Die Macht der Maschen (eBook)
240 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-25891-7 (ISBN)
Loretta Napoleoni beschwört das Stricken als wertvolles Band zwischen Menschen: So wie sie selbst das Stricken als Kind von ihrer Großmutter gelernt und dabei viel von ihr über das Leben und die Welt erfahren hat, hat Napoleoni es an ihre Patentochter weitergegeben. In ihrem sehr persönlichen Buch beschreibt sie nicht nur, wie Stricken Menschen und Generationen einander näher bringt, sondern auch wie es der Seele Trost spendet und mitunter sogar therapeutische Wirkung entfaltet. Sie erzählt Geschichte und Geschichten, in denen das Stricken eine Rolle spielt, und schildert vielfältige kulturelle Traditionen, die sich mit dem Stricken verbinden. Durchgehend farbig illustriert und um 10 originelle Strickanleitungen ergänzt, ist Napoleonis Liebeserklärung an das Stricken das ideale Geschenk für alle, die leidenschaftlich gerne zu Nadeln und Wolle greifen.
Loretta Napoleoni, geboren 1955 in Rom, ist Ökonomin, Journalistin, Buchautorin und politische Analystin. Bekannt wurde die Terrorismusexpertin vor allem durch ihre Untersuchung der ökonomischen Grundlagen des internationalen Terrorismus.
EINLEITUNG
Stricklektionen über Liebe, Politik und Wirtschaft
Ein Stirnband, ein hellblaues Stirnband, war das Erste, was ich strickte. Ich muss sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein, als ich unter Anleitung meiner Großmutter zum ersten Mal zu den Stricknadeln griff. Wenn ich meine Augen schließe, kann ich uns beide noch immer im goldenen Schein meiner kostbarsten Erinnerungen sehen. Wir sitzen ganz nah beieinander, mein Ellbogen ruht auf ihrem, und ihr ausladender Körper wärmt meine linke Seite. Ich bin aufgeregt. Irgendwie begreife ich, dass dies ein Übergangsritus ist, ein winzig kleiner Schritt auf meiner Reise ins Erwachsensein, ins Frausein, und ich will ihn unbedingt vollziehen. Obgleich ich nervös bin. Ich umklammere das Garn zwischen meinen Fingern mit aller Macht, als hätte ich Angst, dass es sich davonstehlen könne. Meine Großmutter sieht mich an, lächelt und nimmt mir das Garn aus der Hand. Dann steckt sie vorsichtig eine Nadel unter meinen rechten Arm, schließt meine linke Hand um die andere, legt mir das Garn wieder in die rechte Hand und beginnt, mir das Stricken zu zeigen. »Entspann dich«, sagt sie leise. »Fass das Garn nicht zu straff und nicht zu locker. Betrachte es als Freund und lass es um die Nadeln tanzen.«
Und so nahm meine Liebesbeziehung zum Stricken ihren Anfang.
Ich prägte mir Stundenpläne ein, lernte Gedichte auswendig und betete den Rosenkranz, während ich mit meiner Großmutter strickte. Aus linken und rechten Maschen wurden Zahlen, Wörter klangvoller Sätze, Ave-Marias und Vaterunser, alles verwoben in dem magischen Gewebe unserer Liebe. Sie verbanden Großmutters Leben mit meinem, sodass sie ihr Wissen weitergeben, sodass ihre Lehren mich von Masche zu Masche bis ans Ende meiner Tage anleiten konnten. Später, in meinen Zwanzigern, gab ich als engagiertes Mitglied der feministischen Bewegung dieses Wissen an traumatisierte Frauen weiter, die Beistand in unserer Organisation suchten. Mit Nadeln und Garn in der Hand, weil ich Kleidung für mich strickte, hieß ich sie bei unseren Treffen willkommen.
Meine Großmutter wurde 1900 geboren. Sie war vierzehn, als der Erste Weltkrieg ausbrach, achtzehn, als sie meinem Großvater begegnete, neununddreißig, als der Zweite Weltkrieg begann, fünfundfünfzig, als ich geboren wurde, und neunundfünfzig, als ihr Ehemann starb. Sie hatte die Verwüstungen des Krieges nicht nur einmal, sondern zweimal erlebt, den Faschismus erlitten, sie war dem italienischen Widerstand beigetreten und Zeugin der Geburt der italienischen Demokratie geworden. Sie war ein lebendes Geschichtsbuch, und ich wurde nie müde, darin zu lesen.
Ihre Geschichten waren erstaunlich – furchterregend, traurig und lustig zugleich –, aber vor allem waren sie wahr. Sie erzählte sie mir, während wir zusammen strickten. Fasziniert erfuhr ich, wie die Welt in eine globale Krise geschlittert war und wie ihre Brüder und ihr zukünftiger Ehemann an die Front gezogen waren, um gegen den bösen Feind zu kämpfen. In Großmutters Stimme schwang großer Stolz mit, ein Stolz, der die Schrecken der Schützengräben, die Kälte, den Schlamm, den Hunger und die Ratten übertünchte. Großmutter versuchte nie, die Gräuel des Krieges und die Unmenschlichkeit der Schützengräben zu verbergen, aber sie setzte sie in einen Kontext zu den unberechenbaren Mustern von Leben und Politik. Der Krieg war wie eine äußerst komplizierte Abfolge von Maschen. Man durfte keinen Schritt auslassen, sondern musste jeden mit Mut und Entschlossenheit in Angriff nehmen. Ich bin für ihren Realismus dankbar, denn dadurch verstand ich, dass der Frieden keine Selbstverständlichkeit ist und man seine gesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen muss, wenn man ihn beschützen möchte.
Und so wuchs zwischen linken und rechten Maschen meine Liebe zur Politik.
Natürlich war mein Großvater in Großmutters Geschichten der größte aller Helden. Er kämpfte in den Alpen, in der Region Carso an der österreichischen Grenze, an einer der erbarmungslosesten Fronten des Ersten Weltkrieges. Dort in den Schützengräben begegnete er einem der Brüder meiner Großmutter, und die beiden wurden enge Freunde, so eng, dass sie sich die Kleidungsstücke teilten, die Großmutter für ihre Brüder an der Front gestrickt hatte: Westen, Socken, Mützen, Schals, selbst lange Unterhosen und Pullover, die sie im klirrend kalten Winter in den Dolomiten unter ihren Uniformen trugen.
1917 wurde Großmutters Bruder bei einem feindlichen Angriff getötet und mein Großvater schwer verwundet. Als er schließlich genesen war, war der Krieg vorüber. Er beschloss, nach Rom zu fahren, um die Familie seines toten Freundes zu besuchen und der geheimnisvollen Frau zu danken, die ihn in den Gräben warm gehalten hatte. Er brachte ihr ein Paar der bunten, breit gestreiften Socken zurück, die er angehabt hatte, als die deutsche Granate ihn traf, das einzige noch erhaltene Kleidungsstück von all denen, die sie an die Front gesandt hatte. Er entschuldigte sich bei ihr für die Blutflecken, die beim Waschen nicht herausgegangen waren. Großmutter kannte ihn aus den Briefen ihres Bruders, doch sie wusste nicht, dass – als sie sich in ihn verliebt hatte, während sie warme Sachen strickte – er sich auch in sie verliebt hatte, als er die Sachen trug.
Stricken ist ein Akt der Liebe, pflegte meine Großmutter zu sagen, vielleicht um vor mir die Einzigartigkeit ihrer Liebesgeschichte herunterzuspielen. Es gefiel ihr nicht, etwas Besonderes zu sein, sich hervorzuheben. Sie war eine Frau, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts geboren worden war, sie hatte einen angestammten Platz in der Gesellschaft, der Bescheidenheit von ihr verlangte und den sie akzeptierte, ohne ihn zu hinterfragen. Doch mit mir konnte sie dem Käfig entkommen, den die Gesellschaft Frauen zudachte, und ihren scharfsinnigen Geist frei entfalten. Auf den Schwingen unserer Nadeln flogen wir hoch hinauf zu einem besonderen Ort, den niemand kannte. Ich stellte ihn mir als einen gemütlichen, gestrickten Iglu mitten am Nordpol vor.
Dort, in der Ödnis eines Meeres aus Eis, waren wir frei, hatten es warm und konnten die Welt neu erfinden.
STRICKEN IST EIN AKT DER LIEBE, PFLEGTE MEINE GROSSMUTTER ZU SAGEN
»Habe ich dir schon die wahre Geschichte von Dornröschen erzählt?«, fragte sie mich eines Tages, als wir zusammen eine Babydecke für meinen Cousin strickten. Ich sah sie aufgeregt an und schüttelte den Kopf. »Wie du dich vielleicht erinnerst«, begann sie, »wurden zu Dornröschens Geburt zwölf Feen eingeladen, doch eine dreizehnte übergangen, weil das Königspaar nur zwölf goldene Teller besaß.
Zu Dornröschens Taufe tauchte die dreizehnte Fee zu aller Entsetzen plötzlich auf. Sie war außer sich vor Zorn. Statt das Mädchen mit einem Wunsch zu segnen, wie es die anderen Feen getan hatten, verfluchte sie das Kind. An ihrem fünfzehnten Geburtstag, sagte sie voraus, werde sich Dornröschen an einer Spindel stechen und sterben. Zum Glück hatte eine der geladenen Feen ihren Wunsch noch nicht gesprochen. Sie konnte den Fluch nicht rückgängig machen, doch sie konnte ihn mildern. Dornröschen sollte nicht tot umfallen, sondern nur hundert Jahre schlafen, bis sie durch den Kuss eines Prinzen erwachen werde.«
Wir hörten beide auf zu stricken. Ich wollte unbedingt wissen, was als Nächstes geschah, und meine Großmutter war so damit beschäftigt, eines der bekanntesten Märchen umzuschreiben, dass wir unseren Händen eine Pause davon gönnen mussten, den Tanz des Garns um die Nadeln zu dirigieren.
»Und dann?«, fragte ich.
»Und dann«, fuhr sie fort und nahm ihre Strickarbeit wieder auf, »befahl der König seinem Volk, alle Spindeln und alle Spinnräder des Königreiches auf einem riesigen Scheiterhaufen zu verbrennen, um seine Tochter vor dem schrecklichen Fluch zu bewahren. Das war ein großer Fehler. Das Königreich, aus dem Dornröschen stammte, war für seine feine Wolle, seine Seide und die schön gestrickten Kleider allerorts bekannt. Die Menschen kamen von überallher, um sie zu kaufen und Handel mit dem Königreich zu treiben. Es war ein so gutes und einträgliches Geschäft, dass der Großteil der Bevölkerung seinen Lebensunterhalt im Woll- und Seidengewerbe verdiente. Durch das Spinnverbot ging beides ein, mit schrecklichen Folgen für die Wirtschaft des Königreiches. Die Schafzüchter konnten ihre Wolle nicht verkaufen und mussten ihre Herden aufgeben, die Seidenraupen wurden vernachlässigt und starben, die Strickerinnen hatten kein Garn mehr und hörten auf zu stricken. Die Menschen wurden arm und herzlos. Während die Jahre ins Land zogen, befiel Bitterkeit das Königreich, das Volk wandte sich gegen den König, weil er das Spinnen verboten hatte. Die Menschen verloren das Vertrauen in die Gemeinschaft und begannen, das wenige, was ihnen geblieben war, voneinander zu stehlen. Das Königreich, das zu Dornröschens Geburt glücklich, reich und liebenswert gewesen war, war zu ihrem fünfzehnten Geburtstag ein unseliger, elender und eiskalter Ort.
Dornröschen, das das Schloss nicht verlassen durfte, um es vor seinem Schicksal zu bewahren, wusste nicht, was in dem Königreich geschah. Ebenso wenig ahnte die Prinzessin, dass sie der Grund für die einschneidenden Veränderungen war, denn der König und die Königin hatten allen verboten, ihr von dem Fluch zu erzählen. Als Dornröschen an seinem fünfzehnten Geburtstag auf eine alte Frau in einem kaum genutzten Raum des Schlosses traf, die Wolle zu Garn spann, war es augenblicklich von dieser Verwandlung fasziniert und bat, es selbst versuchen zu dürfen.
Als die Prinzessin sich aus...
Erscheint lt. Verlag | 4.10.2021 |
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Übersetzer | Christiane Wagler |
Zusatzinfo | mit zahlreichen farbigen Abb. |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Power of Knitting |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 52 wochen socken stricken • eBooks • generationenverbindend • Geschichte des Strickens • Gesellschaftlicher Zusammenhalt • Häkeln • häkeln buch • Häkeln für Anfänger • häkeln weihnachten • haramaki stricken • Socken stricken • Strickanleitungen • Stricken • stricken als therapie • Stricken aus Leidenschaft • Stricken aus Protest • Stricken Buch • Stricken für Anfänger • Stricken lernen • Strickkultur • Strickmuster • Urban Knitting |
ISBN-10 | 3-641-25891-X / 364125891X |
ISBN-13 | 978-3-641-25891-7 / 9783641258917 |
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