Kalkutta - Indien -  Sabine Wöger,  Wolfgang Wöger

Kalkutta - Indien (eBook)

Volontariat in Einrichtungen von Mutter Teresa
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
176 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7526-3810-3 (ISBN)
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Es dauerte mehrere Jahre, bis es uns möglich war, die Vielfalt an überwältigenden, berührenden, nachdenklich stimmenden und auch verstörenden Eindrücken vom Leben der Menschen und Tiere in Kalkutta, der Hauptstadt von Westbengalen im Nordosten Indiens, niederzuschreiben. Selbst eine krisenhafte Lebenswende erfahrend, hatten wir entschieden, nach Kalkutta zu reisen, um uns dort einer sinnvollen Aufgabe zuzuwenden und als Volontäre tätig zu sein. Wir dienten in dem ersten von Mutter Teresa 1952 gegründeten Sterbehaus 'Nirmal Hriday' in Kalighat und in der Krankenambulanz von Nirmala Shishu Bhavan, das ist ein Kinderheim in Kolkota.

DDDr.in Sabine Wöger, MMMSc, MEd, ist Gesundheits-, Bildungswissenschafterin und Psychotherapeutin.

Volontariat in Nirmal Hriday

„Wofür arbeite ich? Wenn es keinen Gott gibt, kann es auch
keine Seele geben. Wenn es keine Seele gibt,
dann, Jesus, bist du auch nicht wahr!“
(Mutter Teresa, in Koller, 2010, Minute O:30).

Mutter Teresa bezeichnete sich selbst als „Heilige der Dunkelheit“, weil sie das Licht für jene sein wollte, die auf Erden in Dunkelheit lebten (Schneider, 2011, S. 5). 1952 gründete sie das erste Sterbehaus in der Tempelanlage Kalighat. Zuvor war das Gebäude eine Schlafstätte für Pilgernde. Zu Ehren des Unbefleckten Herzens Mariens nannte sie es „Nirmal Hriday“, was auf Bengalisch „reines Herz“ heißt (Schwarzer-Beig, 2016, S. 6). Gläubige Hindus waren darüber empört, dass eine katholische Nonne Einzug in ein für sie heiliges Gebiet hält. Doch Mutter Teresa entgegnete, sie wolle die Sterbenden von der Straße holen, um sie in den Himmel zu heben (Koller, 2010, Minute 17,06). Ob Freiwillige, Politikerinnen und Politiker, Geistliche oder Papst Johannes Paul II., alle Besuchenden führte sie in das Sterbehaus. Sie nahm deren Hand und legte sie auf die Stirn eines sterbenden Menschen, so als würde sie durch die Berührung der „geringsten Brüder“ (Deutsche Bibelgesellschaft, 2020, Mt. 25,40) den Besuchenden die Begegnung mit Gott ermöglichen und schenken wollen (Schwarzer-Beig, 2016, S. 6).

Zu Fuß unterwegs ins Sterbehaus

Am dritten Tag nach unserer Ankunft machten wir uns nachmittags auf, um nach Nirmal Hriday, unserem angestrebten Einsatzort, zu gehen. Laut Internet-Routenplaner wurde für die Strecke von fünf Kilometern dorthin eine Stunde Gehzeit berechnet. Aufgrund der vielen Menschen, die sich auf engstem Raum zwischen den Ständen am Straßenrand hindurchbewegten, der körperlich belastenden Schwüle, der hohen Feinstaubbelastung sowie der hochgefährlichen Verkehrssituation kamen wir nur sehr langsam voran. Wiederum hielten wir vergeblich Ausschau nach Anschlüssen für fließend Wasser, hingegen standen unzählige Metallbehälter mit stark verunreinigtem Wasser herum. Nach dreieinhalb Stunden Gehzeit hatten wir Nirmal Hriday noch immer nicht gefunden. Es dämmerte schon und die Smogbelastung schien abends noch stärker als tagsüber zu sein. Wir riefen ein Taxi und fuhren erschöpft zurück zum Hotel.

Der erste Eindruck

Beim nächsten Versuch fuhren wir gleich, abermals in einer sehr abenteuerlichen Fahrt, mit dem Taxi zum Nirmal Hriday. Wir hatten uns dieses Haus viel größer vorgestellt. Es war das einzige weiße Haus in dieser Straße, bei allen anderen Gebäuden war das Mauerwerk grauschwarz verfärbt. Zunächst ließen wir den Ersteindruck des Hauses, unseres lang ersehnten Einsatzortes, einige Minuten auf uns wirken. Eine Frau kam hinzu und sprach von außen durch ein Holzgitter, das in die Eingangstüre integriert war. Danach ging sie wieder. Wir befürchteten, dass auch uns der Einlass nicht gewährt wurde. Wir öffneten die hohe schwere Eingangstür und konnten problemlos eintreten. An der Innenseite der Tür war ein Schild mit der Aufschrift: „No visitors from 12:00 am to 03:00 pm“ angebracht. Hinter der Tür saß ein Mann, neben ihm standen seine Krücken. Er erklärte mit einer Handbewegung und mit wenigen Worten, dass wir uns umsehen dürften. Nur wenige Stufen und schon befanden wir uns im Männer-Krankensaal des Hauses. An einer Säule hing eine Tafel, auf die mit Kreide der derzeitige Belegstand geschrieben war: 40 Männer und 39 Frauen. Einfache Eisenbetten mit grünen Wolldecken standen dicht aneinandergereiht, jedoch waren nur wenige belegt. Die Bettdecken waren ordentlich zusammengefaltet. Die meisten Männer fanden wir einige Minuten später im Waschbereich vor. Die Krankensäle der Frauen und Männer waren durch die „Wäschezone“, in diesem Bereich wurde Wäsche gebügelt und genäht, voneinander getrennt. Wir versuchten zunächst, bei einer italienisch sprechenden Dame in Erfahrung zu bringen, wo wir uns zum Freiwilligendienst anmelden könnten. Sie informierte uns, dass wir uns zuerst in einem anderen Gebäude registrieren lassen müssten. Ein junger sympathischer Herr aus Dänemark kam auf uns zu und erteilte weitere Auskünfte. Die Adresse, wo wir uns am nächsten Tag ab 07:30 Uhr melden sollten, schrieb er auf einen Notizzettel. Falls wir dort auch ein Frühstück einnehmen wollten, müssten wir schon um 07:00 Uhr vor Ort sein. Und auch das brachten wir im Gespräch in Erfahrung: Es bestand die Möglichkeit, sowohl vormittags von 08:00 bis 12:00 Uhr und/oder nachmittags von 15:00 bis 17:00 Uhr im Nirmal Hriday zu arbeiten. Angeblich gab es mehrere Häuser, in denen man einen ähnlichen Dienst verrichten konnte.

Die italienisch sprechende Dame erklärte, dass hauptsächlich nachmittags Bedarf an Freiwilligen bestehe. Der dänische Herr unternahm mit uns noch eine kurze Hausführung. Er zeigte uns Schließfächer, in denen wir unsere Sachen während des Dienstes hinterlegen konnten. Das Haus war angenehm klimatisiert und sauber. Ein anderer junger Mann, freundlich lächelnd, strich die Wände mit weißer Farbe. Beim Eingang befand sich ein Tisch mit sauberem Trinkwasser in Kannen, an dem sich die Menschen bedienen konnten.

Nachdem wir das Haus wieder verlassen hatten, sahen wir wenige Meter vor der Eingangstür zum Hospiz zwei abgemagerte, exsikkierte (ausgetrocknete) und spärlich bekleidete Personen, die auf dem heißen Asphalt in der prallen Hitze lagen. Ihre Atmung war flach. Eine Person war bewusstseinsbeeinträchtigt.

Sabine:

Ich war irritiert. Nahezu alle Kranken im Nirmal Hriday waren allein gehfähig, kräftiger und durchweg gesünder als jene vor der Eintrittspforte, deren Leben an einem seidenen Faden hing. Nach welchen Kriterien wurden Patient*innen in dieses Haus aufgenommen? Mutter Teresas Ansinnen lag doch darin, sich der Ärmsten der Armen anzunehmen. Dort zu sein, wo Menschen ein unwürdiges Dasein fristeten, war der zentrale Auftrag Gottes. Sie selbst suchte die Menschen in den Slums auf und holte diejenigen, die die Hilfe am dringlichsten benötigten, ins Sterbehaus. Nirmal Hriday wirkte auf den ersten Eindruck nicht überfüllt und hätte den beiden Sterbenden auf der Straße vor dem Hospiz noch leicht Platz geboten. Man hätte sie leicht mit einem kühlen Schlafplatz und mit Flüssigkeit versorgen können.

Wolfgang:

Unklar war für uns, weshalb nur zwei von insgesamt 60 Betten im ersten Raum des Hospizes, der Männerabteilung, belegt waren. Alle grünen Bettlaken waren straff gespannt. Der Raum sah ordentlich, indes unbelebt aus. Im angrenzenden Waschraum saßen die männlichen Patienten von Nirmal Hriday und unterhielten sich. Ein ähnliches Bild zeigte sich im Frauenbereich. Die Stimmung war harmonisch und, wie auch im Männerbereich, unbeseelt.

Wir dachten darüber nach, wie es wohl wäre, wenn wir mit einem sterbenden Leprapatienten oder mit einem Menschen mit Verdacht auf tuberkulosebedingtem Husten an der Pforte des Hospizes um Aufnahme bitten würden. So kühl, wie die klimatisierten Krankensäle waren, so abgekühlt und seelenlos fühlte sich die Atmosphäre des Hauses an. Was wir erlebten, war der organisierte Besuch einer stationären Einrichtung für Sterbende, so unser Eindruck.

Sabine:

Mir kam eine Dynamik in den Sinn, die angesichts einer ununterbrochenen und (zu) hohen Intensität in der Begleitung Leidender und Sterbender bei den Betreuenden eingesetzt werden konnte, um die emotionale Dichte im Zuge von Palliativarbeit besser ertragen zu können. Untersuchungen auf Palliativstationen in Europa belegten, dass insbesondere dann, wenn Sterbende jung sind, viele innerhalb kurzer Zeit versterben und kaum Zeit für den kollegialen Austausch und für einen würdevollen rituellen Abschied bleibt, Funktionalität in der Betreuung und eine professionelle Distanz in der menschlichen Begegnung die Folgen sind (Müller et al., 2010, S. 227; Pfister, 2014, S. 43–44; Koh et al., 2015, S. 635).

In den Bereichen für die Patient*innen sahen wir nur vereinzelt Freiwillige, keine Ordensfrauen. Zwei Näherinnen vermittelten ebenso den Eindruck, hier eine nette und gemütliche Zeit miteinander zu verbringen. Doch wo wurden die Schwerkranken und Sterbenden würdevoll gepflegt? Wo fanden die Allerärmsten von der Straße einen würdigen Ort? Wer nahm sich ihrer an, wenn sie nicht mehr in der Lage waren, in das Sterbehaus zu kommen oder wenn es niemanden gab, der sie dorthin bringen konnte? Wer ging auf jene Menschen zu, die dringend Hilfe benötigten? Mutter Teresa war zwar präsent in Bildern und abgedruckten Gebeten, die sie gesprochen hatte. Auch Rituale, etwa Gebetszeiten, wurden durchgeführt. Doch es wurde mehr das Andenken an die Ordensgründerin gepflegt, als dass ihr Ansinnen fortgeführt und gewahrt wurde. Keinesfalls wollten wir aufgrund unzureichender Einsicht in die Gegebenheiten und Abläufe vorschnelle Schlüsse ziehen, weshalb wir nicht nur im Nirmal...

Erscheint lt. Verlag 6.1.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
ISBN-10 3-7526-3810-9 / 3752638109
ISBN-13 978-3-7526-3810-3 / 9783752638103
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