. Links außen, am Bildrand des Cover-Fotos, klein und unauffällig, stand ihr Name geschrieben, so als könnten die Blattmacher des altehrwürdigen Magazins es selbst nicht glauben, dass sie eine Protagonistin aus der Welt der klassischen Musik auf den Titel gehoben hatten: Sarah Caldwell.
Sie hatte es also geschafft, auf die Front-Page des wichtigsten Magazins in den USA, und war damit so weit gekommen, wie so viele – nicht nur aus der Welt der klassischen Musik – vor und nach ihr gern gekommen wären. Und das in einer Zeit, da die Musik wenig Frauen kannte oder anerkannte, von berühmten Operndiven, auf die man nun in dieser Kunstform nicht verzichten konnte, einmal abgesehen. Frauen hatten seinerzeit in der Musik nicht allzu viel zu sagen. Schon gar nicht am Pult oder andernorts an führender Stelle. Da war Sarah Caldwell eine absolute Ausnahme. Und darüber funktionierte ihre Akzeptanz. Sie war gerade keine Operndiva, sondern Dirigentin, Gründerin ihrer eigenen Opern-Company, deren Management sie persönlich übernahm. Sie war alles in einem und dabei eine Naturgewalt herkulischen Ausmaßes, die weit mehr stemmte und für mehr Furore sorgte als viele andere seinerzeit bewunderte Stars in der Musikwelt. Sie war zweifelsohne ein Unikum.
Es war ein Jahr, nachdem ihr Konterfei den Titel des Time Magazine zierte, dass ich versuchte, mir meine ersten Meriten in der Musikwelt zu verdienen. Ich war von der West- an die Ostküste gezogen und hatte an der Opera Company of Boston angeheuert. Im Alter von 25 Jahren stand ich also in den Diensten dieser Wonder Woman, die mir eine der lehrreichsten und aufregendsten Zeiten meines noch jungen Musikerlebens bescherte. Bei und von Sarah Caldwell habe ich viel gelernt. Wie viel, wird einem meistens im Rückblick klar. Doch bevor ich davon berichte, will ich ein wenig ausholen und etwas über Sarahs Lebensleistung für die klassische Musik erzählen. Ihren Einfluss auf mich auf die so unverzichtbaren Lektionen zu reduzieren, die sie mir erteilte, würde ihr nicht gerecht.
Um es vorwegzunehmen: Sarah Caldwell war, was man ein Wunderkind nennt. Und das nicht nur auf dem Gebiet der Musik, sondern auch in den Naturwissenschaften, vor allem der Mathematik. Sie war hochbegabt und versetzte schon als Kind alle Welt in Staunen. 1924 kam sie in Maryville, einem kleinen Städtchen in Missouri, zur Welt. In the middle of nowhere, würden wir in Amerika sagen. Bald schon aber zog die Familie nach Kansas City.
Mit vier Jahren erhielt Sarah ihren ersten Geigenunterricht. Noch bevor sie ihr erstes Lebensjahrzehnt beendet hatte, gab sie Violinkonzerte auf der Bühne. Ihre große Leidenschaft waren Theater- und Musikaufführungen. Ständig besuchte sie die Bühnenhäuser der Stadt. Mit Abschluss der Highschool zog es sie gen Osten ins mehr als 2000 Kilometer entfernte Boston an das New England Conservatory of Music. Die Musikhochschule war seinerzeit die inoffizielle Ausbildungsstätte des altehrwürdigen Boston Symphony Orchestra, das es landesweit zu beträchtlicher Bekanntheit gebracht hatte. Sie hatte sich für das Fach Geige eingeschrieben.
Bald schon aber nahm Boris Goldovsky die ambitionierte junge Studentin in seine Klasse auf. Goldovsky war nicht nur Professor und Leiter des Opera-Departments der Musikhochschule, sondern vor allem als Opernproduzent, Dirigent, Impresario und Rundfunksprecher bekannt. Zwischen 1946 und 1985 spielte er in der amerikanischen Opernwelt eine führende Rolle. Vieles von dem, was Sarah konnte, hatte sie von Goldovsky gelernt. Sicher ist es auch sein Verdienst, dass sie in der Opernwelt Fuß fasste. Einen Hang zur Theatralik und Dramatik hatte sie, und das schon in früher Kindheit, als sie so gern ins Theater ging.
Im Alter von gerade einmal 20 Jahren brachte sie Vaughan Williams’ Riders to the Sea auf die Bühne und versetzte die Welt um das Konservatorium in Erstaunen. Später machte sie sich auf dem jährlichen Musikfest in Tanglewood, auf dem die Musiker des Boston Symphony Orchestra traditionell für zwei Monate gastierten, einen Namen. Sie war für die Vorbereitungen verschiedener Chöre verantwortlich und beeindruckte mit dieser Arbeit vor allem Sergei Kussewizki, der von 1924 bis 1949 die Leitung der Boston Symphony innehatte.
Er war es schließlich, der sie in die Fakultät des von ihm gegründeten Berkshire Music Center holte, wo sie erfolgreich agierte und ein Department of Music Theatre ins Leben rief. 1953 trug ihr das für vier Jahre den renommierten Posten als Director of Boston University’s Opera Workshop ein. Für die Stelle schien sie geradezu prädestiniert – oder umgekehrt, die Stelle war für sie wie gemacht, konnte sie doch endlich das vermitteln, was ihr seit Jahren am Herzen lag: die Oper als dramatische Kunstform, in der nicht nur die musikalische, sondern gleichermaßen die dramatische Seite zur Geltung kommen musste. Sie brachte die modernsten Werke auf die Bühne, etwa die amerikanische Premiere von Paul Hindemiths Mathis der Maler. Einmal lud sie Igor Strawinsky ein, seine Oper Rake’s Progress höchstselbst zu dirigieren. Und das, obwohl gerade dieses Werk nach seiner Aufführung an der Metropolitan Opera bei den New Yorker Kritikern durchgefallen war.
Sarah ließ sich nicht beirren und setzte es aufs Programm. Mit Erfolg. Sie ließ sich überhaupt nie von irgendetwas abbringen, an das sie glaubte. Und so gründete sie mit einem enormen Gespür für Unternehmertum und ihrem ganz eigenen Sinn für Dramaturgie und zeitgenössische Musik 1957 schließlich ihr eigenes Opernhaus – die Boston Opera Group, die sich dann acht Jahre später in Opera Company of Boston umbenennen sollte. If you can sell green toothpaste in this country, you can sell opera – »Wenn du in diesem Land grüne Zahnpasta verkaufen kannst, kannst du auch Oper verkaufen«, sagte sie häufig. Es war eines ihrer Standard-Argumente. Mit der Gründung ihres eigenen Opernhauses war sie nicht mehr nur Künstlerin, sondern zur Imprenditrice geworden, einem weiblichen Impresario. Natürlich hatte sie einflussreiche und vor allem potente Sponsoren an ihrer Seite.
Einfach war das für sie sicher nicht. Und so manche Schwierigkeiten habe auch ich in meiner Zeit bei ihr mitbekommen. Das Geld reichte natürlich nie. Aber ihr unkonventioneller Ansatz, der die Traditionen bis dahin in den Vereinigten Staaten gängiger Aufführungspraxis weit hinter sich ließ, verlieh ihren Produktionen einen ganz eigenen Charakter und vor allem eine enorme Dynamik und Dramatik. Immer wieder war in den Kritiken von der »Magie« ihrer Produktionen die Rede, die vielleicht auch aus ihrer Vorliebe für exorbitantes Proben herrührte.
Stundenlang wurde an der Boston Opera Company geübt, quälende Wiederholungen zogen sich häufig bis tief in die Nacht hinein. Gepflogenheiten wie heute, dass eine dreistündige Probe durch eine Pause von 20 Minuten unterbrochen wird, um dann nach haargenau 180 Minuten Instrumente und Taktstock aus der Hand zu legen, wären bei ihr unvorstellbar gewesen. Das lange Proben hatte dabei mehr als nur den Wert musikalisch erreichter Perfektion. Es gab den Sängern auch die Möglichkeit, ihre schauspielerischen Talente zu entwickeln und vor allem einzubringen. Die Oper war für Sarah eben nicht nur ein szenisches Konzert, sondern echtes Theater, Musiktheater. Das war neu, unerhört, magisch.
Sarah zahlte weniger und probte länger. Und trotzdem wollten international bekannte Sänger und Sängerinnen mit ihr arbeiten und sich unter ihrem Dirigat ausprobieren. Am liebsten in den Werken, über die sich die Avantgarde der Musikwelt definierte: Alban Bergs Oper Lulu wurde unter ihr 1964 erstmals an der Ostküste der Vereinigten Staaten inszeniert oder auch Jean-Philippe Rameaus Hippolyte et Aricie (1966), das vorher noch nie in Amerika aufgeführt worden war. Dazu kam 1966 die amerikanische Premiere von Arnold Schönbergs Moses und Aron. Später dann, als die Company 1978 nach 21 Jahren des Vagabundierens endlich ihr eigenes Opernhaus bezog, kamen noch viele weitere zeitgenössische Werke zur Aufführung. Sarah und ihre Company waren die Speerspitze des modernen Musiktheaters. Zumindest kam es mir damals so vor.
Dabei war Sarah keineswegs auf ihr eigenes Haus beschränkt. Sie gastierte an den berühmtesten symphonischen Bühnen der Vereinigten Staaten, die ihr zu ihren Hochzeiten zu Füßen lagen. Frauen am Pult waren damals höchst ungewöhnlich. Eigentlich kamen sie überhaupt nicht vor. Sarah blieb zeit ihres Musikerinnenlebens stets das außergewöhnliche Wunderkind, als das sie mit vier Jahren aufgebrochen war: Sie war die Wonder Woman der Musikwelt.
Unter ihr hatten nicht nur...
Erscheint lt. Verlag | 30.9.2021 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Kunst / Musik / Theater ► Musik | |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Bayerische Staatsoper • Chefdirigent • Dirigent • Dirigent Biografie • Elbphilharmonie • Generalmusikdirektor • Hamburgische Staatsoper • Klassische Musik • Leonard Bernstein • Mari Kodama • Musikerbiografie • Oper • Stardirigent • Symphonieorchester • Wertedebatte |
ISBN-10 | 3-8270-8036-3 / 3827080363 |
ISBN-13 | 978-3-8270-8036-3 / 9783827080363 |
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