Der Tag, an dem wir aufhören zu shoppen (eBook)
480 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-24020-2 (ISBN)
Was würde passieren, wenn wir plötzlich alle aufhörten zu shoppen? Welchen Einfluss hätte es auf die Wirtschaft, unsere Arbeit, unser Leben und unser Denken? Auf einer Reise rund um den Globus hat der kanadische Umweltjournalist J. B. MacKinnon beobachtet, wie Menschen sich anpassen, wenn die Shoppingkultur unerwartet endet. Er hat Expertenstimmen zu den Folgen gesammelt und Gesellschaften besucht, die seit jeher ohne überflüssigen Konsum leben. Anhand vieler Beispiele zeigt er, welchen Gewinn es darstellt, weniger zu kaufen - für unseren Planeten, für unsere Gesellschaft und für jeden einzelnen von uns. Denn weniger shoppen heißt nicht zuletzt, sich auf das konzentrieren zu können, was im Leben wirklich wichtig ist.
James Bernard MacKinnon, gewöhnlich J. B. MacKinnon, geboren 1970, ist ein mit zahlreichen Preisen ausgezeichneter kanadischer Journalist, Herausgeber und Buchautor, der sich vor allem mit Umweltthemen befasst. Seine Arbeiten erscheinen u. a. in »The New Yorker«, »The Atlantic« und »National Geographic«. Sein Buch über Mahlzeiten aus lokalen Nahrungsmitteln, »The 100-Mile-Diet«, war ein Bestseller. J. B. MacKinnon lebt in Vancouver an der kanadischen Westküste, wo er auch viel Zeit in einer Waldhütte ohne Internet verbringt. Shopping steht nicht oben auf seiner Agenda, sein Mobiltelefon ist sechs, sein Fahrrad 27 Jahre alt.
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Was wir aufgeben und woran wir festhalten
Zu den Ersten, die begreifen werden, dass die Welt aufgehört hat einzukaufen, zählen all die unangestrengt coolen jungen Leute, die plötzlich um ihre Arbeitsplätze bangen müssen. Die Angehörigen des globalen Stammes der Angestellten im Textileinzelhandel haben ihre täglichen Umsatzziele um Welten verfehlt. Es ist eine Katastrophe.
Da sind beispielsweise die fast 3000 Läden von Levi Strauss & Co, die über Länder verteilt sind, die sich gut für ein Geografiequiz eigneten: von Aserbaidschan über Moldawien bis Sambia. Dort werden die berühmten Jeans des Unternehmens verkauft. An fast allen diesen Orten sind die Zahl der Konsumenten, die etwas kaufen, und die Zahl der pro Kunde gekauften Artikel abgestürzt. Nicht, dass an diesem Tag kein einziger Mensch auf der Welt eine neue Hose gebraucht hätte, aber die große Mehrheit der Leute brauchte keine. Die meisten von uns haben bereits ein Paar Jeans – oder drei, oder fünfzig.
Am Ende des Tages erstatten nervöse Filialleiter alarmierten Bezirksmanagern Bericht, welche die Nachrichten an unglückliche Regionalmanager weiterleiten, die ihre Bereichsleiter in der Konzernzentrale anrufen. Nur achtzehn Stunden nach dem Beginn der Krise haben die drei Leiter der globalen Levi’s-Bereiche, deren Zentralen sich in Brüssel, Singapur und einem Backsteingebäude mit überraschend überschaubaren Dimensionen in San Francisco befinden, sämtliche Zahlen zum Tag auf dem Tisch, an dem die Welt aufgehört hat einzukaufen.
Paul Dillinger, Leiter der globalen Produktinnovation bei Levi’s, zählt zu den wenigen Personen, die von sich behaupten können, es vorhergesehen zu haben. Es gehört zu Dillingers Aufgaben, sich in seinem mit Stoffmustern übersäten Büro in der Firmenzentrale in San Francisco mit apokalyptischen Szenarien zu beschäftigen. Er nennt es »Untergang als Designkonzept«. Als die Stadtverwaltung von Kapstadt im Jahr 2017 bekanntgab, ihr werde möglicherweise bald das Wasser ausgehen, sah Dillinger die Chance, sich genauer anzuschauen, wie eine Zukunft des Ressourcenmangels aussehen könnte. Und er hatte eine Idee für ein Modestatement: eine Denim-Jacke mit zwei speziell gestalteten Taschen, die eine für eine Wasserflasche, die andere für eine Pistole.
Wie Sie schon vermutet haben dürften, ist Dillinger kein typischer Konzernmanager. Als wir uns in einem Sitzungssaal in der Levi’s-Zentrale zusammensetzten, um gemeinsam durchzuspielen, wie der Tag, an dem die Welt aufhört einzukaufen, in einem multinationalen Textilunternehmen verlaufen würde, trug er eine schwarze Kapuzenjacke, schwarze Turnschuhe und eine farblich dazu passende schwarze Rollmütze, die jene leicht abstehenden Ohren herunterdrückte, die er mit seinem berühmten Onkel John Dillinger gemein hat, dem berüchtigten Bankräuber aus den 1930er-Jahren. Selbstverständlich trug er auch eine Levi’s, die er seit mehreren Jahren nicht gewaschen hatte, um die Wasserreserven des Planeten zu schonen. (Er frischt sie lediglich hin und wieder mit ein paar Sprühstößen Wodka aus dem Zerstäuber auf.) Geistig rege und genau im richtigen Maß linkisch, ist Dillinger eine erwachsene Version des zu Hause unterrichteten Wunderkinds, das zwischen der Lektüre von Marx für Anfänger und dem Studium von Kapitalismus für Anfänger Klavier spielen lernt.
Das World Resources Institute bezeichnet den Konsum als »den neuen Elefanten im Vorstandszimmer«: Dieses Problem ist so groß, dass die Unternehmen, die uns unser Zeug verkaufen, nicht darüber zu sprechen wagen. Sie haben Angst vor einem »Ratner-Moment«: Vor zwanzig Jahren erlangte ein britischer Juwelier namens Gerald Ratner traurige Berühmtheit, als er erklärte, das Geheimnis seines Geschäfts, einen Sherry-Dekanter aus Kristallglas, sechs Gläser und ein Serviertablett für gerade mal ein paar Pfund zu verkaufen, sei es, dass diese Produkte »absoluter Mist« seien. Die öffentliche Empörung zwang ihn zum Verlassen des Unternehmens, er büßte ein Jahresgehalt von 800 000 Dollar ein und wurde im englischen Sprachraum sinngemäß als »Mister Mist« berühmt (allerdings ist er mittlerweile wieder ein erfolgreicher Juwelier). Ratners Schicksal rief anderen Managern in Erinnerung, in einer Konsumkultur nie eingestehen zu dürfen, dass die vom eigenen Unternehmen verkauften Artikel möglicherweise das Geld nicht wert sind, das die Konsumenten dafür bezahlen.
Dillinger ist ein Unikat. Er hat öffentlich erklärt, die Textilindustrie lebe von »unnötigem Konsum«. Die größte Bedrohung für Levi’s sieht er nicht darin, dass die Leute aufhören, Kleidung zu kaufen, sondern eher im Gegenteil: Der unablässig wachsende Appetit auf Hosen und Hemden und Kleider und Jacken könnte eines Tages nicht mehr gestillt werden, weil der Planet nicht mehr genug Wasser, Erdöl und Baumwolle für die Produktion all dieser Kleidungsstücke liefern kann. Schon Jahre vor dem Ausbruch der Coronapandemie hatte Dillinger im Geist durchgespielt, was geschehen könnte, sollte die Nachfrage nach Kleidung infolge einer besonders schweren Rezession oder einer globalen Pandemie einbrechen. Er gelangte zu dem Schluss, der Absatz werde sich zwangsläufig wieder erholen und anschließend noch stärker steigen.
Aber an dem Tag, an dem die Welt aufhört einzukaufen, wird das natürlich nicht geschehen. Stattdessen wird an diesem Tag der Appetit auf Konsum an sich verschwinden – und er wird nicht zurückkehren. »Eine Woche ohne Shopping wäre ein Marktereignis«, sagt Dillinger. »Wird einen Monat lang nicht eingekauft, so bricht diese Industrie zusammen.«
Die aufschlussreichste Erkenntnis über den Einkaufsstopp lautet, dass wir fast nie aufhören einzukaufen. Wenn wir es doch einmal tun, stehen wir augenblicklich vor der alten und beunruhigenden Frage, zwischen Bedürfnissen und Wünschen abzuwägen: Was sollten wir weiterhin kaufen, worauf können wir verzichten?
In jüngster Zeit haben Historiker und Anthropologen versucht, den Augenblick in der Geschichte zu definieren, an dem sich die Menschen in Konsumenten verwandelten. Wie sich herausstellte, ist es unmöglich, einen solchen Zeitpunkt zu bestimmen. Die psychologische Grundlage der Konsumkultur ist der Materialismus, ein Gefüge von Werten und Überzeugungen, die um die Bedeutung von Wohlstand, Besitz und sozialem Status kreisen. Die individuelle Ausprägung des Materialismus verrät mehr als jedes andere Merkmal der Persönlichkeit darüber, wie sehr ein Mensch zum Konsument neigen wird. Die meisten von uns stellen sich unter einem Materialisten einen Menschen vor, der von Geld, Selbstdarstellung und Besitz besessen ist: einen gierigen, oberflächlichen Angeber. In Wahrheit sind wir alle bis zu einem gewissen Grad Materialisten. Der Materialismus ist in der Evolution der menschlichen Gesellschaft nützlich, weil er uns antreibt, unsere materiellen Bedürfnisse zu erfüllen und unsere Position in der Gemeinschaft zu verteidigen. Er gehört zum Menschsein.
Sämtliche Verhaltensweisen, die wir mit dem Materialismus verbinden, lassen sich bis in die Frühzeit der Menschheit zurückverfolgen. Schon vor 1,5 Millionen Jahren, lange vor dem Auftauchen unserer eigenen Spezies, des Homo sapiens, gaben unsere Vorfahren Werkzeugen wie Äxten ihren eigenen Stil, was auf eine Konsumentscheidung und einen Selbstausdruck durch Besitz hindeutet. Die Mitglieder von Jäger/Sammler-Gesellschaften, die praktisch keinen Besitz hatten, verglichen die wenigen Dinge, die sie ihr Eigen nannten, eifersüchtig mit dem Eigentum anderer. Die Maya, deren Zivilisation vor rund 4000 Jahren in Zentralamerika entstanden war, entwickelten eine enge Bindung an ihre Güter und versahen sie mit Bedeutung, wobei sie sogar so weit gingen, den Dingen ein eigenes Bewusstsein zuzusprechen. (In einem Ursprungsmythos der Maya lehnen sich schlecht behandelte Besitztümer – Kochtöpfe, Pfannen, Hunde, Truthähne und sogar Häuser – gegen die ersten menschlichen Wesen auf.) Vor fast 500 Jahren änderte sich in den reichen Handelsregionen Chinas das shiyang – das »aktuelle Aussehen« – sogar in kleinen Dörfern regelmäßig.
In Istanbul gab es Anfang des 17. Jahrhunderts mehr als 10 000 Läden und Verkaufsstände. Und der britische Durchschnittshaushalt füllte sich mit Töpferware, Spiegeln, Uhren, Haushaltsutensilien und unterschiedlichen Gedecken für besondere Anlässe, lange bevor die von der industriellen Revolution ermöglichte Massenproduktion diese Dinge erschwinglicher machte. Im 19. Jahrhundert, zwei Jahrhunderte vor dem Siegeszug von Amazon, konnte ein Kauflustiger in Sansibar oder Tahiti einen Katalog durchstöbern und eine Lieferung über die Ozeane hinweg bestellen, sofern er genug Geld übrig hatte. Zur Zeit des Ersten Weltkriegs konnten Europäer, die etwas so Grundlegendes wie einen Stuhl kaufen wollten, zwischen Tausenden Designs wählen. Mittlerweile sind wir von Werbung umgeben, die uns sogar verfolgt, aber gemessen am Bruttoinlandsprodukt erreichten die Marketingausgaben in den Vereinigten Staaten ihren Höhepunkt vor hundert Jahren in den Goldenen Zwanzigern.
Die Geschichte scheint uns zu sagen, dass wir uns nicht in Konsumenten verwandelt haben – sondern dass wir von Natur aus Konsumenten sind. Unser wirtschaftliches Leben wurde von verschiedensten Kräften gestört, darunter Pandemien, Weltkriege und Kolonialismus, aber überall auf der Welt haben die meisten Leute schrittweise mehr Dinge angehäuft.
Erleichtert stellen wir fest, dass die Menschen seit jeher konsumieren, denn wir leiden unter dem Gefühl, dass unser heutiger...
Erscheint lt. Verlag | 20.9.2021 |
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Übersetzer | Stephan Gebauer |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | THE DAY THE WORLD STOPS SHOPPING |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Achtsam leben • eBooks • Einfach leben • Faire Kleidung • Fair Fashion • Fair Trade • Fast Fashion • Fridays For Future • Harald Lesch • j. b. • Kinderarbeit • klamotten tauschen • Klimaschutz • Konsumkritik • Konsumverzicht • Maja Göpel • Minimalismus • Nachhaltige Produkte • Nachhaltigkeit • nachhaltig leben • plastikfrei • Tauschen statt kaufen • Überfluss • Verzichten • Wegwerfgesellschaft • World Earth Day |
ISBN-10 | 3-641-24020-4 / 3641240204 |
ISBN-13 | 978-3-641-24020-2 / 9783641240202 |
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