Der Todespfleger (eBook)

Warum konnte Niels Högel zum größten Serienmörder der deutschen Nachkriegsgeschichte werden?
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2021 | 1. Auflage
320 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-27211-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Todespfleger -  Karsten Krogmann,  Marco Seng
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Klinikum Delmenhorst im Juni 2005: Auf der Intensivstation hat die Spätschicht begonnen. Krankenpfleger Niels Högel tritt in das Zimmer eines komatösen Patienten und spritzt ihm unerlaubt ein Medikament. Kurz darauf ist der Patient tot. Und ihm folgen weitere. Hinweise auf die Machenschaften des »Todespflegers« gab es frühzeitig, doch erst ein Jahrzehnt später wird das verheerende Ausmaß seiner Taten deutlich. Nachweislich hatte Högel 91 Menschen in zwei deutschen Krankenhäusern ermordet, wofür er 2019 zu lebenslänglicher Haft verurteilt wurde. Die preisgekrönten Journalisten Karsten Krogmann und Marco Seng waren hautnah an den Ermittlungen beteiligt und rollen den Fall in ihrem Buch nun von vorn auf. Sie entlarven ein trügerisches System aus strengen Hierarchien, Abhängigkeiten und Profitgier und das Versagen der Ermittlungsbehörden. Nur der Courage weniger ist es zu verdanken, dass Högel schließlich überführt werden konnte. Mit überraschenden und teilweise schockierenden Wendungen lassen Krogmann und Seng bisher unbekannte Fakten zur Mordserie einfließen, verdichten die verschiedenen Handlungsstränge zu einer fesselnden Kriminalhandlung - und liefern ein Psychogramm des skrupellosesten Serientäters der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Karsten Krogmann, Jahrgang 1968, ist ehemaliger Chefreporter der Nordwest-Zeitung in Oldenburg und seit 2020 Pressechef des WEISSEN RINGS in Mainz, Deutschlands größter Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer. Krogmanns Artikel wurden mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Theodor-Wolff- und dem Nannen-Preis. Wenn er nicht schreibt, spielt er Bass in einer Heavy-Metal-Band. Er lebt mit seiner Familie in Oldenburg und Mainz.

KAPITEL 1

100 TOTE PATIENTEN


Weser-Ems-Halle Oldenburg, Dienstag, 30. Oktober 2018


Frank Brinkers ist früh aufgestanden an diesem Morgen, er will auf keinen Fall zu spät kommen. Um 5.40 Uhr steigt er in seinen Opel und fährt auf die nahe Bundesstraße. Noch sind nur wenige Lastwagen unterwegs, er braucht kaum eineinhalb Stunden für die 111 Kilometer aus dem Lingener Ortsteil Laxten nach Oldenburg.

Brinkers, 43 Jahre alt, ist ein großer, schwerer Mann, er arbeitet als Schlosser im Maschinenbau. Die Haare sind ihm früh ausgegangen, geblieben ist das jungenhafte Gesicht. Heute hat der Chef ihm freigegeben, Überstunden.

Er fährt auf die Autobahn, zunächst auf die A1, dann auf die A29. Vor Oldenburg breitet sich plattes Land aus, der Blick reicht kilometerweit, kaum ein Baum verstellt die Sicht. Von der fast 30 Meter hohen Huntebrücke aus kann er die Stadt sehen: den Fluss, ein paar Hafenkräne, schließlich Wohnbebauung, eher Häuschen als Häuser. Die einzigen echten Erhebungen vor dem Horizont sind ein Futtersilo, ein alter Wasserturm und ganz hinten die spitzen Backsteintürme der Lambertikirche.

Er hasst diese Stadt. Erst einmal war er dort, vor 17 Jahren. Das Krankenhaus hatte ihn angerufen, nachdem sie seinen Vater mit dem Hubschrauber in die Herzklinik geflogen hatten. Als er spätabends in Oldenburg ankam, zeigten sie ihm den toten Vater.

Um kurz nach sieben Uhr biegt Brinkers vom Autozubringer in Richtung Zentrum ab, es ist immer noch dunkel. Er ist viel zu früh dran.

Schilder weisen ihm den Weg zu den »Weser-Ems-Hallen«. Eine seltsame Stadt ist das, wenn man zum ersten Mal die Donnerschweer Straße hinauffährt, vorbei an Ein- und Zweifamilienhäusern, einer Stadtteilkirche, einer kleinen Schule, dunklen Ladengeschäften. 170 000 Einwohner, Universitätsstadt, Oberzentrum, aber irgendwie viel zu klein für eine Großstadt: einspurige Straßen, alles flach, Häuser wie bei Brinkers zu Hause auf dem Dorf im Emsland. Ein Riesendorf, das Unglück bringt.

Brinkers muss links abbiegen, er hat die Halle erreicht. Vor dem Haupteingang stehen die Übertragungswagen der Fernsehteams, auf den Autos und auf den Kameras sieht er die bekannten Logos: ZDF, RTL, NDR. Die Techniker sind vor dem Regen in die Wagen geflüchtet. Brinkers parkt seinen Opel ein Stück abseits an der Zufahrtsstraße.

Vorhin war ihm ein kleines Café aufgefallen, »Der Bäckerladen«. Dorthin läuft er jetzt zurück. Er zieht seine Jacke zu, es ist kalt, es regnet. Am Tresen bestellt er einen Latte macchiato. Schweigend wartet er darauf, dass die Zeit vergeht.

Nach einer Stunde beschließt er, dass er lange genug gewartet hat. Er geht zurück zur Halle.

Im Festsaal feiern die Oldenburger sonst Abiturbälle oder die »Top Party« zum Kramermarkt, dem größten Volksfest der Region. Die Esoterikfreunde haben hier getagt und der Blindenverein, der Stadtsportbund kürte seine Sportler des Jahres. Jetzt steht eine Richterbank am Kopfende des Saals. Davor, auf 700 Quadratmetern frisch geöltem Parkett, sind Hunderte von rot gepolsterten Stühlen aufgereiht. Justizbeamte und Hallentechniker haben die Festhalle in den größten Gerichtssaal Deutschlands verwandelt. Sie haben mobile Aktenschränke aufgebaut, sie haben Sicherheitsschleusen in den Eingang gestellt, sie haben draußen das Amtsschild mit dem Niedersachenross angebracht: »Landgericht Oldenburg, Nebenstelle Weser-Ems-Hallen«.

Im ganzen Oberlandesgerichtsbezirk Oldenburg gab es keinen Gerichtssaal, der groß genug gewesen wäre für diesen Prozess: 126 Nebenkläger haben sich dem Verfahren angeschlossen, ihnen steht an jedem Verhandlungstag ein Sitzplatz zu, ebenso ihren 17 Anwälten, den Richtern und Ersatzrichtern, Schöffen und Ersatzschöffen, Staatsanwälten, Verteidigern, Gutachtern. Es gibt Plätze für 80 Journalisten und 112 Zuschauer. 400 Menschen in einem Gerichtssaal: Einen größeren Mordprozess gab es in Deutschland seit den NS-Prozessen nicht.

Frank Brinkers atmet tief durch. Dann schiebt er sich an den frierenden Fernsehjournalisten vorbei. Ein Justizbeamter öffnet ihm die Tür. Im Saal sucht sich Brinkers einen Platz vorn rechts. Er hat sich etwas vorgenommen: Er will dem Kerl in die Augen schauen!

Um 8.50 Uhr wird es still in der Halle, Wachtmeister führen den Angeklagten durch einen Seiteneingang zu seinem Platz. Den Kerl. Niels Högel trägt eine schusssichere Weste unter der Camp-David-Jacke, sein Gesicht versteckt er hinter einer Aktenmappe. Er wird es erst zeigen, wenn die Fotografen und Kamerateams den Saal verlassen haben.

4878 Tage sind vergangen, seit ihn seine Kollegin, Schwester Almut, im Klinikum Delmenhorst auf frischer Tat ertappt hat. Högel ist jetzt 41 Jahre alt, ein massiger Mann mit Bart, die kurzen Haare anrasiert.

Die Anklagebank steht links im Saal. Högel sitzt neben seinen Pflichtverteidigerinnen Ulrike Baumann und Kirsten Hüfken, er muss den Zuschauern sein Profil zuwenden; jeder kann sein seit der Geburt verkümmertes rechtes Ohr sehen. Zwei große Leinwände übertragen das aufgequollene Gesicht Högels in den Saal. Es braucht Fantasie, um hinter den schweren Tränensäcken den jungen Mann zu erahnen, der so viel Schlag bei Frauen hatte. Im Saal werden die Zuschauer später immer wieder den Kopf schütteln, wenn von seinen Affären mit Kolleginnen im Krankenhaus die Rede ist.

Niels Högel ist angeklagt wegen Mordes an 100 Patienten. Oberstaatsanwältin Daniela Schiereck-Bohlmann wird über eine Stunde brauchen, die Anklageschrift zu verlesen: 100 Mordvorwürfe; 100 Namen, Geburtstage, Todestage; 100 Trauerfälle.

Vorher aber macht der Vorsitzende der 5. Strafkammer des Landgerichts, Richter Sebastian Bührmann, etwas Ungewöhnliches: Er bittet die Menschen im Saal, sich für eine Schweigeminute zu erheben. Es ist eine Geste, die bei den Angehörigen der toten Patienten und in der Öffentlichkeit sehr gut ankommt, die Bührmann in Justizkreisen aber auch Kritik einbringt.

Bührmann ist 54 Jahre alt, er ist gläubiger Katholik, Sportler, Fußballfan. Mit Freunden ist er 2014 zur Fußballweltmeisterschaft nach Brasilien gereist, die Fußballabende bei ihm zu Hause haben den Ruf, kleine Nachbarschaftsfeste zu sein. Er ist ein fröhlicher, zugänglicher Mann, gesellig, emphatisch.

Vor allem aber ist er ein erfahrener Richter, er gilt in Oldenburg als Mann für die spektakulären Fälle. Er verhandelte im festungsgleich gesicherten Landgericht gegen wütende Mitglieder einer Rockergang und ließ gleich bei der ersten Geste der Provokation demonstrativ den Saal räumen; es sollte erst gar kein Zweifel aufkommen, wer hier das Sagen hat. Er verurteilte einen Vater, der vor einer Schule aus kürzester Entfernung auf die Mutter seiner Kinder schoss. Sein bekanntester Fall war der sogenannte Holzklotzmord: Ein 30-Jähriger hatte am Ostersonntag 2008 von einer Autobahnbrücke einen sechs Kilogramm schweren Holzklotz auf das fahrende Auto einer vierköpfigen Familie geworfen, die junge Mutter starb vor den Augen ihrer Kinder. Bührmann sprach das Urteil »lebenslänglich«, und er tat etwas, das zu seinem Markenzeichen werden sollte: Er nahm sich Zeit für die Opfer. Er richtete mitfühlende und aufbauende Worte an den Ehemann der getöteten Frau: »Herr K., wir, das Gericht und viele Menschen in Deutschland, fühlen tief mit Ihnen. Wenn Sie nicht so fantastisch reagiert hätten, wären auch Ihre Kinder tot. Sie haben Ihre Kinder gerettet! Sie haben das Leben Ihrer Kinder gerettet! Bei Ihrer Frau allerdings hatten Sie keine Chance.«

Zweimal saß Bührmann in einem Gerichtsaal auch schon dem Angeklagten Högel gegenüber, 2008 und 2014/15. Dies ist sein dritter Högel-Prozess. »Herr Högel, wir kennen uns«, wird er später sagen.

Im Festsaal schaut Bührmann jetzt aber nicht den Angeklagten an, sondern die vielen Angehörigen der Toten. Er sagt: »Wir wollen an die denken, die auch im Raum sind, aber nicht körperlich.« Bührmann spricht nicht von »Opfern«. Er riskiert keinen Befangenheitsantrag, er vorverurteilt den Angeklagten nicht. Er möchte den Angehörigen der toten Patienten nur zeigen: Dieser Prozess ist für euch.

Die Oberstaatsanwältin liest den ersten Namen vor: Else S., geboren am 2. August 1922, verstorben am 7. Februar 2000 im Klinikum Oldenburg. »Das Versterben der Frau S. nahm der Angeklagte zumindest billigend in Kauf«, sagt Daniela Schiereck-Bohlmann. Sie wiederholt diesen Satz noch 99 Mal, nur die Namen der Toten wechseln.

Frank Brinkers kennt die Akten, er hat auch die Anklageschrift gelesen. Dennoch wird ihm kalt, als die Oberstaatsanwältin zu Nummer 27 kommt und laut den Namen seines Vaters vorliest: Bernhard Brinkers, verstorben am 14. September 2001 um 21.30 Uhr im Klinikum Oldenburg.

Der Vater war 63 Jahre alt, als er starb. Die Arbeit in der Lackiererei hatte er schon länger aufgegeben, er war nierenkrank, ein Dialysepatient. Aber es ging ihm gut als Rentner. Er unternahm weiter seine Fahrradtouren, er las seine Krimis und Westernromane, er gab im Spielmannszug den Takt vor. Bernhard Brinkers schlug die Pauke.

Dann kam der Herzinfarkt. Auch den überstand er, aber als sich in beiden Herzkammern Blutgerinnsel bildeten, schlugen die Ärzte im Krankenhaus Lingen Alarm: Das sei ein Fall für die Spezialisten. Ein Rettungshubschrauber brachte Brinkers nach Oldenburg ins städtische Klinikum, die Herzchirurgie dort hatte einen tadellosen Ruf im Nordwesten. Gleich am nächsten Tag kam Bernhard Brinkers unters Messer.

Frank Brinkers war unruhig. Immer wieder rief er am Abend in Oldenburg an. Die Pfleger vertrösteten ihn, »Ihr Vater befindet...

Erscheint lt. Verlag 20.9.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte eBooks • Echte Kriminalfälle Bücher • Krankenhausmörder • Kriminalfälle Buch • Kriminalpsychologie • Kriminologie • Psychogramm • Psychologie • Serientäter • Thriller Neuerscheinung 2021 • True Crime • Wahre Verbrechen • ZEIT Verbrechen
ISBN-10 3-641-27211-4 / 3641272114
ISBN-13 978-3-641-27211-1 / 9783641272111
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