Soziologie der Selbstoptimierung (eBook)

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2021 | 1. Auflage
250 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76674-3 (ISBN)

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Soziologie der Selbstoptimierung -  Anja Röcke
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Produktiver arbeiten, mehr leisten! Noch fitter werden, noch schöner! Selbstoptimierung steht im Mittelpunkt gegenwärtiger sozialer Anforderungen und individueller Sinnwelten kapitalistischer Gesellschaften. Doch was ist mit Selbstoptimierung genau gemeint? Handelt es sich um ein neues Phänomen? Welche individuellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen und Konsequenzen hat es? Entlang dieser drei Fragen entwickelt Anja Röcke eine so klare wie grundlegende Begriffsdefinition, diskutiert die Geschichte der Selbstoptimierung und bestimmt die Faktoren, die Selbstoptimierung als gleichermaßen zentrales wie ambivalentes Phänomen der spätmodernen Gesellschaft ausmachen.

Anja Röcke ist Gastprofessorin für Allgemeine Soziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin.

37IIOptimum, Optimierung, Selbstoptimierung. Begriffshistorische Perspektiven


»Ist nicht der Ausdruck ›Sexualität‹ erst spät, zu Beginn des 19.Jahrhunderts aufgetaucht? Die Tatsache darf weder unterschätzt noch überinterpretiert werden. Sie zeigt etwas anderes an als eine Umarbeitung des Vokabulars; doch offensichtlich bezeichnet sie nicht das plötzliche Hervortreten dessen, worauf sie sich bezieht. Sein Gebrauch ist in Verbindung mit anderen Phänomenen zustande gekommen: ein ganzer Einsatz von verschiedenartigen Erkenntnisbereichen […]; die Aufstellung einer Menge an teilweise überlieferten, teilweise neuen Regeln und Normen, die sich zudem auf religiöse, gerichtliche, pädagogische und medizinische Institutionen stützen; Veränderungen auch in der Art und Weise, wie die Individuen dazu veranlasst werden, ihrer Verhaltensführung, ihren Pflichten, ihren Lüsten, ihren Gefühlen und Empfindungen und ihren Träumen Sinn und Wert zu verleihen.«[1]

Was Foucault im vorstehenden Zitat in Bezug auf die Sexualität beschreibt, lässt sich – ohne die Analogie hier überstrapazieren zu wollen – auch auf das Thema Selbstoptimierung übertragen. Wie noch genauer zu zeigen sein wird, taucht auch der Ausdruck Selbstoptimierung erst vergleichsweise spät, um die Mitte des 20.Jahrhunderts, auf, bevor er sich ab Beginn der Wende zum neuen Jahrtausend zunehmend verbreitet. Diese Entwicklung sollte ebenfalls ›weder unterschätzt noch überinterpretiert‹ werden, ist aber für sich genommen begründungsbedürftig. Zudem steht der Gebrauch des Ausdrucks Selbstoptimierung ebenfalls im Zusammenhang mit einer ganzen Reihe von Phänomenen, die man primär nicht dem Gegenstandsbereich des hier diskutierten Phänomens zuordnen würde: etwa einer Vorstellung von individuellem und gesellschaftlichem Fortschritt, der Entstehung einer spezifischen Art der Sozialisation oder einer erhöhten sozialen Mobilität innerhalb der Gesellschaftsstruktur – das vierte und das fünfte Kapitel werden diese 38und noch weitere Phänomene aufgreifen und thematisieren. Diese Phänomene sind zugleich wichtige Elemente zur Beantwortung der Frage, wie Selbstoptimierung zu einer Leitidee und auch einem Leitbegriff der Gegenwart werden konnte, einer Idee und einem Begriff also, die sowohl breit anschlussfähig als auch umkämpft und kritisierbar sind. Entsprechend der klassisch-begriffshistorischen Lesart »bündeln« Begriffe »Erwartungen« und »versammeln Erfahrungen«, sind also Indikatoren bestimmter gesellschaftlicher Entwicklungen wie auch des gesellschaftlichen Wandels insgesamt. Gleichzeitig haben sie aber auch »ihre eigene Seinsweise«, sind also »nicht bloße Epiphänomene der sogenannten wirklichen Geschichte«.[2] Wie verhält es sich mit diesem Spannungsfeld in Hinsicht auf ›Selbstoptimierung‹?

Betrachten wir zunächst den Ausdruck selbst. Das Wort Selbstoptimierung besteht aus zwei Teilen: ›Selbst‹ und ›Optimierung‹. Die Substantivierung ›Selbst‹ ist ein Kunstwort, das laut Duden im deutschen Sprachraum im 18.Jahrhundert auftaucht, vermutlich als Übertragung aus dem Englischen (the self), und das »das seiner selbst bewusste Ich« bezeichnet. Aus einer »religiös-moralische[n]«[3] Konnotation entwickelt sich allmählich ein säkulares Verständnis vom Selbst, maßgeblich vermittelt über die Psychologie.[4] ›Optimierung‹ ist dem lateinischen Wort optimum entlehnt, was eine Substantivierung von optimus (bester, hervorragendster; Superlativ von bonus = gut) ist und allgemein das ›Beste‹ oder ›Hervorragendste‹ bedeutet. Das Suffix ›ung‹ von (Selbst-)Optimierung wiederum verweist darauf, dass es sich um einen Vorgang oder eine Tätigkeit handelt, also um einen »Bewegungsbegriff«.[5] Derartige Begriffe sind der semantische Niederschlag einer sich mit der Entstehung der Moderne verändernden Sicht auf die Gesellschaft, die nicht mehr vorgegeben ist, sondern von den Akteuren selbst gestaltet wird und dynamisch ist. Vor diesem begriffshistorischen Hintergrund lässt sich Selbstoptimierung vorläufig als ein Prozess der 39selbstinduzierten Suche nach dem Besten definieren, was im weiteren Verlauf der Arbeit aber noch präzisiert und zugespitzt wird.

Es gibt eine ungeheure Vielzahl der Komposita mit ›Selbst‹, die in den hier diskutierten thematischen Zusammenhang passen. Dazu gehören die von Foucault in seinem Spätwerk untersuchten »Technologien des Selbst« genauso wie historische oder gegenwärtige Formen der »Selbstthematisierung«, die von der christlichen Beichte bis zu gegenwärtigen Formen der Selbstvermessung reichen.[6] Des Weiteren spielen Ausdrücke wie Selbstverwirklichung, Selbstentfaltung, Selbstzucht, Selbstbildung, Selbsterziehung, Selbstvervollkommnung, Selbstveränderung bis hin zu Selbstformung eine Rolle,[7] aber auch Selbstbestimmung, Selbstgestaltung, Selbsttherapie oder Selbstrationalisierung. Aus dem Englischen zu ergänzen wären Komposita wie self-improvement, self-help, self-culture, self-management, self-activation, self-efficacy, self-awareness, self-actualisation oder self-motivation, die weitgehend aus den Bereichen des Managements und der (Humanistischen) Psychologie stammen;[8] aber auch inhaltlich verwandte Begriffe wie enhancement, personal development, human florishing, bodyhacking, biohacking und cyborg. Des Weiteren beinhaltet das semantische Feld noch folgende Begriffe, die hier der Einfachheit halber nur auf Deutsch aufgelistet werden: Maximierung, Potential, Fähigkeiten, Überbietung, Perfektibilität, Vervollkommnung, Wachstum, Entwicklung, Entfaltung, Steigerung, Aktivierung, Effektivität und Effizienz.

Das semantische Feld, in das Selbstoptimierung eingebettet ist, umfasst also sehr verschiedene Bereiche, die hier nur angedeutet 40werden können. Es reicht vom Themenfeld der Selbstgestaltung, Selbstthematisierung und Selbstverbesserung bis hin zu spezifischen Techniken der Selbstbearbeitung, umfasst konkrete Bereiche wie etwa die von Bildung und Erziehung, (Körper-)Arbeit, Wirtschaft oder Gesundheit und ist an verschiedene Zielhorizonte gebunden: Effizienz und Effektivität genauso wie Glück oder Entfaltung. Selbstoptimierung ist ein schillernder Begriff, der je nach Perspektive und Kontext eine andere Färbung annimmt. Eine mögliche grobe Ordnung in dem weit ausgreifenden semantischen Feld erreicht man mit der Unterscheidung von Begriffen, die einen primär instrumentellen Bezug auf das Selbst ausdrücken, und solchen, in denen der Eigenwert der Person eine wichtige Rolle spielt. Zu Letzterem gehören die antiken Technologien oder Praktiken des Selbst, die einer Ethik der »Sorge um sich« entsprechen;[9] auch der Gedanke der Selbstvervollkommnung und Kipkes Konzept der Selbstformung passen in diesen Rahmen.[10] Auf der instrumentellen Seite stehen Konzepte wie Selbstzucht und Selbsterziehung, Selbstverwertung, Enhancement, Selbstrationalisierung wie auch Selbstoptimierung. Im sechsten Kapitel wird diese Differenz inhaltlich weiter ausgearbeitet und Selbstoptimierung der Selbstsorge im Sinne einer kontrastierenden Herangehensweise gegenübergestellt. Schließlich macht es im Kontext begrifflich-semantischer Überlegungen auch Sinn, mögliche Abgrenzungsbegriffe von Selbstoptimierung zu betrachten. Dazu gehören Resignation, Passivität, Lethargie, Antriebslosigkeit, Faulheit, Trägheit, Fatalismus, Selbstgenügsamkeit, Sich-ins-Schicksal-Ergeben, Selbstzufriedenheit, Verharren im Status quo, Luxus, Vollkommenheit, Muße, Genuss oder auch (nicht übertreffbare) Meisterschaft.[11] Selbstoptimierung kann Verschiedenes umfassen, aber nichts, was mit Stillstand, Ruhe, Passivität und rein zweckfreiem oder ›überflüssigem‹ Genuss zu tun hat.

Dieses Kapitel enthält keine voll ausgearbeitete Begriffsge41schichte, sondern es folgt dieser Perspektive nur so weit, wie sie dem leitenden Forschungsinteresse dienlich ist. Entsprechend sind auch die verwendeten Beispiele nur exemplarischer Natur und decken nicht alle denkbaren...

Erscheint lt. Verlag 18.4.2021
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie
Schlagworte Leistung • Optimierung • Quantifizierung
ISBN-10 3-518-76674-0 / 3518766740
ISBN-13 978-3-518-76674-3 / 9783518766743
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