Die Methode AfD (eBook)
336 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12101-8 (ISBN)
Katja Bauer, geboren 1968 in Nürnberg, schreibt seit vielen Jahren für die Stuttgarter Zeitung/Stuttgarter Nachrichten politische Reportagen, Analysen und Kolumnen aus Berlin. Das Medium Magazin wählte sie vier Mal unter die Journalisten des Jahres, zuletzt 2018 auf den ersten Platz.
Katja Bauer, geboren 1968 in Nürnberg, schreibt seit vielen Jahren für die Stuttgarter Zeitung/Stuttgarter Nachrichten politische Reportagen, Analysen und Kolumnen aus Berlin. Das Medium Magazin wählte sie vier Mal unter die Journalisten des Jahres, zuletzt 2018 auf den ersten Platz. Maria Fiedler, geboren 1989 in Karl-Marx- Stadt, ist politische Korrespondentin im Hauptstadtbüro des Tagesspiegels. Sie beobachtete die AfD auf dem Weg in den Bundestag und darüber hinaus. 2018 wurde sie vom Medium Magazin unter die Journalisten des Jahres gewählt.
2.
Das Prinzip Stören: Kammerflimmern im Herz der Demokratie
24. Oktober 2017, kurz vor 11 Uhr, Reichstagsgebäude, Plenarsaal: Schon seit gut einer Stunde richten sich die ersten Abgeordneten der AfD auf ihren Sitzen am rechten Rand des Plenums ein. Sie begrüßen einander, fotografieren, machen Selfies. Das beliebteste Hintergrundmotiv ist der Bundesadler samt deutscher Flagge. Genau einen Monat nach der Bundestagswahl ist die konstituierende Sitzung des Bundestags das erste Mal, dass sich die AfD-Abgeordneten unter der Reichstagskuppel wiederfinden. Der Stolz darüber ist deutlich zu spüren.
Für Fraktionschefin Weidel ist es ein feierlicher Moment. Sie hat in den Monaten zuvor im Wahlkampf als Spitzenkandidatin alles gegeben, jetzt ist sie an ihrem Ziel angekommen. Sie sitzt in der ersten Reihe neben Gauland. »Das war schon ein extremes Gefühl, zum ersten Mal dort Platz zu nehmen«, erzählt Weidel ein paar Jahre später. »Ich war voller Tatendrang, die Dinge anzugehen und die Politik zu verändern.«
Die Parlamentarier der anderen Fraktionen beobachten die Neuen aufmerksam. Den meisten fällt zunächst vor allem eines auf, als die AfD-Abgeordneten gesammelt ihre Plätze eingenommen haben: Sie sehen eine große, laute Männergruppe. Von den 92 AfD-Abgeordneten sind nur zehn Frauen. Als Thorsten Frei, der Vizechef der Unionsfraktion, auf die AfD und die wieder eingezogene FDP blickt, wird ihm aber auch die Repräsentationslücke bewusst, die hier bislang klaffte: In der letzten Legislaturperiode habe er den Eindruck gehabt, dass das politische Spektrum in Deutschland nicht vollständig abgebildet gewesen sei.
Um Punkt 11 Uhr eröffnet der FDP-Abgeordnete Hermann Otto Solms als Alterspräsident die erste Sitzung des neuen Parlaments. Es dauert genau eine Minute, bis zum ersten Mal das höhnische Lachen von den AfD-Sitzen her in den Saal schallt, das in den kommenden Jahren so oft zu hören sein wird. Um 11.01 Uhr dokumentiert die AfD den ersten Konflikt mit allen anderen Fraktionen.
Den Grundstein haben in diesem speziellen Fall allerdings die anderen Parlamentarier gelegt, noch in der letzten Legislaturperiode – aus Sorge vor der AfD, die sich nach 13 Wahlsiegen in Folge anschickte, auch in den Bundestag einzuziehen. Nach der alten Geschäftsordnung hatte stets der älteste gewählte Abgeordnete die erste Sitzung des neuen Bundestags eröffnet und als Alterspräsident eine Rede gehalten – bis dann das Präsidium gewählt wurde. Das wäre in diesem Fall der AfD-Abgeordnete Wilhelm Gottberg gewesen. Um dies zu verhindern, beschloss der alte Bundestag, dass künftig der Dienstälteste die erste Sitzung leiten solle. Eine »Lex AfD« also.
Heute, mehr als drei Jahre später, sehen einige Abgeordnete diese vorauseilende Reaktion kritisch – weil es der AfD schon an Tag eins die Möglichkeit bot, in die Opferrolle zu schlüpfen. Man hätte die Rede einfach aushalten sollen, sagen sie.
So kann die AfD am Tag der konstituierenden Sitzung direkt in die Offensive gehen. Sie bringt einen Antrag ein, in dem sie implizit die Absetzung von Hermann Otto Solms fordert und die Wahl eines neuen Versammlungsleiters beantragt. Solms bittet um Handzeichen. Die AfD stimmt geschlossen dafür. Als bei der Gegenprobe die Abgeordneten aller anderen Fraktionen den Antrag ablehnen, lachen die Neuen verächtlich.
Der AfD gelingt es gleich zu Beginn, den Ton des Gegeneinanders für die kommenden vier Jahre zu setzen: In dieser Atmosphäre – gespannt, gereizt, in Habachtstellung – wird sich das Parlament für die nächsten Jahre einrichten müssen. Das verächtliche Gelächter wird zu einem festen Bestandteil der Geräuschkulisse im Bundestag.
Auch einen zentralen Punkt ihrer Taktik zeigt die AfD bereits in dieser ersten Sitzung: den Tabubruch. Erster Redner der Fraktion ist der Parlamentarische Geschäftsführer Bernd Baumann, der bisher in der Hamburger Bürgerschaft saß und den die Medien – in ihrem sich später als wenig valide erweisenden Einordnungsschema der Frühphase – als einen der Rechtskonservativen, Bürgerlichen in der Partei betrachten.
Für Baumann ist dieser Tag, diese Rede, einer der interessantesten Momente seines Lebens, wie er sagt. Das Plenum ist voll besetzt, es herrscht gespannte Stille. Baumann blickt in die Gesichter der anderen Parlamentarier. »Die Kanzlerin saß vor mir, nach vorn gebeugt, voller Aufmerksamkeit.« Er sieht Menschen, die er zuvor nur aus dem Fernsehen kannte, für die ihm aber teils der Respekt abhandengekommen ist. »Wegen ihrem oft rückgratlosen Opportunismus, ihrer Angepasstheit, ihrem Mitläufertum«, sagt er. Doch an diesem Tag müssen sie ihm zuhören. Baumann breitet seine Papiere aus und trägt die vorbereiteten Zeilen vor.
Baumann redet zur Alterspräsidentenregelung, bezeichnet sie als »List, mit der Sie die AfD ausgrenzen wollten«. Seit 1848 hätten alle Reichs- und Bundestage nichts an dieser Regelung auszusetzen gehabt. Mit einer Ausnahme, sagt Baumann: »1933 hat Hermann Göring die Regel gebrochen, weil er politische Gegner ausgrenzen wollte, damals Clara Zetkin«. Seine Fraktion applaudiert tosend. Die anderen Abgeordneten sitzen sprachlos da. »Wie groß, frage ich Sie, wie groß muss die Angst vor der AfD und ihren Wählern sein?«, fragt Baumann.
Der Göring-Vergleich sorgt für so viel Empörung, dass die Deutsche Presseagentur ihren Kunden einen Faktencheck übermittelt: Der Vergleich sei teilweise falsch. Wie der Historiker Heinrich August Winkler darlegt, konnte die KPD-Politikerin Clara Zetkin 1933 nicht das älteste Mitglied des Reichstags sein, weil sie von Göring an der Ausübung ihres Mandats gehindert wurde. Göring, der die ersten Konzentrationslager einrichten ließ, um den politischen Gegner zu vernichten, schaffte nach der Machtergreifung das Amt des Alterspräsidenten im Handstreich ab.
Oben auf der Tribüne verfolgt an diesem Morgen Inge Deutschkron die Rede Baumanns. Zu wichtigen Sitzungen lädt das Parlament Gäste ein. Es sind immer Zeitzeugen dabei, hochbetagte Menschen, die vieles erlebt haben – und überlebt. Deutschkron, Jüdin, 1922 in Finsterwalde geboren, überlebte den Holocaust in Berlin, flüchtete mit ihrer Mutter von Versteck zu Versteck. Als die Alliierten sie vor den Nazis retteten, saß das Mädchen in ihrer letzten Zuflucht, einem Ziegenstall. Jetzt ist Inge Deutschkron 95. Sie sitzt auf der grauen Bank der Tribüne, klein, alt und stolz. Als Baumann seinen Göring-Vergleich zieht, ist ihre Miene unbewegt.
Nach Baumanns Tabubruch wird es still im Parlament. Die Parlamentarier und Beobachter bekommen eine Ahnung davon, dass vieles, was unsäglich ist, bald sagbar werden wird. Baumann erklärt: »Das Volk hat entschieden, nun beginnt eine neue Epoche, meine Damen und Herren. Von dieser Stunde an werden hier Themen neu verhandelt.«
Das ist je nach Perspektive eine Drohung oder ein Versprechen. Fürs Erste aber bleibt es Theorie. In der Praxis folgt an diesem Tag die Wahl der Vizepräsidenten. Sie sind neben dem Bundestagspräsidenten so etwas wie die Schiedsrichter während der Plenarsitzungen. Sie achten auf die Einhaltung der Regeln und repräsentieren den Bundestag nach außen. Ein solcher Posten bedeutet Macht und Gestaltungsspielraum.
Die Wahl wird an diesem Tag zu einem Geduldsspiel, weil das Plenum in drei Wahlgängen in jeweils namentlicher Abstimmung den Kandidaten der AfD, Albrecht Glaser, durchfallen lässt. Ein Novum ist das nicht. Auch der einstigen PDS ging es in der ersten Legislaturperiode so. Doch im Fall der AfD ist die Vizepräsidentenfrage ein Politikum, das den Bundestag in den kommenden Jahren immer wieder beschäftigen wird.
Mit seiner Ankündigung wird Baumann dennoch Recht behalten. Die AfD verändert das Parlament vom ersten Tag an und benutzt es als Plattform für ihr Projekt, das demokratische Miteinander zu stören. Die anderen Parteien hätten darauf vorbereitet sein können, denn in Landesparlamenten agiert die AfD schon länger mit ihren Methoden.
Im Bundestag trifft sie nun auf fünf Fraktionen, die alle mit sich selbst beschäftigt sind und über einen viel zu langen Zeitraum – teilweise bis heute – keine Strategie für den Umgang mit den Neuen gefunden haben. Im Rückblick ist es genauso offenkundig wie fatal, dass die anderen Parteien unterschätzt haben, wie planvoll die AfD ihre Strategie verfolgt.
Die Methode Gegenöffentlichkeit: Wie die AfD den Bundestag als Kulisse für ihre Inszenierung nutzt
Das zielgerichtete Vorgehen zeigt sich schon bald an einer Ankündigung von Alice Weidel. »AfD statt ARD« sollten die Menschen in Zukunft schauen,...
Erscheint lt. Verlag | 13.3.2021 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Bundestagswahl • Opposition • Pegida • Politik • Populismus • Rechtsradikalismus • Staatsfeindlichkeit |
ISBN-10 | 3-608-12101-3 / 3608121013 |
ISBN-13 | 978-3-608-12101-8 / 9783608121018 |
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