Schwimmen muss man selbst (eBook)

Wie ich als Arbeiterkind den Weg ins deutsche Fernsehen fand

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
336 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-27884-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Schwimmen muss man selbst -  Pinar Atalay
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Die Moderatorin über ihren ungewöhnlichen Aufstieg vom Arbeiterkind zur renommierten Journalistin
»Ich werde oft gefragt, wie ich es ?geschafft habe?, was anders war bei mir. Wie aus dem Arbeiterkind mit türkischen Wurzeln, aufgewachsen in einem ostwestfälisch-lippischen Dorf, die Journalistin und Moderatorin wurde, die den Deutschen zur besten Sendezeit einen guten Abend wünscht.« Aufgrund ihrer eigenen Biografie weiß Pinar Atalay: Nicht die Migrationsgeschichte an sich hindert viele am Aufstieg, sondern ihr Zuhause in der »Arbeiterklasse«. Kinder aus Nichtakademikerfamilien müssen ermutigt werden, ihr Potenzial auszuschöpfen, beruflich über den Tellerrand ihrer Eltern hinauszublicken. Dafür braucht es Förderung und politische Veränderungen - aber auch das Selbstvertrauen und den Willen, einen eigenen Weg einzuschlagen. Am Beispiel ihrer eigenen Geschichte und durch Interviews mit Persönlichkeiten wie der 'First Lady' Elke Büdenbender, dem CDU-Vorsitzenden Armin Laschet, der Schauspielerin Sibel Kekilli oder der Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig, zeigt Pinar Atalay, wie der Erfolg möglich wird.

Pinar Atalay, 1978 geboren, wuchs als Tochter einer Arbeiterfamilie im Extertal in Ostwestfalen-Lippe auf. Nach dem Abitur eröffnete sie eine Boutique in Lemgo, bevor sie dann mit 19 Jahren ihren Weg in die Medien fand. Sie machte ihr Volontariat bei Radio Lippe. Es folgten Stationen in Hörfunk und Fernsehen, unter anderem beim WDR, dem NDR und bei Phoenix, wo sie viele Jahre den Polittalk »phoenix Runde« moderierte. Außerdem moderierte sie fast 12 Jahre lang die Hauptnachrichten im NDR Fernsehen und war viele Jahre Moderatorin des ARD-Wirtschaftsmagazins »plusminus«. Von März 2014 bis Juli 2021 begrüßte Pinar Atalay ihre Zuschauerinnen und Zuschauer zur besten Sendezeit im Ersten Deutschen Fernsehen: Als erste Frau mit türkischen Wurzeln moderierte sie die ARD-»tagesthemen«. Ab August 2021 ist Pinar Atalay Topjournalistin und Moderatorin bei RTL, wo sie die Nachrichtenformate und die politische Berichterstattung mitgestalten wird. Unter anderem wird sie das erste Triell der KanzlerkandidatInnen moderieren.

Prolog

Als ich ein Kind war, schien alles sehr einfach. Meine Welt bestand aus dem Dorf, in dem ich lebte. Etwa 4000 Einwohner, ziemlich viele Hügel, ziemlich viel Grün, ziemlich wenig los. Es gab eine kleine Grundschule, die alle Kinder des Ortes besuchten. Ich hatte es nicht weit dorthin, über einen Pattweg machte ich mich tagtäglich mit meinem Ranzen auf den Weg zu Frau Küster, meiner klein gewachsenen, weißhaarigen Klassenlehrerin, von der noch die Rede sein wird. Lief ich den Hügel an der Grundschule weiter, kam ich in die kleine Einkaufsstraße – Flecken genannt – , offizieller Mittelpunkt für die umliegenden noch kleineren Dörfer, immerhin. Im Flecken reihten sich kleine Bäckereien an einen örtlichen Fleischer und einen vollgepfropften Schreibwarenladen, in dem ich am liebsten Stunden verbracht hätte. Doch meist war schon nach fünf Minuten das wenige Geld in meinem Glitzerbeutelchen verplant.

Auf dem Weg nach Hause kam ich fast täglich an dem verhältnismäßig großen Friedhof vorbei, der uns Kindern oft als Abkürzung zum Reitstall diente und bei Dunkelheit das Gruseln lehrte. Fuhr ich mit dem Rad noch ein Stückchen weiter, war das Dorf schon wieder zu Ende. Extertal-Bösingfeld – auf Wiedersehen.

Wir lebten in einem trostlos schwarz geklinkerten Sozialbau auf zweieinhalb Zimmern, Küche, Bad und einem Balkon, der immerhin auf eine grüne Wiese blicken ließ. Wir, das waren meine Mutter, mein Vater, meine Schwester und ich. Der Rest der Familie war in der fernen Türkei, Oma, Opa, Tante, Onkel, Cousinen und Cousins. Wir waren es gewohnt, im Viererpack zu leben. Nach der Schule trennte ich Hosensäume auf, um meiner Mutter in ihrer Schneiderei zu helfen. Nachmittags freute ich mich auf meinen Vater, der mit seinen verstaubten Tischler-Hosen von der Schicht nach Hause kam.

Ich hatte eine glückliche Kindheit, die wunderbare lippische Natur bot Raum für alle erdenklichen Spiele an der frischen Luft, und irgendeines der Nachbarskinder saß immer in der Sandkiste und wartete auf Unterstützung beim Burgenbauen. Meine Eltern taten alles, um mir diese schöne Kindheit zu ermöglichen und mich einfach Kind sein zu lassen. Doch je älter ich wurde, desto komplizierter wurde es. Als Teenager wurde mir nach und nach immer mehr bewusst: Irgendetwas ist anders als bei meinen Freundinnen und Freunden. Es war nicht nur der Name, den sonst keiner trug, nicht die dunklen Augen und das tiefbraune Haar, das zwischen all meinen meist hellhaarigen Freundinnen und Freunden herausstach. Nicht die andere Sprache, in der wir uns zu Hause unterhielten, oder die Tausende Kilometer entfernt lebende Verwandtschaft, die ich einmal im Jahr sah. Nein: Die Eltern meiner Freundinnen und Freunde waren Lehrerinnen und Lehrer, Geschäftsführer oder Ärzte. Sie gingen regelmäßig ins Theater, hatten ein Klavier in ihrem Wohnzimmer stehen, hörten mit ihrer Großmutter bei Nachmittagskaffee und Bienenstich Beethovens Neunte und spielten mit dem Onkel Canasta. An Weihnachten feierten sie mit der ganzen Familie unterm dicht behangenen Christbaum samt Festbraten, Rotwein und Geschenken. Und wenn sie in den Urlaub fuhren, brachten sie Souvenirs aus Mallorca mit oder eine magnetische Freiheitsstatue aus New York für den Kühlschrank. Sie segelten durch Schwedens Schärengärten und genossen frisch gebackene Croissants in Paris. Waren sie zu Hause, wohnten meine Freundinnen und Freunde mit ihrer Familie meist in einem ganzen Haus für sich. Wie oft stand ich vor den hell erleuchteten Einfamilienhäusern und wunderte mich, dass tatsächlich nur eine einzige Familie dort lebte, auf zwei oder sogar mehr Stockwerken. EIN-Familienhaus! Ich kannte nur Plattenbau.

Wenn ich die Eltern meiner Freundinnen und Freunde gefragt hätte, was ihre Kinder später mal nach der Schule machen sollten, hätten sie geantwortet: studieren. So wie sie es selbst getan hatten. In Berlin, in München, in London oder Madrid. Für mich hätte sich das angehört, als zögen sie auf den Mond. Ich hatte es nur mit viel Überredungskunst von der Grundschule auf das Gymnasium geschafft. Nicht weil ich in der Schule schlechter gewesen wäre als die anderen. Aber ich war nun mal das türkische Mädchen, das Arbeiterkind aus einer bildungsfernen Familie. Und dem traute man in den 80er-Jahren noch weniger zu als heute. Mein Weg in der deutschen Gesellschaft schien vorgezeichnet: höchstens Realschule, danach eine Lehre. Vielleicht auch in der Schneiderei, wie meine Mutter, oder beim Friseur, wie eines der anderen türkischstämmigen Mädchen aus der Nachbarschaft? Die Vorstellungskraft der alteingesessenen Bevölkerung und auch der Politik, was die Kinder der sogenannten Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter in Deutschland erreichen könnten, war nicht besonders ausgeprägt. Schließlich würden sie ja ohnehin bald wieder zurückkehren in das Land, aus dem ihre Eltern kamen.

Das war die Idee hinter dem System: Die Italiener, Türken, Portugiesen sollten die Arbeit bewältigen, solange sie anfiel. Fiel keine mehr an, sollten sie Deutschland wieder verlassen. Dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl schwebte offenbar eine konkrete Idee vor: Man sollte die Türken möglichst wieder loswerden. In den sogenannten Thatcher-Protokollen, die von Gesprächen des Altkanzlers mit der damaligen britischen Premierministerin zeugen, heißt es: »Kanzler Kohl sagte, (…) über die nächsten vier Jahre werde es notwendig sein, die Zahl der Türken um 50 Prozent zu reduzieren – aber er könne dies noch nicht öffentlich sagen.« Weiter soll er laut Protokoll geäußert haben: »Deutschland habe kein Problem mit den Portugiesen, den Italienern, selbst den Südostasiaten, weil diese Gemeinschaften sich gut integrierten. Aber die Türken kämen aus einer sehr andersartigen Kultur.«

Insgesamt war der damalige gesellschaftliche Konsens in der Bundesrepublik: »Die Türken sind Gastarbeiter und müssen heim«, wie es der Freiburger Historiker Ulrich Herbert ausdrückt. In diesem gesellschaftlichen Klima wäre es also nur normal gewesen, hätte ich einen Job an der Supermarktkasse angenommen und wäre dann schnellstmöglich mit meinen Eltern in die Türkei gezogen, auf Nimmerwiedersehen. Doch es kam anders.

Ich werde immer wieder gefragt, wie ich es »geschafft« habe. Was bei mir anders war als bei anderen mit ähnlichen Voraussetzungen. Wie aus dem Arbeiterkind mit türkischen Wurzeln, aufgewachsen in einem Dorf im Kreis Lippe, die bundesweit bekannte Journalistin und Moderatorin wurde, die ihre Zuschauer und Zuschauerinnen zur besten Sendezeit im deutschen Fernsehen begrüßt. Die den Bundespräsidenten trifft, für ein Interview mit dem türkischen Ministerpräsidenten mal eben in die Türkei fliegt. Gesundheitsminister Jens Spahn zur Corona-Krise interviewt und Kanzlerin Angela Merkel zur Jugend von heute. Die einen Politik-Talk moderiert und ein KanzlerInnen-Triell. Deren Vater, ein treuer Nachrichtengucker, es manchmal immer noch nicht glauben kann, dass sein Nachname im deutschen Fernsehen auftaucht. Dem Fernsehen, mit dem er, wie viele andere Migranten auch, einst die deutsche Sprache gelernt hat.

Wie kann der Aufstieg gelingen für Menschen, die eine andere soziale Herkunft haben? Die nicht zum Bildungsbürgertum gehören und denen von außen betrachtet keine aussichtsreichen Chancen in die Wiege gelegt wurden. Deren Eltern zumal nicht im deutschen System groß geworden sind, die hiesige Sprache erst erlernen mussten und ebenso die kulturellen Gepflogenheiten. Eltern, die anfangs im Hinterkopf hatten, ohnehin irgendwann wieder in die Heimat zurückzukehren. Was wir übrigens 1986 auch taten. Ich war gerade acht Jahre alt, als wir mit Sack und Pack nach Istanbul zogen. Dieses einschneidende Erlebnis ist ein Kapitel für sich, von dem ich später erzählen will.

Wie gelingt es, den vermeintlich vorgezeichneten Weg zu verlassen, zum Aufsteiger zu werden und sein soziales Umfeld zu verändern?

Es ist nicht der eine Punkt, der die Wende bringt. Nicht der eine Mensch, der einem hilft. Nicht der eine Schritt, den man selber geht. Nicht die eine gesellschaftliche Veränderung, die entscheidend ist. Es ist eine multikausale Erzählung. Eine Erzählung, die individuell betrachtet werden sollte, die aber gleichzeitig ohne bestimmte äußere Faktoren nicht auskommt. Es ist eine Erzählung, über die ich mir vor allem nach meinem Start bei den tagesthemen viele Gedanken gemacht habe. Wurde ich doch ab diesem Moment zur bundesweit bekannten »Moderatorin mit Migrationshintergrund«, im Winter 2013/2014, als ich bereits seit fast 15 Jahren als Journalistin und Moderatorin arbeitete. Die Wochenzeitung Die Zeit titelte damals: »Sie sprechen aber gut Deutsch« – ein merkwürdiger Satz, von dem ich der Autorin erzählt hatte, weil ich ihn immer wieder in meinem Leben zu hören bekam. Die Schlagzeile bei Spiegel Online lautete: »Türken haben immer noch ein Gastarbeiter-Image.« Auch eines meiner Zitate, allerdings ebenso eines von vielen anderen, die ich in dem Interview geäußert hatte. Aber dieses schaffte es in die Headline. Fast kein Interview, kein Zeitungsbericht wurde verfasst ohne den Hinweis auf meine türkische Herkunft, meinen sogenannten Migrationshintergrund. Von außen betrachtet, schien dieser Punkt der wichtigste zu sein, wenn es um die Moderation der tagesthemen ging.

Mich hat das in dieser Massivität überrascht. Schließlich war ich in Deutschland geboren, hatte den deutschen Pass und arbeitete schon seit einer gefühlten Ewigkeit für Rundfunk und Fernsehen. Ich habe mich immer als natürlichen Teil der Gesellschaft gesehen. Nie aus einer Opferperspektive auf die Welt geblickt. Und nie aus der Sicht einer Minderheit....

Erscheint lt. Verlag 18.10.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Arbeiterkind • ARD • Bildungsaufsteiger • Bildungsungleichheit • Biografie • Biographien • Caren Miosga • eBooks • Erfolgsgeschichte • Ingo Zamperoni • Königin der bunten Tüte • Linda Zervakis • Nachrichtensprecherin • Pädagogik • Psychologie • Sozialer Aufstieg • Soziologie • Tagesthemen
ISBN-10 3-641-27884-8 / 3641278848
ISBN-13 978-3-641-27884-7 / 9783641278847
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