Sozialraumorientierung in der Eingliederungshilfe (eBook)
251 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61438-7 (ISBN)
Dr. Dieter Röh ist Professor für Soziale Arbeit an der Hochschule für Angewandte Wissenschaft Hamburg (HAW Hamburg). Seine Lehr- und Forschungsbereiche sind die Eingliederungshilfe (Behindertenhilfe /Sozialpsychiatrie) sowie Theorien, Methoden und Geschichte der Sozialen Arbeit. Anna Meins ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der HAW Hamburg und Promovendin der Universität Hamburg in Kooperation mit der HAW Hamburg. Darüber hinaus ist sie als Fachberaterin für Projekte bei der BHH Sozialkontor gGmbH tätig
Dr. Dieter Röh ist Professor für Soziale Arbeit an der Hochschule für Angewandte Wissenschaft Hamburg (HAW Hamburg). Seine Lehr- und Forschungsbereiche sind die Eingliederungshilfe (Behindertenhilfe /Sozialpsychiatrie) sowie Theorien, Methoden und Geschichte der Sozialen Arbeit. Anna Meins ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der HAW Hamburg und Promovendin der Universität Hamburg in Kooperation mit der HAW Hamburg. Darüber hinaus ist sie als Fachberaterin für Projekte bei der BHH Sozialkontor gGmbH tätig
2 Theoretische Begründungslinien
In diesem Kapitel sollen die theoretischen Grundlagen dargestellt werden, die eine sozialraumorientierte Perspektive in der Eingliederungshilfe unbedingt benötigt.
Dabei ist zunächst zu beachten, dass es in der Literatur zur Sozialraumorientierung im Vergleich zu anderen fachlichen Konzepten der Sozialen Arbeit bislang relativ wenige Hinweise auf erkenntnistheoretische, ethische oder gerechtigkeitstheoretische, objekt- oder gegenstands- bzw. funktionsbezogene sowie handlungstheoretische Grundlagen oder Begründungen gibt. Dafür sind bereits einige methodische Hinweise und Beispiele zu finden.
Noch stärker drückt sich dieser Mangel in der Anwendung des sozialraumorientierten Zugangs in der Eingliederungshilfe aus. Es wird daher im Folgenden darauf ankommen, die relevanten Zugänge und Bezüge der Sozialraumorientierung in und für diesen sozialrechtlichen Leistungsbereich darzustellen. Dabei wollen wir sie als eine kontinuierliche Weiterentwicklung bestehender Prinzipien, Orientierungen und Konzepte verstehen.
2.1 Sozialraumorientierung als Fachkonzept Sozialer Arbeit
Die Sozialraumorientierung hat sich als Fachkonzept der Sozialen Arbeit aus dem ursprünglichen Zusammenhang der Gemeinwesenarbeit (GWA) herausgelöst, was von einigen durchaus kritisch gesehen wird (Stövesand / Stoik 2013, 28). Unabhängig davon, ob diese Entwicklung gutgeheißen wird oder nicht, ist aber insgesamt festzustellen, dass sich eine sozialprofessionelle Ausrichtung auf den Sozialraum in den verschiedensten Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit (Fürst / Hinte 2014, Alisch / May 2015, Kessl / Reutlinger 2019) ergeben hat, die mit der Gemeinwesenarbeit bzw. bestimmten Varianten derselben (Stövesand / Stoik 2013) nur noch wenig zu tun hat. Gleichwohl finden wesentliche Elemente, wie ein relationales (Sozial-)Raumverständnis, Partizipation, Ressourcenorientierung, Netzwerkarbeit, Kooperation u. a. m. ihren Platz sowohl in der Gemeinwesenarbeit wie auch in der Sozialraumorientierung. Beide eint, dass die Gemeinwesenarbeit zwar als eines der drei zentralen Handlungskonzepte (bzw. Methoden, vgl. zur Unterscheidung: Kreft / Müller 2019a) der Sozialen Arbeit verstanden wird, in der Praxis und qua Prinzip aber multiprofessionell und interdisziplinär agiert. Ebenso wird Sozialraumorientierung von der Sozialen Arbeit zwar im Wesentlichen diskutiert und umgesetzt, sie kooperiert dabei aber genauso mit anderen professionellen AkteurInnen (und BürgerInnen als „Laien“) und wird in ihrer Begrifflichkeit zum Teil von diesen auch eigenständig verwendet.
Einen wesentlichen und originären Beitrag zur Trennung von Gemeinwesenarbeit und Sozialraumorientierung hat Wolfgang Hinte geleistet. Er kritisierte u. a. die weitgehende Marginalität der Gemeinwesenarbeit und eine geringe Entwicklungs- und Anpassungsfähigkeit in methodischer Hinsicht (Hinte 2007c) und propagierte daher den „relativ unverbrauchten Begriff“ (Hinte 2007a, 9) der „Stadtteil- bzw. Sozialraumorientierung“. So konstatiert Stoik, dieser Wechsel werde damit begründet, dass aus „pragmatisch-taktische[ r] Orientierung“ (Stoik 2013, 81) eine „möglichst breite Verankerung und Akzeptanz des Arbeitsprinzips GWA (u. a. durch Geldgeber und Politik) im Vordergrund steht. Mit dieser pragmatischen Orientierung wird aber (logischerweise) ein nie enden wollender Begriffswechsel eingeleitet – aktuell wird ‚Sozialraumorientierung‘ verwendet“ (Stoik 2013, 81). Gleichzeitig – und dem ist empirisch eindeutig so – „gelingt es durch Hintes pragmatischen Zugang, viele Elemente und professionelle Haltungen von GWA […] in die Handlungspraxis der Sozialen Arbeit einzuführen“ (Stoik 2013, 81), wovon die Berücksichtigung in der Eingliederungshilfe, wie bereits erwähnt, nur eine ist. Auf die entsprechenden Erfolge und Problematiken dieser ‚Etablierungspolitik‘ wird später (Kap. 2.3 und 2.4) noch einzugehen sein.
Hinte (2014, 17) selbst definiert Sozialraumorientierung einerseits ex negativo: Sie sei kein „‚großer‘, theoretischer, disziplinärer Entwurf“, keine „disziplinenübergreifende Theorie“, keine „sozialarbeiterische Methode“ und nicht auf „ein bestimmtes Arbeitsfeld“ begrenzt. Andererseits fasst er sie positiv als „Fachkonzept“, das eine „Brückenfunktion“ einnimmt „zwischen großen Entwürfen und kleinteiligen, in unterschiedlichen Kontexten entwickelten Methoden“.
Bei aller Differenz in weiteren Aspekten (vgl. vertiefend Röh 2019) kann diesem – handlungstheoretisch gesprochen – intermediären Verständnis gefolgt werden, weshalb wir hier bereits folgende Definition anbieten wollen:
DEFINITION
Sozialraumorientierung ist ein Konzept, mit demov einerseits der Einbezug der natürlichen, kulturellen, strukturellen und sozialen Umgebung des Menschen in die personenzentrierte Unterstützung zur Erweiterung seiner Handlungsoptionen im Sinne einer selbstbestimmten und gleichberechtigten Teilhabe an gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Prozessen und Strukturen und andererseits die Gestaltung des Sozialraums (inkl. sozialer Beziehungen, organisationaler und lokaler Prozesse und Strukturen) gekennzeichnet werden kann.
Daraus ergeben sich mehrere Perspektiven, die im Sinne der sozialstaatlichen Triangulation auch aufeinander einwirken:
1 Sozialraumorientierung kann von der (leistungsberechtigten) Person und ihrer Lebenswelt her gedacht werden, d. h. im Sinne eines Verständnisses der subjektiven Welterfahrung. Dies führt zu einer an dieser Welterfahrung orientierten, auf Selbstbestimmung abzielenden personenzentrierten Hilfe, mit Bezug zu den Möglichkeiten der Aneignung sozialer Räume und dies unter Beachtung des Spannungsfeldes von Freiheit (Selbstbestimmung) und Sicherheit (Für-Sorge).
2 Sozialraumorientierung kann von den Leistungsträgern her gedacht werden, d. h. als sozialbürokratisches Modell zur Gestaltung der Bedingungen der Leistungserbringung, (neuen) Verteilung von Kosten und Aufgaben, was u. a. auch die Einrichtung von Sozialraumbudgets nach sich ziehen kann, oder der mehr oder weniger starken Einflussnahme auf das Leistungsgeschehen, z. B. über die Gesamtplanung oder das Vertragsrecht.
3 Sozialraumorientierung kann von den Leistungserbringern her gedacht werden, d. h. die bisherige, ggf. auf der Personenzentrierung beruhende Unterstützungslogik wird durch die Sozialraumorientierung erweitert. Sozialräumliche Ressourcen könnten so als Erweiterung der persönlichen Möglichkeiten der NutzerInnen verstärkt bzw. konsequent in die professionelle, personenzentrierte Unterstützung einbezogen werden.
Eine Sozialraumorientierung im gesamten Sinne müsste diese drei Perspektiven nun zusammenführen und in der Lage sein, zwischen diesen Ebenen zu vermitteln. Sozialraumorientierung in der Eingliederungshilfe erweitert und führt konsequent fort, was an Reformen bereits umgesetzt wurde, also eine Normalisierung der Lebensumstände, eine möglichst in der Gemeinde angesiedelte umfassende Unterstützung, die weitestgehende Förderung von Selbstbestimmung und eine insgesamt auf Teilhabe an allen gesellschaftlichen Lebensbereichen ausgerichtete Praxis. Sozialraumorientierung nutzt daher konsequent das vorhandene Repertoire an Möglichkeiten der Sozialraum- und Netzwerkanalysen, der Kooperation, Vernetzung und Erschließung von sozialräumlichen, insbesondere zivilgesellschaftlichen Ressourcen, und befähigt die AdressatInnen in der Nutzung dieser Ressourcen, um teilhaben und teilnehmen zu können (Röh 2019).
Im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit von personenzentrierter und sozialräumlich ausgerichteter Unterstützung, die für die Praxis der Eingliederungshilfe als zentral angesehen werden kann, kann man Sozialraumorientierung (wie Gemeinwesenarbeit) von einer „generellen Grundorientierung der Sozialen Arbeit, die am Individuum ansetzt und dabei seine gesellschaftliche Gewordenheit, sowie deren strukturelle Bedingungen analytisch-reflexiv in den Blick nimmt“ (Stövesand / Stoik 2013, 16) trennen. Eine solche Trennung mündet dann allerdings in einem antagonistischen Verhältnis von Personenzentrierung und Sozialraumorientierung bzw. Gemeinwesenarbeit, in dem letztere wiederum als „ein eigenes Konzept Sozialer Arbeit“ angenommen wird, „das, von dieser allgemeinen Grundorientierung ausgehend, nicht (primär) individuelles Bewältigungshandeln und Empowerment unterstützt, sondern die Entwicklung gemeinsamer Handlungsfähigkeit und kollektives Empowerment bezüglich der Gestaltung bzw. Veränderung von infrastrukturellen, politischen und sozialen Lebensbedingungen fördert“ (Stövesand / Stoik 2013, 16).
Diesem Antagonismus wollen wir nicht folgen und vielmehr für ein integratives Verständnis fachlichen Handelns plädieren, das die Sozialraumarbeit mit der personenzentrierten und auf das Individuum bezogenen Arbeit verbindet.
2.2 Gesellschaftstheoretische Reflexion
Mit der Sozialraumorientierung geht tendenziell der Auf- und Ausbau einer wahlweise ersetzenden oder komplementär wirkenden Aktivierung zivilgesellschaftlicher bzw. informeller-lebensweltlicher Ressourcen einher, etwa im Rahmen von bürgerschaftlichen Initiativen, Netzwerken oder, im Falle der Eingliederungshilfe bzw....
Erscheint lt. Verlag | 8.3.2021 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Sonder-, Heil- und Förderpädagogik |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Behinderte Menschen • Behinderung • Community • Eingliederung • Eingliederungshilfe • Gemeinwesen • Gemeinwesenarbeit • Inklusion • Kommune • Menschen mit Beeinträchtigung • Menschen mit Behinderung • Methoden • Netzwerkanalyse • Praxis • Soziales Lernen • Soziales System • soziale Vernetzung • Sozialmanagement • Sozialraum • Sozialraumbudget • SOZIALRAUMKONZEPT • Sozialraumorientierung • SOZIALRAUMPRAXIS • Teilhabe • Teilhabegesetz |
ISBN-10 | 3-497-61438-6 / 3497614386 |
ISBN-13 | 978-3-497-61438-7 / 9783497614387 |
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