Zivilität -  Volker von Prittwitz

Zivilität (eBook)

Theorie und Philosophie
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
260 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7534-1425-6 (ISBN)
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Nur wenn wir uns gegenseitig respektieren, können wir friedlich und frei zusammenleben; nur so haben wir eine Chance, die großen Herausforderungen unserer Zeit zu meistern. Dabei geht es um ökologische Verantwortung und alles, was Menschen in ihrer Besonderheit ausmacht: Glaube, Mitgefühl, Liebe, Ärger, Fehler und enorme Leistungen, Nach- und Vordenken, offene Diskussion, Künste aller Art, Lernen, Witz und Humor. Ein kompakt geschriebener Text, eine Herausforderung der Sozialwissenschaften und eine Perspektive im Ringen um Werte der zivilen Moderne.

Prof. Dr. Volker von Prittwitz Hochschullehrer für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin

4. Zivilitäts-Typologie


Akteure versuchen, Ziele zu verwirklichen: instrumentelle Rationalität, das grundlegende Axiom der Theorie der Rationalen Wahlhandlungen (Rational Choice). Welche Ziele Akteure verfolgen, bestimmt sich allerdings nach Interaktions-Logiken: der Freund-Feind-Logik, der Macht-Logik, der Logik unilateraler Interessen und/oder der Logik wechselseitiger Bindung. Diese Logiken werden oft miteinander kombiniert. Um sie zu verstehen, müssen wir sie aber zunächst einmal isoliert analysieren. Dabei ergeben sich aus jeder Interaktionslogik charakteristische Koordinationspotenziale oder -sperren. Hierbei bedeutet Koordination, eine Ordnung zum Nutzen aller Beteiligten zu bilden und umzusetzen.

4.1 Freund-Feind-Logik und Krieg

Krieg wurde oft als identitäts- und gemeinschaftsstiftend, religions-, bewegungs- oder staatsdienlich oder gar als Vater aller Dinge überhöht. Grundlage dafür ist eine einfach und klar erscheinende Interaktions-Logik, die Logik von Freund oder Feind. Demnach teilt sich die Welt in Freund oder Feind (friend or foe), die untereinander in prinzipiellem Gegensatz stehen: Wir, verstanden als enge Gemeinschaft (Freund), kämpfen gegen den uns existenziell bedrohenden Feind. Diesen mit jedem Mittel auszuschalten, ist nicht nur legitim, sondern geboten. Das denkbar Schlechteste für den Feind erscheint als das denkbar Beste für uns.

Diese Logik erscheint nach der Evolutionsgeschichte des Menschen (im Kampf gegen drohende Fressfeinde) als natürlich. Bezogen auf Menschen allerdings ist sie extrem unzivil. Denn danach gibt es keine Menschen und Menschlichkeit im Allgemeinen, sondern nur Freund oder Feind. Allgemeine Menschenrechte erscheinen sinnlos, ja schädlich; denn jede(r) muss jederzeit damit rechnen, vom Feind angegriffen, verletzt oder getötet zu werden. Und es ist hehre Pflicht und Ehre, in den Krieg zu ziehen. Die Folgen sind unendliches Leid, massenhaftes Sterben, physische und psychische Schäden bei den Überlebenden. Zudem werden viele wertvolle Ressourcen oft auf Jahrzehnte hinaus zerstört oder sinnlos verbraucht.

Kommunikation nach der Freund-Feind-Logik setzt den jeweiligen Feind systematisch herab, schließt aus, lügt und täuscht, eine alles durchdringende, totalitäre Anti-Kommunikation. Öffentliche Kommunikation wird damit vergiftet, verändert in feindselige Propaganda, in systematische Lüge und Herabsetzung, während man sich selbst überhöht und feiert. Damit werden über unmittelbare Kriegshandlungen hinaus alle Maßstäbe von Zivilität zerstört. Kommt es zum Krieg, haben übergreifende Koordination und Kommunikation versagt. Und oft spielen sich die größten Versager als Führer, Feldherren und Retter auf. Daher gibt es nichts Verlogeneres als die Kommunikation des Kriegs.

4.2 Macht-Logik und vertikale Koordination

Kann jemand seinen Willen auch gegen den Widerstand anderer durchsetzen, ist er mächtig. Dieser unilaterale Machtbegriff im Sinne von Macht über… (Weber 1921/1980: 21) drückt das Spezifische von Macht als sozialer Konstellation aus. Die von Gerhard Göhler (Hrsg. 1995, Göhler/Iser/Kerner 2004) angestoßene Öffnung des Machtbegriffs für eine Bedeutungs-Variante Macht zu… verfehlt diese Anforderung. Denn was noch im 19. Jahrhundert im deutschen Sprachraum üblich war, die Bezeichnung von Fähigkeit als Macht (Er ist des Klavierspielens mächtig…), kann weit besser als Kapazität oder Fähigkeit bezeichnet werden. Nur dank dieser Abgrenzung lässt sich das Besondere der Macht scharf analysieren und typologisch einordnen.

Nach der Logik der Macht erscheint die Welt völlig durch Macht strukturiert: Frei sein kann nur, wer über Macht verfügt; wer dagegen machtlos ist, muss sich unterordnen, anpassen oder fliehen. Demzufolge dreht sich machtlogisch alles darum, Macht zu erlangen, zu halten und auszubauen: Wer nach Macht strebt, verhält sich opportunistisch; wer über Machtverfügt, nutzt und erweitert diese nach Kräften, und Machtlose müssen auch die schlimmsten Torturen hinnehmen oder fliehen, sofern sie sich nicht als Untertanen dem herrschenden Willen unterwerfen – eine alles durchdringende Logik.

Nach dieser Logik gilt das Recht der Herrschenden als herrschendes Recht und der Staat als Herrschaft eines mächtigen Herrschers, als ein Reich. Religion kann nur herrschende oder unterdrückte Religion sein, und Kultur kann sich nur als herrschende Kultur entfalten. Dabei wird Macht oft propagandistisch und künstlerisch überhöht, etwa persönlich verherrlichend oder gar als göttlich.

Immerhin eröffnet Macht Chancen zu allgemeiner Koordination; denn wer mächtig ist, kann vertikale Koordination (von oben nach unten) erzwingen, ein Vorteil gegenüber Anomie und Krieg. Dies gilt insbesondere bei Gefahr (Gefahrenabwehr). Aber auch ansonsten erscheint Macht als einfaches und starkes Mittel der Handlungs-Koordination, so als:

  • Hierarchie (wörtlich Priesterherrschaft), sprich anerkannte gestufte Über- beziehungsweise Unterordnung;
  • Organisations-Herrschaft (Bürokratie): Nachrangig privilegierte Träger einer Organisation, zum Beispiel Behörde, setzen ihren Willen vermittelt über ihre Auslegungsund Organisationshoheit von Koordination durch.
  • Netzwerk-Herrschaft: Miteinander vernetzte Akteure koordinieren sich, negativ abgesetzt von Nicht-Angehörigen des Netzwerks.
  • Latente Machtausübung: Sweet little lies und verdeckte Anstöße (Nudging) steuern Adressaten in die erwünschte Richtung, ohne dass diese sich ihrer Steuerung bewusst werden (Piasecki 2017).

Machtlogisch kann nur dann im Sinne der Allgemeinheit koordiniert werden, wenn der jeweilige Machthaber hierzu (als Guter König) fähig und willens ist. Ansonsten wird nicht koordiniert (Anomie) oder aber despotisch regiert. Dabei neigen Machthaber bei vermeintlichem Widerstand zu Gewalt bis hin zu grausamsten Verbrechen. Macht-Logik eröffnet also zwar Koordinations-Chancen, sichert aber keineswegs Koordination, die das allgemeine Wohl fördert.

Auch abgesehen von dieser Einschränkung weist vertikale Koordination Schwächen auf. So läuft Information in hierarchischen Systemen primär von unten nach oben und gesteuert wird zentralistisch. Damit entsteht Informationsflut bei den Herrschenden, mangelnde Motivation bei den Beherrschten; die oberen Hierarchie-Ebenen werden tendenziell überlastet, während Fähigkeiten der Beherrschten nicht ausreichend oder ungenutzt bleiben.

Schließlich produziert die Logik der Macht offensichtlich ungerechte Systeme wie die Herrschaft der Reichen (Ochlokratie) und Formen von Privilegien-Herrschaft, bei der Machtträger Sonderrechte erhalten, so Kasten-Herrschaft, ständische Herrschaft, Organisations- oder Netzwerk-Herrschaft. Derartige Privilegien-Herrschaft lässt sich nur schwer legitimieren, und entstehender Opportunismus kann das Machtsystem schwächen, sei es, dass Inkompetenz bis in die Spitze aufsteigt (Peter-Prinzip), sei es, dass sich Kriminalität im System ausbreitet.

Auf Probleme stößt die Logik der Macht vor allem, wenn sich ihre Adressaten interesselos zeigen oder gar Widerstand leisten. Dann neigen Machthaber zu Gewalt. Schließlich kann Macht zur Sucht werden. Dient Macht nur ihrem eigenen Erhalt, schlägt sie in Tyrannei um, ein bereits von Aristoteles (Politik, III.6) ausgewiesener Gegentypus zum Wohl der Allgemeinheit.

4.3 Logik unilateraler Interessen und horizontale Koordination

Alles, was meinem eigenen Wohl dient, ist legitim und vorrangig: das leitende Motto der Logik unilateraler Interessen. Demnach geht es einem Akteur nur um sein einseitiges (unilaterales) Eigeninteresse; multilaterale Interessen spielen keine Rolle oder werden sogar negativ bewertet.

Bezogen auf andere Akteure ist diese Logik besonders anpassungsfähig und vielfältig. Denn dabei legt sich der Akteur nicht auf bestimmte soziale Beziehungs-Muster, etwa Freund-Feind-Muster, fest; vielmehr nimmt er seine Eigeninteressen flexibel im jeweiligen Kontext wahr. Dazu kann er sich an alle Bedingungen anpassen, auch nach Kräften lügen und betrügen, etwa Freund-Feind-Orientierung oder Sachinteresse vortäuschen, wenn ihm/ihr dies opportun erscheint. Die Logik unilateralen Interesses ist insofern sozial bindungslos, asozial: wie geschaffen für ausbeuterische, verlogene Egomanen und eine ständige Bedrohung von Koordination zum allgemeinen Wohl.

Allerdings stehen sich demnach die Beteiligten, die ja alle ihre Eigeninteressen verfolgen, auf Augenhöhe gegenüber. Können sie sich auf einen gemeinsam akzeptierten Beschluss einigen, entsteht horizontale Koordination. Damit aber lassen sich die charakteristischen Asymmetrien und Motivations-Mängel vertikaler Koordination vermeiden – ein fundamentaler Fortschritt. Ausgehend davon haben sich seit dem 18. Jahrhundert zahlreiche Modelle horizontaler Koordination entwickelt: vom grundlegenden Markt-Modell (Smith 1776) über individuelle Verhandlungs-Modelle...

Erscheint lt. Verlag 16.4.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
ISBN-10 3-7534-1425-5 / 3753414255
ISBN-13 978-3-7534-1425-6 / 9783753414256
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