An den Ufern des Amur (eBook)

Die vergessene Welt zwischen China und Russland

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
375 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-76853-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

An den Ufern des Amur - Sören Urbansky
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DIE VERGESSENE WELT ZWISCHEN CHINA UND RUSSLAND
Am Amur stoßen auf einer Länge von zweitausend Kilometern China und Russland aufeinander. Sören Urbansky ist vom Baikalsee bis zum Japanischen Meer durch die abgelegene Grenzregion gereist. In seiner fesselnden Reportage vom «Schwarzen Drachen», wie die Chinesen den riesigen Grenzfluss zu Russland nennen, erzählt er mit untrüglichem Gespür für sprechende Details von den großen tektonischen Verschiebungen der beiden Imperien.

Wo der Norden Chinas sibirisch wird und der Südosten Russlands zunehmend chinesisch, stehen die beiden autoritären Imperien Rücken an Rücken zueinander. Bis zum Zweiten Weltkrieg rangen hier die Sowjetunion und Japan um die Vorherrschaft. Auf der Suche nach Spuren der Geschichte ist Sören Urbansky auf eine erstaunliche chinesisch-russische Gegenwart gestoßen. In seinem wunderbar anschaulich erzählten Buch berichtet er von prosperierenden chinesischen Metropolen auf der einen Seite und erstarrten russischen Orten auf der anderen Seite des Flusses - vor wenigen Jahrzehnten war das Gefälle noch umgekehrt. Er besucht Städte wie Harbin im Nordosten Chinas, einst «Moskau des Ostens», und Wladiwostok, das erträumte russische San Francisco, und ist zu Gast bei einfachen Menschen, die fließend Chinesisch und Russisch sprechen und ihre Soljanka mit Stäbchen schlürfen. Sein einfühlsamer Bericht kommt den Profiteuren und Verlierern der Grenze ganz nahe und erlaubt gerade dadurch ungewöhnliche Einblicke in den Zustand der beiden Großmächte und ihr spannungsvolles Verhältnis.
  • Ein Blick durch die Hintertür auf den wahren Zustand der beiden Großmächte
  • Vom Baikalsee bis Wladiwostok: Eine Reise entlang den unruhigen Bruchzonen zweier Imperien
  • Meisterhaft erzählt


Sören Urbansky, Dr. phil., leitet das Pacific Regional Office des Deutschen Historischen Instituts Washington. Er studierte, forschte und lehrte in Frankfurt a.d. Oder, Harbin (China), Kasan (Russland), Berkeley, Peking, Freiburg, München und Cambridge.

1. Promenade durch das Paris Sibiriens


Irkutsk

«Aufwachen! Schau hierher!» Kurz vor acht Uhr morgens schnauzt mich jemand aus dem Tiefschlaf. Ehe ich begreife, dass es sich bei der auf meine Stirn gerichteten Pistole um ein Fieberthermometer handelt, misst die resolute Frau die Temperatur von Passagier 14 E, drei Sitzreihen hinter mir. Ich muss doch eingenickt sein. Keiner der Passagiere hat H5N1. Die Maschine ist vogelgrippefrei, wir dürfen aussteigen. Doch seit wann messen die Russen die Körpertemperatur auch auf Inlandsflügen?

Die Tauben auf dem Platz vor dem Flughafen von Irkutsk verschlafen diesen kühlen Sonntagmorgen. Von irgendwoher läuten die Kirchenglocken das Osterfest ein, es tönt dumpf und fern. Hier beginnt also meine Reise entlang den Bruchzonen der Imperien, meine Expedition durch, ja durch was eigentlich? Nordostasien? Ein komischer Begriff. Klingt konstruiert. Was gehört dazu, was nicht? Russland als das größte Land der Erde ist Teil davon, genauso wie China, der bevölkerungsreichste Staat. Japan sicher auch. Aber was ist mit der Koreanischen Halbinsel? Und die Mongolei, zählt die eigentlich auch dazu? Wer entscheidet das überhaupt? Nordostasien erscheint mir plötzlich viel größer als die Summe seiner Teile. Ich reibe meine roten Augen, marschiere ein Stück, dann schaukelt mich ein betagter Tramwagen in Schrittgeschwindigkeit ins Zentrum von Irkutsk. Gleichgültig reißt die Schaffnerin einen Fahrschein von der Rolle ab.

Mittags treffe ich Wiktor in seinem Büro in der Universität. Großgewachsen, wirkt er doch klein neben den Papierstapeln auf seinem Schreibtisch. Selbst die Stühle sind mit Büchern überladen. Die Scheiben vor den durchhängenden Bücherregalen reflektieren die milchige Frühlingssonne. «Und, was hast du in den letzten Jahren so getrieben?» Wiktor wartet meine Antwort nicht ab, stattdessen drückt er mir sein neuestes Buch in die Hand. Das ist unter Wissenschaftlern in Russland Usus, da die Auflagen niedrig und die landesweite Distribution von Publikationen unzuverlässig ist. Irgendwie sind akademische Drucksachen in Russland graue Literatur geblieben, früher aus politischen, heute eher aus ökonomischen Gründen.

«Wann warst du gleich zum letzten Mal in Irkutsk?», will Wiktor von mir wissen, «ich zeig dir, was sich alles nicht verändert hat.» Er lacht schallend, so wie früher. Am Ostersonntag 2019 – zehn Jahre nach meinem letzten Besuch – hat sich in der Stadt tatsächlich erstaunlich wenig getan. Freilich, die dröhnende Popmusik, der Sound der ersten nachsowjetischen Dekaden, ist aus den Straßen verflogen. Lautsprecher plärren keine russischen Volkslieder, keine sowjetischen Chansons und keinen postsowjetischen Hip-Hop mehr vor jedem noch so kleinen Laden. Stattdessen ist die Uferpromenade herausgeputzt, hier und da strahlen ein paar frisch getünchte Fassaden. Die Staatsanwaltschaft hat einen prunkvoll-geschmacklosen Neubau am Angara-Ufer bezogen – keiner müht sich zu kaschieren, wo das Geld sitzt.

Im Sommer 2009, während die Studenten ausgeflogen waren und sich die halbe Stadtbevölkerung auf ihre Datschen verabschiedet hatte, schlenderten Wiktor und ich schon einmal an Kirchen vorbei und durch kleine Parkanlagen dieser hübsch daherkommenden alten Stadt. Die Trolleybusse summten auch ohne Fahrgäste, und Springbrunnen plätscherten gegen die Hitze an. Hier und da zeigte Wiktor auf ein Gebäude oder eine der unzähligen Skulpturen, von denen es in Irkutsk noch mehr gibt als anderswo in Russland: natürlich für Lenin, aber auch für die Dekabristen und die Frauen der Dekabristen, von denen noch die Rede sein wird, für einen Veterinär und für Touristen.

Zehn Jahre später und dreißig Grad kühler passieren wir eingeschossig-erdversunkene Holzbauten, die ihren Verfall mit Fassung zu tragen scheinen. Schiefe Fenster schielen mich an. Ihre blauen Läden kratzen auf dem Trottoir, so tief sind manche der Häuser in den sibirischen Morast eingesunken. Vom Bäckereikombinat zieht der Duft frischen Brotes herüber.

«Du wirst sehen, hier gibt es keine großen Umbrüche – Uferpromenade und Staatsanwaltschaft hin oder her. Irkutsk ist nicht Krasnojarsk, erst recht nicht Wladiwostok.»

«Liegt nicht gerade darin der Reiz der Stadt?», wende ich ein.

«Du hast den verklärten Blick eines Europäers», entgegnet Wiktor. «Aber ich habe früher selbst so nach Osten, nach China, geschaut. Herabgeschaut. Wenn wir das, weswegen du hier bist, nur besser schützen würden!»

Der Feiertag trägt ein Übriges zur trägen Stimmung bei. Die letzten Schneereste sind zwar weggetaut, doch an den Bäumen sprießen noch nicht einmal Knospen. Nur an einigen Häuserwänden prangen bereits auf Plakaten die orange-schwarzen Georgsbändchen, das russische Symbol des Kriegsgedenkens. Bis zum Jubiläum des Sieges über Hitlerdeutschland sind es noch knapp zwei Wochen.

Auf der Straße begegnen wir kaum Menschen. Nur vor der Dreikönigskathedrale an der Uferpromenade der Angara warten Kirchgänger auf Einlass. Die Verhaltensregeln sind auf Russisch, Englisch und Chinesisch angeschlagen: Keine Nutzung von Mobiltelefonen und Kameras, keine knappen Röcke. China kommt also immerhin auf Hinweisschildern vor.

Vom Turm durchbricht ein stetiger, doch unregelmäßiger Glockenschlag die Stille. Zur Läuteanlage dieses Ensembles aus sibirischem Barock und russischem Klassizismus führt eine schmale Stiege hinauf. Die Stufen aus dem frühen achtzehnten Jahrhundert sind ausgetreten. Popen gehen sie täglich hinauf. Den weltlichen Kirchgängern ist der Zutritt zum Turm nur am Ostersonntag gestattet – dann dürfen sie die Glocken läuten.

Oben peitscht mir kalter Aprilwind entgegen. Durch die Glocken hindurch ist der Blick frei auf die Angara, die schnell das klirrende Eiswasser des Baikalsees durch die Stadt trägt, als sei auf dem Weg zur Karasee, zum Polarmeer besondere Eile geboten. Das gegenüberliegende Ufer der Angara ist bis heute nur spärlich bebaut. So geht der Blick beinahe wie vor dreieinhalb Jahrhunderten, als Kosaken hier von ihren Wehrtürmen über das Wildnispanorama wachten, in die noch graue Landschaft. Unten, am Fuß der Kirche, singt eine Trachtengruppe sibirische Volkslieder gegen die Aprilbrise an. Dahinter droht die ewige Flamme zu erlöschen, die an jene Sibirier in den Rängen der Roten Armee erinnert, die auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs starben – vom mandschurischen Harbin im Osten bis zu den Seelower Höhen im Westen. Frische Nelken leuchten auf dem Marmor, davor schieben junge Kadetten Wache.

In unmittelbarer Nachbarschaft reckt die Erlöserkirche, Irkutsks ältester Sakralbau und das älteste erhaltene Steingebäude Ostsibiriens, ihre goldene Nadel in den silbrig verhangenen Himmel. Der neugotische Turm der katholischen Kirche daneben erinnert an die einst bedeutende polnische Diaspora. Nach zwei Aufständen 1831 und 1863 hatten die Zaren Nikolaus I. und Alexander II. Tausende Polen ins ostsibirische Exil verbannt. Wie viele andere Gotteshäuser war die Kirche zu Sowjetzeiten geschlossen. Doch seit 1978 ist sie ein Konzertsaal – ausgestattet mit einer Orgel der Potsdamer Firma Alexander Schuke. Europa scheint überall zum Greifen nah.

Hier ist sie also, die Keimzelle der alten sibirischen Stadt, am Zusammenfluss von Irkut und Angara. Weniger als sechs Jahrzehnte nachdem der Kosaken-Ataman und Entdecker Jermak 1582 im Auftrag der durch Salzhandel reich gewordenen Unternehmerdynastie der Stroganows den Ural überschritten und damit die russische Eroberung weiter Teile Nordasiens eingeleitet hatte, reichte das Russische Imperium bereits bis an den Pazifik. Russland wurde früher Pazifik- als Ostsee- oder Schwarzmeermacht. Mal stoßend, mal tastend drangen Kosaken gen Osten vor. Die Truppen des Zaren sicherten mit Forts und Handelsposten ihren sibirischen Expansionsweg: 1587 Tobolsk, 1604 Tomsk, 1632 Jakutsk und schließlich 1651, nach dem Sieg über die mongolischen Burjaten, Irkutsk. Bereits vier Jahre zuvor hatten Kosaken den Pazifik erreicht und in Ochotsk das erste Küstenfort errichtet. Nur zwei Jahrhunderte später herrschte das Russische Imperium über ein Sechstel der Landmasse der Erde. In den Weiten Eurasiens erwachte das russische Sendungsbewusstsein, ähnlich wie Amerikas nicht minder von der Gier nach Gold und Pelzen und vom Hunger nach Freiheit getriebene Expansion nach Westen als göttlicher Auftrag, als Manifest Destiny erklärt wurde. Doch auf die Nachfahren Jermaks wartete am Endpunkt ihrer Expansion kein Kalifornien. Vielleicht ist das der Grund, weshalb die russische Frontier vergessen ist, selbst vielen Russen ist sie kaum vertraut.

Die Angara, der einzige Strom, der aus dem Baikal abfließt, verbindet...

Erscheint lt. Verlag 22.2.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Amur • Asien • Baikalsee • China • Fluss • Geografie • Geschichte • Grenze • Grenzfluss • Grenzregion • Harbin • Japanischen Meer • Metropolen • Moskau des Ostens • Politik • Russland • Schwarze Drache • Sibirien • Wladiwostok
ISBN-10 3-406-76853-9 / 3406768539
ISBN-13 978-3-406-76853-8 / 9783406768538
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