Nationale Interessen (eBook)

Spiegel-Bestseller
Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022
240 Seiten
Siedler Verlag
978-3-641-28557-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Nationale Interessen - Klaus Dohnanyi
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Zeitenwende in der Weltpolitik: Was für Deutschland auf dem Spiel steht
In einer Welt des rapiden machtpolitischen und technologischen Wandels müssen sich Deutschland und Europa strategisch neu orientieren: Im Wettkampf zwischen den USA und China gerät Europa bereits zwischen die Fronten. Und dies wird auch unser Verhältnis zu Russland verändern müssen. Jetzt ist ein nüchterner, illusionsloser Blick auf die neuen Realitäten notwendig, wie Klaus von Dohnanyi zeigt: Auf »Wertegemeinschaften« oder »Freundschaften« können wir nicht vertrauen, Deutschland und Europa müssen vielmehr offen ihre eigenen, wohl verstandenen Interessen formulieren und mit Realismus verfolgen. So fordert von Dohnanyi in seinem Buch grundsätzliche Kurskorrekturen - im Bereich der äußeren Sicherheit ebenso wie in der Industriepolitik, weg von einseitigen Abhängigkeiten, hin zu einer Politik der Eigenverantwortung. Ein ebenso provokantes wie anregendes Buch - von einer der herausragenden politischen Persönlichkeiten unserer Gegenwart.

Klaus von Dohnanyi, geboren 1928, gehört seit 1957 der SPD an. Der promovierte Jurist bekleidete zahlreiche politische Ämter, er war u.a. Bundeswissenschaftsminister, Staatsminister im Auswärtigen Amt und Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg. Bis heute hat er zahlreiche ehrenamtliche Aufgaben inne und greift mit seinen differenzierten Ansichten und Meinungen immer wieder in die intellektuellen Debatten Deutschlands ein. 2022 erschien bei Siedler sein Bestseller »Nationale Interessen«.

DAS JAHR 2021 WAR EIN JAHR DER UMBRÜCHE. Seuchen, Klimagefahren, ein außenpolitisches Desaster in Afghanistan, die Welt wirft Fragen auf, für die wir in Deutschland noch nach Antworten suchen. Es sind nicht militärische Gefahren, die uns in erster Linie bedrohen – es sind wir selbst, und es ist auch unser Zögern, den Wahrheiten ins Gesicht zu schauen. Diese Erkenntnis muss unsere Prioritäten ändern, unsere Aufmerksamkeiten verschieben.

Die Welt versucht seit dem Beginn des Jahres 2020, sich mit Disziplin und Impfen gegen die Corona-Pandemie zu stemmen. Kein Land war ausreichend auf solche Gefahren vorbereitet. Auch Deutschland nicht, obwohl der Katastrophenschutzbericht der Bundesregierung vom Januar 2013 die Gefahr einer Pandemie in allen Einzelheiten vorgezeichnet hatte. Die Covid-19-Pandemie kehrt nun mit immer neuen Mutationen zurück, die Welt im Ganzen steht ihr noch immer fast hilflos gegenüber. Die bleibenden Schäden sind nicht absehbar.

Und dann machte sich der Klimawandel dramatisch bemerkbar. Bei uns Überschwemmungen, Tote, Sachschäden in Milliardenhöhe, Beschädigung von Infrastrukturen, deren Reparatur oder Erneuerung vermutlich Jahre dauern wird. Es gab offenbar keine ausreichende Vorbereitung, keine angemessenen Warn- und Schutzmaßnahmen, auch nicht auf europäischer Ebene. Im südlichen Europa nahm die Trockenheit zu, Wälder und Ortschaften brannten, aber der Ruf nach Löschflugzeugen und anderen Hilfen blieb oft unbeantwortet. Die Menschen standen zusammen, doch die Natur gab ihre unerbittliche Antwort. Wir arbeiten am Klimaschutz, vergessen aber darüber oft, die notwendigen Vorkehrungen gegen die schon spürbaren Folgen des Klimawandels zu treffen. Diese wirken sich meist auf mehrere Mitgliedsstaaten der Europäischen Union gleichzeitig aus und bedürfen daher auch gemeinsamer europäischer Planungen.

»Cyber War« flackerte überall auf, es gab Erpressungen von Unternehmen und Stilllegungen von Verwaltungen, Angriffe auf Krankenhäuser und anderes. Neue Medien und weltweite Vernetzungen machen uns immer verletzbarer, selbst Wahlen sind nicht mehr sicher, und die Folgen der Digitalisierung für Arbeitsmarkt und Lieferketten bleiben in ihren globalen Konsequenzen noch immer unüberschaubar. Auch hier muss sich Europa im Rahmen seiner internationalen Möglichkeiten sorgfältiger vorbereiten.

Wir haben während der letzten Jahre auch beobachten können, dass weltweit eine Re-Nationalisierung der Politik stattfindet. Dass in internationalen Beziehungen die nationalen Interessen im Vordergrund stehen, ist eine selbstverständliche Erfahrung. Aber nationale Interessen drängen nun auch innerhalb der Europäischen Gemeinschaft in den Vordergrund. So problematisch dies für die internationale und europäische Kooperation auch ist, es ist offenbar weltweit eine unausweichliche Entwicklung, die auch eine demokratische Reaktion auf Globalisierung, Internationalisierung und Europäisierung darstellt und die es zu verstehen gilt, wenn wir die Zusammenarbeit der Weltgemeinschaft und die europäische Integration fortentwickeln wollen. Die Renationalisierung von Politik wird deswegen auch ein wichtiges Thema dieses Buches sein.

Achten wir denn in der europäischen Gemeinschaft auf die Erhaltung des Zusammenhalts der Mitglieder unseres Staatenbundes? Politisch begann das Jahr mit einem tiefen Einschnitt, dem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. Zugleich zeigte sich die Union in wesentlichen Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik tief gespalten. Sollte man mit Putin reden, mit ihm einen Interessenausgleich suchen? Deutschland und Frankreich waren in der EU bei diesem Vorschlag in der Minderheit. Europa fehlt es an Handlungsfähigkeit für wichtige Entscheidungen, und das gilt auch für das existenzielle Thema der Migration.

Um uns herum entsteht eine neue Welt. Vor 20 Jahren, als die Nato sich in Afghanistan engagierte, war Russland noch ein Staat mit vergleichsweise geringem weltpolitischem Einfluss. Die USA versuchten, ihre geopolitische Position auch im Nahen Osten militärisch zu stärken, scheiterten jedoch überall. Heute ist Russland auf dem besten Wege, für das von den USA zurückgelassene Chaos im Nahen Osten eine politische Ordnungsmacht zu werden. Das wird auch für Afghanistan gelten, wo sich Russland und China heute um einen dauerhaften Einfluss bemühen.

Die Debatte über den unvorbereiteten und beschämenden Abzug klingt noch in unseren Ohren. Was jedoch auch zu erinnern lohnt, das ist der Streit im Deutschen Bundestag am 22. 12. 2001, als es um die Beteiligung der Nato und Deutschlands an einem Krieg gegen den Staat Afghanistan ging, von dessen Boden ein schwerwiegender Terroranschlag auf die USA ausgeübt worden war. Die Autorisierung durch die UN war gesichert. Dennoch konnte sich Bundeskanzler Gerhard Schröder der Mehrheit seiner Koalition im Parlament nicht sicher sein und bemühte noch vor der Abstimmung über den Einsatz, etwas gedrechselt, die Vertrauensfrage, um die Seinen zu disziplinieren. Ein Satz aus der Debatte klingt bis heute warnend nach: »Man kann Terrorismus nicht militärisch besiegen.« Nicht nur den Rückzug aus Afghanistan gilt es heute zu überdenken, auch der Grund, warum wir überhaupt dort hineingeraten sind, erscheint nicht erst aus heutiger Sicht fragwürdig.

In den USA beunruhigte im Januar 2021 ein Sturm des Pöbels auf das politische Herz Amerikas, das Kapitol; Europa musste sich fragen, wie es um die politische Stabilität der westlichen Führungsmacht bestellt sei. Die USA verschieben nun ihre Aufmerksamkeit nach Asien, auf den großen Konkurrenten China, und lassen die zuvor mit Kriegen überzogenen Staaten des Nahen Ostens kalt im Stich. Die Politik des Westens nach dem Ende des Kalten Krieges vor mehr als dreißig Jahren hat inzwischen dazu geführt, dass heute sogar das christlich-europäische Russland aus seinen europäischen Interessen vertrieben und an die Seite seines früher eher feindlichen Nachbarn China gedrängt wurde. Als ich im Jahre 1973 als zweiter Bundesminister nach Außenminister Walter Scheel einer Einladung nach China folgte, war Deng Xiaoping mein Gastgeber. Ich werde nie vergessen, wie dieser eindrucksvolle Mann mir die unmittelbaren Gefahren eines Krieges der Sowjetunion gegen China schilderte und auf die unzulänglichen Vorbereitungen in Peking verwies. Warum sind Russland und China heute Verbündete?

Könnten nun Konflikte zwischen den Vereinigten Staaten und China auch zu einer Bedrohung für Europa werden, weil Russland inzwischen ein Alliierter Chinas geworden ist? Nüchterne Kommentare haben bereits begonnen, die heutige Lage mit der vor 1914 zu vergleichen, jener »Urkatastrophe«, wie George F. Kennan den Ersten Weltkrieg einst charakterisierte. In der Tat, ein Vergleich mit der damaligen Situation ist beunruhigend. Ist sich die Führung der Nato heute überhaupt dieser Gefahren bewusst?

Angesichts der globalen Risiken des Klimawandels und des Friedens wäre eine intensivere Zusammenarbeit der Großmächte - der USA, Chinas und Russlands – heute dringender denn je. Wir wissen doch, dass der bereits eingetretene Klimawandel nicht nur erhebliche Schäden an der Bewohnbarkeit unseres Globus verursacht, sondern auch der Migration eine neue Dynamik verleiht. Europa ist hier angesichts seiner geografischen Lage und der vielen Wassergrenzen besonders herausgefordert. Aber die Europäische Union zeigt sich hier wie so oft nicht handlungsfähig. Wir widmen der Lösung dieser für unseren Kontinent existenziellen Frage nicht annähernd die Aufmerksamkeit, die unsere deutschen Medien täglich den innenpolitischen Entwicklungen in Russland und China angedeihen lassen, doch dort werden wir kaum Einfluss haben. Stimmen unsere Prioritäten noch mit den Entwicklungen der Welt überein? Finden die wirklich wichtigen politischen Debatten überhaupt noch statt?

Im nationalen Interesse und mit den Institutionen des Nationalstaates muss Deutschland auf die Umbrüche der weltweiten Entwicklung realistisch antworten; manches wird sehr schmerzhaft sein. Der Volksmund spricht kluge Worte: Es hat ihm »die Augen geöffnet«, so heißt es, wenn jemand lange sah, ohne zu sehen, immer schon wusste, ohne zu verstehen – bis dann ein Augenblick ihm die Augen öffnete. Solche Augenblicke gibt es nicht nur im Leben von uns allen, es gibt sie auch im Leben der Völker. Und ein solcher Augenblick war das Jahr 2021 auch für Deutschland: Es hat uns die Augen geöffnet für eine Wirklichkeit, die wir schon lange vor uns sahen, ohne zu verstehen, was diese neue Welt für unsere Zukunft bedeuten werde. Jetzt haben wir gesehen, was ist, und haben erkennen müssen, was sein wird, wenn wir nicht handeln. Und jetzt sollten wir auch verstanden haben, was wichtig und was unwichtig ist und worum es in den kommenden Jahren gehen wird. Dass wir dann auch liebgewonnene Überzeugungen infrage stellen müssen, wird uns nicht erspart bleiben.

Innenpolitische Kraft für diese schwierigen Entscheidungen zu schaffen, ist heute oft eine wichtigere Aufgabe als der Ausbau militärischer Stärke. In den Emotionen der Völker brodeln viele Vorurteile. Politik darf sich davon nicht treiben lassen. Das gilt nicht nur für Europa, das gilt insbesondere für unseren Partner die USA. Den Zusammenhang demokratischer Entschlossenheit auch in Zeiten tiefgreifender Umbrüche und notwendiger Neuorientierung zu bewahren, ist deswegen eine zentrale Aufgabe der politischen Klassen aller Länder. Nur eine offene, sachliche und klare Debatte über den zukünftigen Weg deutscher Politik kann uns voranbringen. Es gehörte schon immer politischer Mut dazu, eine Debatte über neue Einsichten...

Erscheint lt. Verlag 17.1.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2022 • Aggression • aktuell • Annexion • Außenpolitik • Baerbock • bestsellerliste spiegel aktuell • biden • China • Deutsche Interessen • Donbass • Donezk • Duma • eBooks • Europa • Globaler Umbruch • Invasion • Kreml • Krieg • Krise • Luhansk • Machtpolitik • Merkel • Moskau • MSC • München • NATO • Neuerscheinung • Obama • Putin • Russland • Sanktionen • Scholz • Selenskyj • Separatisten • Sicherheitskonferenz • Sicherheitsrat • Stoltenberg • Trump • Ukraine • Ukraine-Krise • UN • Unabhängig • USA • Vereinte Nationen • Volksrepublik • Washington • Weißes Haus • Weltordnung • Wertegemeinschaft • XI
ISBN-10 3-641-28557-7 / 3641285577
ISBN-13 978-3-641-28557-9 / 9783641285579
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