Flüchtige Umarmung (eBook)
256 Seiten
Siedler Verlag
978-3-641-16331-0 (ISBN)
»Alle Menschen sehen sich demselben Rätsel gegenüber: Woher weiß man, wer man ist?«
Aufgewachsen als Sohn eines Mathematikers in einem Vorort auf Long Island, treibt es Daniel Mendelsohn weg von zu Hause, um herauszufinden, wer er ist: Er stürzt sich in sein Studium der Altphilologie und erkennt sich in den Texten der griechischen Klassiker wieder; um seine Wurzeln zu ergründen, erforscht er die Geschichte seiner Familie, osteuropäischer Juden; in New York City wird er Teil der Schwulenszene; die Sehnsucht nach einer eigenen Familie erfüllt sich wider alle Erwartungen.
Ein leidenschaftliches Buch über die verschlungene Suche nach der eigenen Identität mit all den Konflikten, die damit einhergehen. Ein literarisch brillanter Streifzug - und eine Meditation über das Leben.
Platz 2 der Sachbuch-Bestenliste von ZEIT, ZDF und Deutschlandfunk im Februar 2022
Daniel Mendelsohn, geboren 1960 in New York, gehört zu den bedeutendsten Intellektuellen in den USA und ist als Autor und Übersetzer bekannt geworden. Er promovierte 1994 in Classical Studies und arbeitete als Kritiker u. a. für The New York Review of Books, das New York Magazine, für The New Yorker und die New York Times. 2006 veröffentlichte er sein aufsehenerregendes, preisgekröntes Familien-Memoir »Die Verlorenen. Eine Suche nach sechs von sechs Millionen«. Zuletzt erschienen auf Deutsch »Eine Odyssee. Mein Vater, ein Epos und ich« (2019) und »Flüchtige Umarmung. Von der Sehnsucht und der Suche nach Identität« (2021). 2022 erhielt Daniel Mendelsohn den renommierten Malaparte-Preis.
I. GEOGRAPHIEN
Seit Langem lebe ich an zwei Orten.
Der eine ist eine stille Straße mit Häusern, deren Fenster zwischen Holzläden auf Bäume und gelegentlich ein Auto spähen, eine Straße, die in vieler Hinsicht der nichtssagenden gleicht, in der ich aufwuchs, gärend und voller Angst. Wenn ich dort bin, lebe ich in einem jener schmalen, äugenden Häuser mit einer Frau und einem Kind. Doch dazu später.
Der andere Ort, an dem ich lebe, liegt in New York, ein klein wenig nördlich der Schwulenkultur.
Einen halben Block westlich von meiner Haustür verläuft die Eighth Avenue, eine vierspurige Nord-Süd-Ader, die den Verkehr in die Vorstädte leitet – also nach Norden. Die Eighth Avenue beginnt tief im Zentrum als die viel kleinere Hudson Street, die an manchen Stellen noch mit Kopfsteinen gepflastert ist und endlos obskuren Dauerreparaturen unterzogen wird; dort unten führt sie vorbei an winzigen Querstraßen, deren nummernlose Namen ihr hohes Alter verraten, denn gelangt man übers Village hinaus, über die Fourteenth Street, tritt an die Stelle der willkürlichen, krummen, uralten Straßen südlich davon das jüngere, moderne, starre Gitter, als das Manhattan angelegt ist. Das Gitter ist zumeist einfach: Die längs laufenden Linien heißen Avenues, und ihre Zahlen steigen von Ost nach West an (mit ein paar berühmten Ausnahmen wie Park und Madison); die quer laufenden Linien sind Straßen, deren Nummern von Süden nach Norden ansteigen. Gelegentlich werden Versuche unternommen, diesen Nummern Namen aufzuzwingen – beispielsweise sollen wir die Sixth Avenue »Avenue of the Americas« nennen, und jemand hat ein Stückchen der West Sixty-fifth Street beim Lincoln Center in »Leonard Bernstein Way« umgetauft – doch die New Yorker, stets in Zeitnot, freuen sich an der fixen, unromantischen Effizienz der Nummern und ignorieren die Namen. In vieler Hinsicht sind wir eine Stadt mit Menschen, denen Nummern lieber sind als Namen.
Auf ihrem Weg durchs West Village, bis vor Kurzem noch das Zentrum von New Yorks schwulem Leben, schüttelt die Hudson Street kurz vor der Fourteenth Street, der Ost-West-Ader, welche die Südgrenze des Viertels namens Chelsea bildet, des gegenwärtigen Zentrums von New Yorks schwulem Leben, ihre Kurven ab und verbreitert sich zur Eighth Avenue. Die Fourteenth Street trennt das Village von Chelsea. Die meisten Straßen im Greenwich Village tragen Namen, in Chelsea sind alle nummeriert.
Geht man den halben Block von meiner Tür zur Eighth Avenue, biegt dort, in den mittleren Twenties, nach rechts in sie ein und folgt dem Verkehr nach Norden, gelangt man erst an einigen nichtssagenden Lager- und Mietshäusern vorbei und dann, an der Twenty-seventh Street, am Fashion Institute of Technology, allgemein bekannt unter seinem Kürzel FIT oder, wie die Einheimischen sagen, »Fags in Training« (Schwuchteln in der Ausbildung); danach kommen der große Bahnhof an der Thirty-fourth Street und der Busbahnhof an der Forty-second. Die Avenue führt weiter über das glitzernde Gewirr des Times Square, um dann nach einer kurzen Auflösung in den unüberschaubaren Schnellen des Columbus Circle wieder ziemlich prachtvoll als Central Park West aufzuerstehen. Gesäumt von stämmigen, matronenhaften Vorkriegsbauten auf einer Seite und vom Park auf der anderen, trennt die Central Park West säuberlich Kultur von Natur, damit Letztere von all jenen eingehend betrachtet werden kann, die hinreichend betucht sind, um den Blick zu genießen. Sie setzt sich mit bourgeoisem Biedersinn den Park entlang fort in die West Seventies, Eighties und Nineties – Adressen, die mindestens bis zum Aufstieg Chelseas zum vorrangigen Schwulenviertel bei vielen Schwulen beliebt waren, nun aber eher, wenigstens von den Emigranten in meinem Viertel, mit Yuppies, Flaneuren und irgendwie Heterosexualität assoziiert werden.
Aber natürlich wende ich mich am Ende meines Blocks nur selten nach rechts. Vielmehr gehe ich meistens nach Süden, entgegen dem Verkehrsstrom. Dann sind es von meiner Straße nur zwei Blocks zur Twenty-third Street, der Nordgrenze Chelseas. Das Viertel erstreckt sich nach Osten bis zum Broadway und nach Westen bis zur Tenth Avenue, doch ihr Herzstück ist die Eighth Avenue. Zwischen der Fourteenth Street im Süden und der Twenty-third im Norden ist die Eighth Avenue praktisch die Hauptstraße der schwulsten Enklave der schwulsten Stadt der Welt.
Von einem solchen Ort träumte ich, als ich auf der Highschool war, in einem ziemlich neuen Vorort, der das Wort »Old« im Namen trug, als wollte er seinen Bewohnern, amerikanischen Hausbesitzern der ersten Generation, die Unsicherheit nehmen; einem Vorort, dessen bauidentische Häuser sich lediglich durch die Farbe ihrer funktionslosen Fensterläden unterschieden. Bestimmt hatten viele andere schwule Jugendliche denselben Traum (und haben ihn noch immer). Wie ich werden sie mehrere aufeinanderfolgende Wochenenden nervös zwischen den Regalen der örtlichen Leihbücherei oder bei B. Dalton verbracht haben, um dort heimlich gewisse Bücher zu lesen, so groß war die Panik, diese gewissen Bücher mit nach Hause zu nehmen; wie ich werden sie weiche, fordernde Mädchenkörper mit derselben willigen Leidenschaftslosigkeit geküsst und gestreichelt haben, mit der sie im Labor Frösche sezierten, und wie ich werden sie sich dabei vielleicht andere Klassenkameraden vorgestellt haben müssen, deren gestreifte Badehosen und breite, linkische Schultern in manchen ihrer Freunde eine panische Zärtlichkeit weckten, die sich, da unaussprechlich, schnell zu Ironie verhärtete. Ich stellte mir insgeheim einen Ort vor, wo alle Leute andere Jungen waren und wo alle Geschäfte, alle Bücher, Lieder, Filme und Restaurants von Jungen waren und sich um andere Jungen drehten. An einem solchen Ort konnte die äußere Wirklichkeit der Welt, die auf Augen und Ohren traf, endlich irgendwie der inneren, verborgenen Realität dessen angepasst werden, wie man sich selbst empfand. Ein Ort, wo willige Leidenschaftslosigkeit und Ironiepanzer nicht mehr nötig wären.
An diesen Ort gelange ich nun, wenn ich mich, am Ende meiner Straße angekommen, statt nach rechts nach links wende. Es ist seltsam, aber nun, da ich dort bin, weiß ich nicht recht, ob ich tatsächlich auch dort sein will. Ich teile jetzt mein Leben zwischen meinen beiden Geographien auf: den vertrauten Straßen Chelseas mit ihren Männern und Jungen, ihrem Fleisch, und der Straße in dem Vorort rund hundert Kilometer entfernt, gesäumt von Sumpfeichen und verschwiegenen alten Häusern. Vor diesen Häusern sind keine jungen Männer zu sehen. Eher ein pensionierter Witwer, der mit einem rostigen roten Mäher den Rasen mäht – »das Gras schneidet«, könnte er sagen –, oder eine alte Frau, die auf der Veranda sitzt und sich mit einem Boulevardblatt Luft zufächelt, die Straße und anderer Leute Fenster nach einem Ereignis absucht, nach etwas, was passieren könnte. Diese Häuser, die schon lange standen, als die mit dünnen Schindeln gedeckten Häuser dort, wo ich aufwuchs, hastig zusammengebaut wurden, sind behäbig: Man spürt, sie wissen, dass sie auch noch die jetzige Generation ihrer Besitzer überleben werden. Diese Häuser haben echte Fensterläden, die auch funktionieren.
Manchmal gehe ich in einer Schreibpause die Eighth Avenue entlang bis zur Fourteenth Street. An der Ecke Twenty-second Street ist das Big Cup, ein Coffeeshop in Neonfarben, der als spätabendliche Alternative zu den Schwulenbars noch beliebter geworden ist denn als nachmittäglicher Treffpunkt anderer Freiberufler. Letztere fallen, soweit ich sehe, tendenziell in zwei Gruppen: Schreiber, deren aufwändige Scharade, ihren Laptop produktiv zu nutzen, mit jedem hoffnungsvollen Blick zur Eingangstür durchsichtiger wird, sowie eine kleine, aber ziemlich regelmäßig erscheinende Ansammlung von Strichern, die das Telefon am hinteren Ende in Beschlag nehmen und dabei Namen in ihrem vermutlich schwarzen Büchlein abhaken. In der Twenty-second Street selbst sind das Barracuda, eine niedrige Schwulenbar, die, seitdem sie im Herbst 1995 mit einer Party anlässlich des Erscheinens einer radikal queeren Abhandlung der lesbischen Aktivistin Urvashi Vaid eröffnet wurde, ausschließlich von geilen jungen Mittelschichtschwulen frequentiert wird, sowie die direkte Nachbarin des Barracuda, eine Buchhandlung namens Unicorn, deren von unbedeutenden Auslagen gesäumten kleinen Verkaufsraum man auf dem Weg ins schummrige Hinterzimmer durchquert, wo Männer miteinander Sex haben können, nachdem sie ein Eintrittsgeld von zehn Dollar bezahlt haben.
Aber wie gesagt, zumeist gehe ich einfach die Eighth weiter. Gleich hinterm Big Cup ist ein Einrichtungshaus namens Distinctive Furnishings, wo man unter anderem auch Bildschirmschoner mit fast nackten, muskelbepackten jungen Männern in Badehose erwerben kann. Dann kommt ein Bekleidungsgeschäft namens Tops N Bottoms (ein lustiger Doppelsinn: In der Sprache des Schwulensex stehen diese Wörter für jene, die beim Verkehr die aktive und passive Rolle bevorzugen). Ein Kartenladen gleich nebenan, Rainbows and Triangles, bietet eine vollständige Sammlung schwulenaffiner Geburtstags-, Jubiläums- und Trauerkarten. »Weil ich weiß, wie du dich fühlst«, steht auf der Innenseite einer Karte, die außen einen gut gekleideten jungen Prachtkerl im schwarzen Anzug mit einer weißen Rose in der Hand zeigt. Auf dieser Seite der Avenue passiert man dann auch das Fitnessstudio American Fitness, das fast ausschließlich unter seinem eher schelmisch-wortspielerischen Spitznamen »American Princess« bekannt ist. Viele der von Schwulen frequentierten Fitnessstudios wurden ähnlich umgetauft:...
Erscheint lt. Verlag | 9.11.2021 |
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Übersetzer | Eike Schönfeld |
Vorwort | Carolin Emcke |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Elusive Embrace: Desire and the Riddle of Identity |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | antike Literatur • Biografie • Biographien • eBooks • Geschlechteridentität • Hanya Yanagihara • Homosexualität • Identität • LGBTIQ-Community • LGBTQ • Literaturklassiker • Memoir • New York • Patti Smith • Queer • Sachbuchbestenliste • Sachbuch-Bestenliste • Susan Sontag |
ISBN-10 | 3-641-16331-5 / 3641163315 |
ISBN-13 | 978-3-641-16331-0 / 9783641163310 |
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