Die demokratische Regression (eBook)

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2021 | 1., Originalausgabe
240 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76698-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die demokratische Regression - Armin Schäfer, Michael Zürn
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In der Debatte um den Aufstieg national-autoritärer Parteien dominieren zwei Ansätze: ein ökonomischer, der wachsende Ungleichheit infolge der Globalisierung in den Mittelpunkt stellt, und ein kultureller, der gesellschaftliche Liberalisierungsprozesse in den Blick nimmt. Beide Erklärungen, kritisieren Armin Schäfer und Michael Zürn, seien seltsam politikfrei. Daher fragen sie nach den genuin politischen Ursachen dieser Entwicklung: Wie haben sich die Parteien, wie hat sich ihr Verhältnis zu den Bürgern verändert? Was geschieht, wenn Politik sich als ausführendes Organ von Sachzwängen präsentiert? Wer die autoritären Bewegungen stoppen möchte, so die Autoren, muss am politischen Prozess selbst ansetzen und Willy Brandts Formel »Mehr Demokratie wagen« neu denken.

Armin Schäfer, geboren 1975, war von 2001 bis 2014 am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln tätig. Seit 2018 ist er Professor für Politikwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

2. Die Vermessung der Demokratie: Zwischen Fortschrittsoptimismus und demokratischer Regression


Zumindest die Zukunft stellte sich 1989 rosiger dar als heute. Bereits vor dem Fall der Mauer erschien im Sommer desselben Jahres ein Aufsatz, der dem optimistischen Zeitgeist Ausdruck verlieh. In »The end of history?« argumentierte Francis Fukuyama (1989), mit den von Michail Gorbatschow eingeleiteten Reformen in der Sowjetunion werde nicht nur der Kalte Krieg, sondern gar die Geschichte als solche enden. Sei die Geschichte bis zu diesem Zeitpunkt vom Kampf zwischen unterschiedlichen Gesellschaftsentwürfen geprägt gewesen, zeichne sich nun ab, dass die Idee der liberalen Demokratie unangefochten sei und dies auch bleiben werde.

Fukuyamas Argument war ein geschichtsphilosophisches. Es folgte der hegelschen Auffassung, wonach die »Weltgeschichte ein Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit [ist] – ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben« (Hegel 2012 [1837], S. 32). Demnach ging mit dem Kalten Krieg die Geschichte im Sinne einer Abfolge sich dialektisch entwickelnder Ideen zu Ende. Weder der 1945 besiegte Faschismus noch der eben überwundene Kommunismus seien von nun an in der Lage, die liberale Demokratie herauszufordern. Noch in den finstersten Ecken der Erde zeichne sich das Leuchten der Demokratie ab, so Fukuyamas Überzeugung, und über kurz oder lang würden sich weitere Länder diesem Ideal zuwenden. Der Endpunkt der hegelschen Geschichtseschatologie war erreicht.

Gelesen wurde Fukuyamas Aufsatz zumeist als Prognose eines institutionellen Siegeszugs der Demokratie. Obwohl das theoretische Argument nicht zwingend auf diesen empirischen Nachweis angewiesen war, griff Fukuyama in der Buchfassung seiner Thesen, die auf das Fragezeichen im Titel verzichtete, auf Daten zurück, die den Siegeszug der Demokratie belegen sollten (Fukuyama 1992, S. 49f.). Mittlerweile hatte die Demokratie auch in nichtwestlichen Regionen Fuß gefasst, was für Fukuyama die universale Gültigkeit der Idee der liberalen Demokratie belegte, selbst wenn Regionen wie der Nahe und der Mittlere Ost noch weit von einer nachhaltigen Demokratisierung entfernt waren (vgl. Koopmans 2020, Kap. 2). Der Fortschritt sei nicht aufzuhalten.[1] 

Im Einklang mit dem optimistischen Zeitgeist las man auch Samuel P. Huntingtons vielbeachtetes Buch (1993) über die »dritte Welle der Demokratisierung« als Beleg für den unaufhaltsamen Siegeszug der Demokratie. Eine erste Welle setzte laut Huntington in den zwaniger Jahren des 19. Jahrhunderts mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts in den USA ein. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurden immerhin zwanzig Demokratien gezählt. Die Gegenbewegung begann mit Mussolinis Machtübernahme in Italien. Bis 1942 verringerte sich die Zahl der Demokratien auf zwölf. Auf den Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg folgte eine zweite Welle, so dass es nach Huntingtons Zählweise 1962 immerhin 36 Demokratien gab. Bis 1975 war dann jedoch mit dem Aufkommen der Militärdiktaturen in Griechenland sowie in Teilen Lateinamerikas und der Ausweitung des sowjetischen Machtbereichs eine weitere Phase des Rückzugs zu beobachten. Die dritte Welle der Demokratisierung begann laut Huntington 1974 mit dem Ende der Diktatur in Portugal.

Huntington erkannte bereits in den neunziger Jahren erste Anzeichen für das Auslaufen der dritten Welle und erahnte eine erneute reverse wave. Aber trotz aller Rückschläge hat die Anzahl der Demokratien langfristig zugenommen, weil immer nur ein Teil der Länder hinter den erreichten Status zurückfiel. Das Bild der Wellen modifizierte zwar die Vorstellung eines linearen Fortschritts, bestärkte aber zugleich die grundsätzliche Idee eines säkularen Trends der Demokratisierung. Gibt es einen solchen säkularen Trend wirklich? Die Antwort hängt wesentlich vom zugrunde liegenden Demokratieverständnis ab.

2.1 Was ist Demokratie – und wenn ja, wie viele?


Laut David Held (1995, S. 147) liegt der Demokratie ein politisch gewendetes Prinzip der Selbstbestimmung zugrunde. Menschen sollten demnach frei und gleich in der Bestimmung ihrer eigenen Lebensbedingungen und in der Gestaltung des Gemeinwesens sein, solange die Freiheit nicht dazu benutzt wird, die Rechte anderer zu negieren (vgl. auch Williams 2005). In dieser Sichtweise konstituieren sich die individuelle und die kollektive Selbstbestimmung gegenseitig. Demokratie ist ein Prozess der öffentlichen Willensbildung und Entscheidungsfindung, bei dem alle Betroffenen die gleiche Möglichkeit haben, frei und gleichberechtigt teilzunehmen. Zugleich muss die Demokratie normativ begründbare Entscheidungen hervorbringen. Sie darf insbesondere nicht ihre eigenen Voraussetzungen negativ beeinflussen. Eine solche doppelte Verankerung lehnt sowohl rein prozedurale Demokratieauffassungen ab, die sich nur auf Entscheidungsverfahren konzentrieren, als auch streng liberale Interpretationen, die individuelle Rechte als dem demokratischen Prozess vorangestellt betrachten. Diese Sichtweise versteht autonomiebegabte Individuen und den demokratischen Prozess als sich wechselseitig konstituierend und steht daher im Einklang mit der Idee der Gleichursprünglichkeit von Rechten und Demokratie (Habermas 1996) sowie mit der neorepublikanischen Vorstellung von Demokratie als Abwesenheit von »Dominanz« (Keane 2009; Pettit 1999; Skinner 2002). Den demokratischen Prozess kennzeichnen zwei Prinzipien: Das Betroffenheitsprinzip besagt, dass alle von einer Entscheidung betroffenen Personen ein Mitspracherecht bei der Entscheidungsfindung haben sollen. Das Deliberationsprinzip verlangt, dass alle Entscheidungen öffentlich erörtert und durch Argumente gerechtfertigt werden. Dieser anspruchsvollen Auffassung von Demokratie folgen wir.

Doch wie viele Länder lassen sich gemessen an diesem Maßstab als Demokratie einordnen? Das Unterfangen, die Anzahl der Demokratien empirisch zu erfassen, hat eine lange Tradition und ist immer noch eine Wachstumsbranche in der Politikwissenschaft. Viele der gängigen Indizes gehen auf die Arbeiten Robert Dahls zurück, der eine Reihe von Brücken zwischen Demokratietheorie und empirischer Forschung bereitstellte. In einem frühen Versuch bezeichnet Dahl ein Regierungssystem als demokratisch, wenn es sich dauerhaft responsiv gegenüber den Bürgerinnen verhält und diese dabei gleich behandelt (Dahl 1971, S. 1f.). Um zu erfassen, in welchem Umfang diese beiden Ziele erreicht werden, identifiziert Dahl (ebd., S. 3) acht Bedingungen.[2]  Diese acht Bedingungen betreffen den »Wettbewerbsgrad« (public contestation) einerseits und die »Partizipationsmöglichkeiten« (inclusiveness) andererseits. In Dahls Verständnis können Länder sowohl ein hohes Maß an Partizipation ohne echten Wettbewerb als auch ausgeprägten Wettbewerb mit eingeschränkten Beteiligungsmöglichkeiten aufweisen. Beispielsweise gab es unter dem Apartheid-Regime in Südafrika durchaus Wettbewerb um die Macht, aber die Partizipationsmöglichkeiten waren für die schwarzen Südafrikaner extrem eingeschränkt. In den staatssozialistischen Ländern hingegen war das Wahlrecht umfassend und die Wahlbeteiligung hoch, aber es gab keinen Wettbewerb um die Regierungsverantwortung, bei dem Oppositionsparteien in der Lage gewesen wären, Wahlen zu gewinnen. Nur Länder, die ein inklusives Wahlrecht und echten Parteienwettbewerb aufweisen, erreichen für Dahl den Status einer »Polyarchie«.[3]  Diese Konzeption nähert sich einem anspruchsvollen Demokratieverständnis an, klammert aber die deliberative Komponente noch weitgehend aus. Inwiefern real existierende Regime einer solchen schlanken Demokratieauffassung entsprechen, lässt sich relativ leicht messen.

Der finnische Politikwissenschaftler Tatu Vanhanen hat über Jahrzehnte daran gearbeitet, die zwei von Dahl identifizierten Dimensionen weiter zu vereinfachen und in ein Konzept der Demokratiemessung zu übersetzen. Gemäß Vanhanen lässt sich der Wettbewerb operationalisieren, indem der Stimmenanteil der stärksten Partei von 100 abgezogen wird. Der Partizipationsgrad wird daran gemessen, welcher Anteil der Bevölkerung an einer Wahl teilgenommen hat. Als Grenze legte Vanhanen dabei eine...

Erscheint lt. Verlag 7.3.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte AfD • Autoritäre Bewegungen • Berliner Wissenschaftspreis des Regierenden Bürgermeisters 2021 • Brexit • Bundestagswahl • Demokratische Regression • edition suhrkamp 2749 • ES 2749 • ES2749 • Fratelli d'Italia • Giorgia Meloni • Parteien • Populismus • Trump • Ungleichheit
ISBN-10 3-518-76698-8 / 3518766988
ISBN-13 978-3-518-76698-9 / 9783518766989
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