Hidden Valley Road (eBook)

Im Kopf einer amerikanischen Familie

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021
512 Seiten
btb Verlag
978-3-641-22452-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Hidden Valley Road - Robert Kolker
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Die Galvins schienen den amerikanischen Traum zu leben: Don beruflich erfolgreich bei der Air Force, Mimi treusorgende Ehefrau und Mutter von zwölf Kindern. Doch hinter der Fassade ihres schmucken Heims in der Hidden Valley Road verbarg sich eine ganz andere Realität, geprägt von mentalen Zusammenbrüchen, plötzlichen Gewaltexzessen und Missbrauch. Bis zur Mitte der 70er-Jahre erhielten sechs der zehn Galvin-Brüder die Diagnose Schizophrenie. Die Krankheit machte alle zu Opfern, besonders aber die beiden jüngsten der Geschwister und einzigen Mädchen. Der Fall der Familie war so außergewöhnlich, dass das amerikanische National Institute for Mental Health ausführliche Studien mit ihnen machte. Ihre einzigartige DNA war die Basis für bahnbrechende medizinische Fortschritte bei der Behandlung von Schizophrenie, einer Krankheit mit vielen Unbekannten.

In einer herausragenden erzählerischen Tour de Force erzählt New York Times-Bestsellerautor Robert Kolker nicht nur ein Stück unglaublich spannender Medizingeschichte, sondern auch die zu Herzen gehende Geschichte einer Familie, die gegen ihr Schicksal kämpft.

Robert Kolker ist preisgekrönter Journalist, der für das New York Magazine und Bloomberg Business Week gearbeitet hat. Seine Sachbücher sind New York Times-Bestseller, »Lost Girls« wurde unter demselben Titel verfilmt. Robert Kolker lebt mit seiner Familie in Brooklyn.

PROLOG


1972


Colorado Springs, Colorado

Ein Bruder und eine Schwester gehen zusammen aus dem Haus, durch die Verandatür, die von der Küche in den Hinterhof führt. Sie sind ein seltsames Paar. Donald Galvin ist siebenundzwanzig Jahre alt, trägt eine rasierte Glatze, sein Kinn zeigt die Anfänge eines biblisch ungepflegten Barts. Mary Galvin ist sieben, halb so groß, hat hellblondes Haar und eine Stupsnase.

Die Familie Galvin lebt im Woodmen Valley, einem Streifen Wald und Ackerland, der sich zwischen die Berghänge und Sandstein-Hochebenen im Herzen Colorados schmiegt. In ihrem Hinterhof riecht es süßlich nach Kiefer, frisch und erdig. In der Nähe des Hofes flattern Winterammern und Blauhäher in einem Felsgarten herum, wo das Haustier der Familie, ein Habicht namens Athol, in einem Gehege Wache steht, das ihr Vater vor vielen Jahren errichtet hat. Das kleine Mädchen geht voran. Bruder und Schwester kommen an dem Gehege vorbei und besteigen einen kleinen Hügel. Der Weg führt über Steine, die mit Flechten bewachsen und ihnen beiden sehr vertraut sind.

Zwischen Mary und Donald gibt es noch zehn weitere Kinder verschiedenen Alters – insgesamt haben die Galvins zwölf Kinder; genug für eine Footballmannschaft, wie ihr Vater gern scherzt. Die anderen haben längst Ausreden gefunden, sich so weit wie möglich von Donald fernzuhalten. Diejenigen, die nicht alt genug sind, um wegzuziehen, spielen Hockey oder Fußball oder Baseball. Marys Schwester Margaret – das einzige andere Mädchen und dasjenige Geschwisterkind, das Mary altersmäßig am nächsten ist – besucht vielleicht gerade die Skarkes-Mädchen nebenan oder ist ein paar Häuser weiter bei den Shoptaughs. Mary hingegen, die erst in der zweiten Klasse ist, kann nach der Schule meist nirgendwo anders hingehen als nach Hause, wo außer Donald niemand auf sie achtet.

Mary hasst alles an Donald. Es beginnt schon bei seinem kahl rasierten Kopf und seiner Lieblingskleidung, einem rotbraunen Bettlaken, das er im Stil einer Mönchskutte um sich wickelt.

Manchmal vervollständigt er das Kostüm mit Pfeil und Bogen aus Plastik, mit denen seine kleinen Brüder früher gespielt haben. Bei jedem Wetter wandert Donald in diesem Aufzug durchs Viertel, Kilometer um Kilometer, den ganzen Tag und bis in die Nacht hinein – erst die Straße entlang, die unbefestigte Hidden Valley Road, vorbei am Konvent und an dem Milchhof im Woodmen Valley, immer am Straßenrand weiter oder auf den Mittelstreifen der Landstraßen. Oft bleibt er an dem Gelände der United States Air Force Academy stehen, wo ihr Vater früher gearbeitet hat und wo heute viele Leute so tun, als erkennen sie ihn nicht. Näher an seinem Zuhause hat Donald im Pausenhof der örtlichen Grundschule schon oft den Aufseher gespielt und den dort spielenden Kindern in seinem weichen, beinahe irischen Akzent verkündet, er sei ihr neuer Lehrer. Damit hört er erst auf, wenn der Schulleiter ihn auffordert fernzubleiben. In solchen Augenblicken leidet die Zweitklässlerin Mary sehr darunter, wie klein die Welt ist: Alle wissen nämlich, dass sie Donalds Schwester ist.

Marys Mutter hat Übung darin, solche Momente mit einem Lachen abzutun und sich zu verhalten, als wäre nichts Ungewöhnliches daran. Alles andere käme einem Eingeständnis gleich, dass sie im Grunde keinen Einfluss auf die Situation hat – dass sie nicht begreift, was in ihrem Haus geschieht, und noch weniger, was sie dagegen unternehmen soll. Mary wiederum bleibt nichts anderes übrig, als möglichst gar nicht auf Donald zu reagieren. Ihr entgeht nicht, wie aufmerksam sowohl ihr Vater als auch ihre Mutter sämtliche ihrer Kinder beobachten, um Alarmzeichen frühzeitig zu erkennen: Peters Aufbegehren, Brians Drogen, Jim und seine Prügeleien, Richard, der einen Schulverweis bekommen hat, und Michael, der sich inzwischen vollkommen abkapselt. Mary weiß: Wenn sie sich beklagt oder weint oder sonst irgendwelche Gefühle zeigt, könnte das ein Zeichen dafür sein, dass vielleicht auch mit ihr etwas nicht stimmt.

Tatsache ist außerdem, dass die Tage, an denen Mary Donald in seinem Betttuch sieht, immer noch besser sind als manche anderen Tage. Wenn sie nach der Schule nach Hause kommt, ist ihr Bruder manchmal mit etwas beschäftigt, das nur er allein versteht – etwa, wenn er das gesamte Mobiliar des Hauses in den Hinterhof verlagert oder Salz ins Aquarium kippt und dadurch alle Fische vergiftet. Oder er ist im Bad und erbricht seine Medikamente: Stelazine und Thorazine und Haldol und Prolixine und Artane. Manchmal sitzt er auch ganz still und vollkommen nackt mitten im Wohnzimmer. Ein andermal ist die Polizei da, weil ihre Mutter sie gerufen hat, nachdem es zwischen Donald und einem oder mehreren seiner Brüder wieder einmal zu Feindseligkeiten gekommen ist.

Meistens aber ist Donald durch und durch mit religiösen Angelegenheiten beschäftigt. Er erklärt, der heilige Ignatius habe ihm einen akademischen Grad in »spiritueller Übung und Theologie« verliehen, und verbringt einen Großteil seiner Tage und viele Nächte damit, lauthals das Apostolikum und das Vaterunser sowie eine selbst ersonnene Liste zu rezitieren, die er die »Priesterweihe« nennt und deren Logik sich nur ihm erschließt: D.O.M., Benediktiner, Jesuiten, der Orden des heiligen Herzens, der Orden der unbefleckten Empfängnis, Marienorden, Orden der unbefleckten Maria, Oblatenorden, die Familie May, Dominikaner, Heilig-Geist-Orden, der Heilige Geist, die Franziskanermönche, die armenische apostolische Kirche, die apostolische Kirche, die Trappisten …

Für Mary sind diese Gebete wie ein Wasserhahn, der nicht aufhören will zu tropfen. »Schluss damit!«, schreit sie zwar, doch Donald hört nicht auf sie und unterbricht seinen Redefluss kaum, um zu atmen. In seinem Verhalten nimmt sie einen Vorwurf wahr, der ihrer gesamten Familie, insbesondere jedoch ihrem Vater gilt, einem frommen Katholiken. Mary bewundert ihren Vater. Das gilt auch für alle anderen Kinder der Familie Galvin – sogar für den Donald in der Zeit, bevor er erkrankte. Wenn Mary sieht, dass ihr Vater das Haus nach Belieben betritt und wieder verlässt, beneidet sie ihn. Sie überlegt, welche Selbstbestimmung ihr Vater dadurch genießt, dass er die ganze Zeit so hart arbeitet. So hart nämlich, dass er rausdarf.

Besonders unerträglich ist es für Mary, wie ihr Bruder sie aussondert – nicht, weil er grausam ist, sondern, weil er gütig, sogar liebevoll ist. Ihr voller Name lautet Mary Christine, also hat Donald beschlossen, sie sei die heilige Jungfrau Maria, die Mutter Christi. »Das bin ich aber nicht!«, schreit Mary immer wieder. Sie glaubt, er will sie bloß necken. Es wäre nicht das erste Mal, dass einer ihrer Brüder sie zum Narren halten möchte. Aber Donald ist dabei so unumstößlich ernst, so inbrünstig, so ehrfürchtig, dass Mary nur noch zorniger wird. Er hat Mary zum erhabenen Objekt seiner Gebete erkoren und sie damit in seine Welt geholt, also an den letzten Ort, wo sie je sein wollte.

Der Gedanke, der Mary nun kommt, die Lösung des Problems Donald, ist eine direkte Reaktion auf diesen Zorn. Ihre Inspiration bezieht sie aus den Sandalenfilmen, die ihre Mutter manchmal im Fernsehen anschaut. Die Idee beginnt damit, dass sie sagt: »Komm, wir gehen auf den Hügel.« Donald ist mit allem einverstanden, was die Heilige Jungfrau verlangt. Dann schlägt Mary vor, an einem Baumast eine Schaukel zu basteln. »Wir holen ein Seil«, sagt sie. Donald tut, wie ihm geheißen. Schließlich, so der Plan, wählt Mary einen Baum aus, eine von vielen hohen Kiefern, und sagt zu Donald, dass sie ihn gern daran fesseln würde. Donald sagt Ja und gibt ihr das Seil.

Selbst, wenn Mary ihren Plan gegenüber Donald offenbaren würde – ihn wie die Ketzer in den Filmen an dem Stamm zu verbrennen –, ist es fraglich, ob und wie er reagieren würde. Er ist viel zu sehr mit Beten beschäftigt. Dabei lehnt er sich eng an den Baumstamm, verloren in seinem Sprechgesang, während Mary mit dem gestrafften Seil so lange den Baum umkreist, bis sie ganz sicher ist, dass er sich nicht mehr selbst befreien kann. Donald widersetzt sich nicht.

Sie sagt sich, dass ihn niemand vermissen wird, wenn er fort ist – und dass niemand sie verdächtigen wird. Sie macht sich auf die Suche nach Feuerholz und kehrt mit Armen voller Äste und Zweige zurück, die sie zu seinen nackten Füßen niederlegt.

Donald ist bereit. Wenn Mary tatsächlich diejenige ist, für die er sie hält, kann er ja auch schlecht Nein sagen. Er ist ruhig, geduldig und freundlich.

Er verehrt sie.

An diesem Tag jedoch meint es Mary nur bis zu einem gewissen Punkt ernst. Sie hat keine Streichhölzer, kann also gar kein Feuer machen. Entscheidender noch ist, dass sie nicht wie ihr Bruder ist. Sie steht mit beiden Füßen auf dem Boden, ihr Verstand wurzelt in der Realität. Wenigstens das möchte sie unbedingt beweisen, nicht nur ihrer Mutter, sondern auch sich selbst.

Also führt sie ihren Plan nicht aus. Sie lässt Donald auf dem Hügel zurück. Er bleibt dort oben, umgeben von Fliegen und Kuhschellen, bleibt einfach sehr lange dort stehen und betet weiter. Lange genug, um Mary etwas Zeit für sich selbst zu verschaffen, aber nicht so lange, dass er gar nicht wieder herunterkommt.

Heute kann sie darüber lachen. »Margaret und ich lachen«, sagt sie. »Ich weiß nicht, ob andere das auch so komisch fänden.«

An einem eiskalten Winternachmittag im Jahr 2017 – volle fünfundvierzig Jahre, eine ganze Lebensspanne, nach jenem Tag...

Erscheint lt. Verlag 1.11.2021
Übersetzer Henning Dedekind
Sprache deutsch
Original-Titel Hidden Valley Road. Inside the Mind of an American Family
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Barack Obama favorite books 2020 • Barack Obamas Best Books 2020 • Biografie • Biographien • eBooks • Familienschicksal • Geschwisterbeziehung • Medizin • Medizingeschichten • New York Times Bestseller • Psychiatrie • Psychologie • Schizophrenie
ISBN-10 3-641-22452-7 / 3641224527
ISBN-13 978-3-641-22452-3 / 9783641224523
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