Die Verlorenen: Eine Suche nach sechs von sechs Millionen (eBook)

eBook Download: EPUB
2021
640 Seiten
Pantheon Verlag
978-3-641-28278-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Verlorenen: Eine Suche nach sechs von sechs Millionen - Daniel Mendelsohn
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Der preisgekrönte internationale Bestseller jetzt in einer Neuausgabe
Als Daniel Mendelsohn ein kleiner Junge war, begannen ältere Verwandte zu weinen, wenn er ein Zimmer betrat - so sehr ähnelte er seinem Großonkel Shmiel, der im Holocaust ermordet worden war. Schon immer fasziniert von der Geschichte seiner Familie, machte sich Daniel 2001, nachdem er auf alte Briefe stieß, auf die Suche, um herauszufinden, was mit Shmiel und seinen Angehörigen geschehen war.

Das Ergebnis ist ein sehr persönlicher Bericht, in dem er die Schablonen sprengt, die sich über die Schrecken der Shoah legten - und zugleich eine »Legende von Nähe und Distanz, Intimität und Gewalt, Liebe und Tod«. Denn parallel zu seiner eigenen Erzählung erzählt er die Schöpfungsgeschichte wieder, mit ihren ewigen Themen des Ursprungs und der Familie, der Versuchung und des Exils, des Bruderverrats, der Schöpfung und Vernichtung.

Daniel Mendelsohn, geboren 1960 in New York, gehört zu den bedeutendsten Intellektuellen in den USA und ist als Autor und Übersetzer bekannt geworden. Er promovierte 1994 in Classical Studies und arbeitete als Kritiker u. a. für The New York Review of Books, das New York Magazine, für The New Yorker und die New York Times. 2006 veröffentlichte er sein aufsehenerregendes, preisgekröntes Familien-Memoir »Die Verlorenen. Eine Suche nach sechs von sechs Millionen«. Zuletzt erschienen auf Deutsch »Eine Odyssee. Mein Vater, ein Epos und ich« (2019) und »Flüchtige Umarmung. Von der Sehnsucht und der Suche nach Identität« (2021). 2022 erhielt Daniel Mendelsohn den renommierten Malaparte-Preis.

1

Die formlose Leere

Vor einiger Zeit, als ich sechs, sieben oder acht Jahre alt war, kam es zuweilen vor, dass ich ein Zimmer betrat und bestimmte Leute zu weinen begannen. Die Zimmer, in denen das geschah, befanden sich zumeist in Miami Beach, Florida, und die Leute, auf die ich diese sonderbare Wirkung hatte, waren, wie fast alle Mitte der sechziger Jahre dort, alt. Fast alle (so jedenfalls erschien es mir damals) waren Juden – Juden jener Spezies, die, wenn sie einander ihren hoch geschätzten Klatsch erzählten oder zum lange hinausgezögerten Ende einer Geschichte oder der Pointe eines Witzes kamen, ins Jiddische verfielen, was natürlich zur Folge hatte, dass die Höhepunkte dieser Geschichten und Witze den Jungen unter uns unverständlich blieben.

Wie viele ältere Einwohner von Miami Beach zu jener Zeit lebten diese Leute in Wohnungen oder kleinen Häusern, die denen, die nicht darin lebten, ein wenig muffig erschienen und in denen es im Allgemeinen ruhig zuging, bis auf jene Abende, wenn die Klänge der Shows von Red Skelton, Milton Berle oder Lawrence Welk aus den Schwarz-Weiß-Fernsehern plärrten. In gewissen Abständen wurde es in ihren muffigen, stillen Wohnungen jedoch laut von den Stimmen kleiner Kinder, die im Winter oder Frühling auf einen mehrwöchigen Besuch bei diesen alten Juden aus Long Island oder New Jersey hergeflogen waren, wo sie ihnen vorgeführt und auch noch gezwungen wurden, starr vor Verlegenheit und Scheu, ihre papiernen, kalten Wangen zu küssen.

Die Wangen alter jüdischer Verwandter! Wir wanden uns, wir stöhnten, wir wollten hinunter zu dem nierenförmigen beheizten Swimmingpool hinter dem Wohnkomplex laufen, aber erst mussten wir alle Wangen küssen, die bei den Männern nach Keller und Haarwasser und Tiparillos rochen und auf denen kratzige Koteletten wuchsen, die so weiß waren, dass man sie oft für Fussel hielt (wie einmal mein kleiner Bruder, der versuchte, die störenden Flusen wegzuzupfen, wofür er einen unsanften Klaps auf den Kopf erhielt), die bei den alten Frauen ein diffuses Aroma von Gesichtspuder und Bratöl verströmten und so weich waren wie die »Not«-Tüchlein, die sie tief in ihre Handtaschen gestopft hatten wie Blütenblätter neben das violette Riechsalz, schrumplige Hustenbonbonpapierchen und zerknüllte Geldscheine … Die zerknüllten Scheine. Halt das mal für Marlene, bis ich wieder rauskomme, trug die Mutter meiner Mutter, Nana nannten wir sie, meiner anderen Großmutter an einem Tag im Februar 1965 auf, als sie ihr eine kleine rote Lederhandtasche mit einem zerknitterten Zwanzigdollarschein darin übergab, bevor man sie zu einer diagnostischen Operation in den OP rollte. Sie war gerade neunundfünfzig geworden, und es ging ihr nicht gut. Meine Großmutter Kay gehorchte und nahm die Handtasche mit dem zerknüllten Schein, und gemäß ihrem Versprechen übergab sie sie meiner Mutter, die sie noch einige Tage später in der Hand hielt, als Nana, in eine schlichte Fichtenkiste gelegt, wie es Brauch ist, auf dem Friedhof Mount Judah in Queens beerdigt wurde, in dem Abschnitt, der sich (wie eine Inschrift auf einem Granittor mitteilt) im Besitz der First Bolechower Sick Benevolent Association befindet. Um dort begraben zu werden, musste man dieser Vereinigung angehören, was wiederum bedeutete, dass man aus einer Kleinstadt von ein paar tausend Einwohnern namens Bolechow kommen musste, die fast auf der anderen Seite der Welt in einer Landschaft lag, die einst zu Österreich, dann zu Polen und dann vielen anderen gehört hatte.

Freilich wurde die Mutter meiner Mutter – mit deren weichen Ohrläppchen, daran klobige blaue oder gelbe Kristallohrringe, ich immer spielte, wenn ich bei ihr auf dem geflochtenen Gartensessel vorn auf der Veranda meiner Eltern auf dem Schoß saß, und die ich zu einer bestimmten Zeit lieber mochte als alle anderen, weswegen ihr Tod zweifellos das erste Ereignis war, an das ich deutliche Erinnerungen habe, auch wenn diese Erinnerungen bestenfalls Fragmente sind (das wellenförmige Fischmuster auf den Fliesen an den Wänden des Wartesaals im Krankenhaus; meine Mutter sagt eindringlich etwas zu mir, etwas Wichtiges, auch wenn es noch vierzig Jahre dauern sollte, bis ich mich daran erinnerte, was es war; ein komplexes Gefühl aus Sehnsucht, Furcht und Scham; das Geräusch von Wasser, das in eine Spüle läuft) –, wurde die Mutter meiner Mutter nicht in Bolechow geboren, sondern war vielmehr die einzige meiner vier Großeltern, die in den Vereinigten Staaten zur Welt kam, was ihr als Teil einer bestimmten Gruppe Menschen, die heute ausgestorben ist, ein gewisses Prestige verlieh. Allerdings war ihr gut aussehender und dominanter Mann, mein Großvater, Opa, in Bolechow geboren und bis zum Jüngling herangewachsen, er und seine sechs Geschwister, die drei Brüder und die drei Schwestern, und aus diesem Grund war es ihm gestattet, eine eigene Grabstelle in jenem bestimmten Teil des Friedhofs Mount Judah zu besitzen. Dort liegt nun auch er, ebenso seine Mutter, zwei seiner drei Schwestern und einer seiner drei Brüder. Die andere Schwester, die hochgradig besitzergreifende Mutter eines Einzelkinds, folgte ihrem Sohn in einen anderen Staat und liegt dort begraben. Von den anderen beiden Brüdern war einer so vernünftig und vorausschauend (wie man uns immer sagte), mit seiner Frau und seinen kleinen Kindern in den dreißiger Jahren von Polen nach Palästina auszuwandern, und wurde infolge dieser weisen Entscheidung schließlich in Israel beerdigt. Der älteste Bruder, der von allen sieben Geschwistern auch am besten aussah, am meisten verehrt und hofiert wurde, der Prinz der Familie, war 1913 als junger Mann nach New York gekommen, jedoch nach einem knappen Jahr, in dem er dort bei einer Tante und einem Onkel wohnte, zu der Erkenntnis gelangt, dass ihm Bolechow lieber war. Und so ging er nach einem Jahr zurück – eine Entscheidung, von der er, da er dort glücklich und wohlhabend wurde, wusste, dass sie die richtige war. Er hat überhaupt kein Grab.

Von diesen alten Männern und Frauen – die manchmal allein schon bei meinem Anblick weinten, diesen alten Juden mit Wangen, die geküsst werden mussten, mit ihren Uhrarmbändern aus Krokoimitat und den schmutzigen jiddischen Witzen und den dicken schwarzen Plastikbrillen, mit den vergilbten Plastikhörgeräten, deren Kabel ihnen über den Rücken hingen, mit ihren Gläsern, randvoll mit Whiskey, mit den Bleistiften, die sie einem bei jeder Begegnung hinhielten und die den Namen einer Bank oder eines Autohändlers trugen; mit den A-Linie-Kleidern aus bedruckter Baumwolle und den Dreifachsträngen weißer Plastikperlen und den blassen Kristallohrringen und dem roten Nagellack, der auf ihren endlos langen Fingernägeln blitzte und klackte, wenn sie Mah-Jongg und Canasta spielten oder die endlos langen Zigaretten hielten, die sie rauchten –, von denen hatten diejenigen, die ich zum Weinen bringen konnte, bestimmte andere Dinge gemein. Sie alle redeten mit einem besonderen Akzent, mit dem ich vertraut war, weil er, wenn auch schwach, aber erkennbar, die Aussprache meines Großvaters durchzog; nicht zu stark, denn als ich alt genug war, um solche Dinge wahrzunehmen, hatten sie hier in Amerika schon ein halbes Jahrhundert lang gelebt, und dennoch eignete manchen Wörtern, besonders solchen mit r und l, Wörtern wie darling oder wonderful, eine verräterische Rauheit, etwas Sonores, sie hatten eine bestimmte Art, in die t und th zu beißen, in Wörtern wie terrible und (ein Wort, das mein Großvater, der gern Geschichten erzählte, häufig gebrauchte) truth. It’s de troott!, sagte er. Diese ältlichen Juden unterbrachen einander gern bei solchen Treffen, wenn sie und wir uns alle bei jemandem im muffigen Wohnzimmer drängten, fielen anderen in die Geschichte, um sie zu korrigieren, um einander zu erinnern, was zu dieser oder jener vahnderful oder (was wahrscheinlicher war) tahrrible time wirklich geschehen war, dollink, I vuz dehre, I rrammenbah, and I’m tellink you, it’s de troott.

Noch charakteristischer und denkwürdiger war, dass sie alle anscheinend zweite, alternative Namen füreinander hatten. Das verwirrte mich, als ich sechs, sieben Jahre alt war, zutiefst, weil ich glaubte, meine Nana (beispielsweise) heiße Gertrude, manchmal auch Gerty, weshalb ich auch nicht begriff, warum sie in dieser ausgesuchten Gesellschaft in Florida bei großen Familienzusammenkünften, die vierzig Jahre nach der Ausschiffung der herrischen und zu Dramen neigenden Familie ihres Mannes in Ellis Island und ihrer Neudefinierung als Amerikaner (wobei sie unablässig weiter Geschichten aus Europa erzählten) stattfanden, zu Golda wurde. Ebenso wenig verstand ich, warum der jüngere Bruder meines Großvaters, unser Onkel Julius, ein großer Verteiler beschrifteter Bleistifte, der ungewöhnlich spät geheiratet hatte und den mein prunkender, gut gekleideter Großvater immer mit einer Nachsicht behandelte, die man gemeinhin schlecht erzogenen Haustieren vorbehält, plötzlich zu Yidl wurde (erst Jahrzehnte später erfuhr ich, dass der Name auf seiner Geburtsurkunde Judah Arie, »Löwe von Judäa«, gelautet hatte). Und wer war überhaupt diese Neche, die mein Großvater manchmal als seine liebste jüngste Schwester bezeichnete, die aber, wie ich wusste, 1943 im Alter von fünfunddreißig Jahren (so erzählte es mir mein Großvater, womit er mir erklärte, warum er diesen Feiertag nicht mochte) am Thanksgiving-Tisch der Schlag getroffen hatte; wer war diese Neche, da ich doch wusste oder zu wissen glaubte, dass seine geliebte kleine Schwester Tante Jeanette gewesen war? Nur...

Erscheint lt. Verlag 22.2.2021
Übersetzer Eike Schönfeld
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Biografie • Biographien • eBooks • Erinnerung • Familiengeschichte • Galizien • Geschichte • Holocaust • Holocaust-Überlebende • Israel • Judenverfolgung • Odyssee • Shoah • Shtetl • Ukraine
ISBN-10 3-641-28278-0 / 3641282780
ISBN-13 978-3-641-28278-3 / 9783641282783
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