Demokratie aushalten! -  Karoline PREISLER

Demokratie aushalten! (eBook)

Über das Streiten in der Empörungsgesellschaft
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
100 Seiten
S.Hirzel Verlag
978-3-7776-2999-5 (ISBN)
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Wie wir als Gesellschaft wieder miteinander ins Gespräch kommen. Bewegen wir uns alle nur noch in unseren Blasen, nicht bereit und willens, uns auf Positionen der »anderen« einzulassen? Setzt sich durch, wer nur laut genug polarisiert und diffamiert, wer Fakten ignoriert, verleugnet, verdreht, gar zur Gewalt aufruft? Die Auseinandersetzungen um die Corona-Maßnahmen haben uns mit neuer Dringlichkeit vor die Frage gestellt, wie Demokratie in Zeiten einer Erosion der Mitte und des sozialen Zusammenhalts gelebt und geschützt werden kann. Karoline M. Preisler stellt sich diesen Fragen und plädiert als leidenschaftliche Demokratin dafür, neue Werkzeuge und Begegnungsorte für den nötigen Dialog über Streitthemen wie Grenzen der Freiheit, Religion, Klimakrise, Migration oder Familie zu schaffen.

Karoline M. Preisler, 1971 in Ost-Berlin geboren, war früh politisch interessiert und geriet schon mit 13 Jahren ins Visier der Staatssicherheit. Die Volljuristin, die heute in Barth (Mecklenburg-Vorpommern) und Berlin lebt, ist seit 2013 Mitglied der FDP und engagiert sich unter anderem für Bildung.

Rettungsring


Manche Geschichten fangen harmlos an, meine beginnt weniger harmlos, nämlich mit Atemnot. Es ist Mitte März 2020, und beim ersten Halskratzen ahne ich: Das ist kein normales Halskratzen. Das Coronavirus ist längst in Deutschland angekommen, und als das Testergebnis bei mir eintrudelt, weiß ich intuitiv, dass ich SARS-CoV-2 habe – denn es geht mir so schlecht wie nie zuvor. Meine drei jüngeren Kinder kümmern sich dann zwei Tage mehr um mich als ich mich um sie. Mein Hausarzt lässt dem Gesundheitsamt und mir am Telefon ungeniert ausrichten, dass er mir nicht helfen wird. Er kommt einfach nicht. In der dritten Nacht wird meine Atemnot so heftig, dass ich wie eine Ertrinkende Todesangst habe, und genau so fühle ich mich: Als würde ich bei vollem Bewusstsein ertrinken. Mein Mann ruft den Notarzt.

Das Rettungsteam ist beeindruckend, sichert den Treppenflur und Hauseingang ab, wie nach einem Super-GAU im Kernkraftwerk. Ich selbst bekomme davon wenig mit, bin absorbiert von meinen Sorgen um die Kinder – und vom Abschied. Mein Mann fragt noch: »Wir ­sehen uns doch wieder, oder?«, dann geht er die verängstigten Kinder beruhigen. Im Krankenhaus bekomme ich kein Mehrbettzimmer, sondern werde in eine Quarantänestation gesperrt –, streng von der Außenwelt isoliert, permanente Atemnot und Panik bleiben mir treu.

Noch wenige Wochen zuvor war Corona weit weg, jetzt ist das Virus in der Gesellschaft und in meinem Körper angekommen. Kaltweißes Licht fällt in meine halb geöffneten Augen, und eigentlich müsste es hier nach dem Essen riechen, das unangetastet auf meinem Edelstahlnachttisch steht, aber ich rieche nichts. Ich schmecke auch kaum, aber das ist unerheblich, denn zum Essen bin ich sowieso zu schwach.

Mit flacher Atmung versuche ich, im Krankenhaus einzuschlafen, aber die Angst vor dem Ersticken begleitet jeden meiner Atemzüge, und es geistern mir die immer gleichen Fragen durch den Kopf: Was passiert hier mit mir? Wie geht es meiner Familie? Werde ich sie jemals wiedersehen? Meine Liebsten, meine Freunde und Kollegen – oder muss ich jetzt mutterseelenallein in dieser Corona-Isolation sterben?!

Bei diesen Fragen zittern meine Hände, meine Brust hebt und senkt sich nur schwer, ich ringe nach Luft, Tränen fließen. Später werde ich mich dankbar an das Pflegepersonal erinnern, das mich engmaschig überwacht, weil die Sauerstoffsättigung in meinem Blut immer wieder rapide abfällt. In voller Schutzkleidung betreten sie ein großes Mehrbettzimmer, in dem ich alleine liege – meine Zelle, wie die Männer bei E.T., dem Außerirdischen, einem meiner ersten Westfilme. Ich grusele und freue mich zugleich, denn sosehr ihre Montur mir das Gefühl gibt, ein Corona-Alien zu sein, sosehr beruhigt mich das Wissen, dass sie meine Atemnot mit Sauerstoff beenden und mir ein Schlaf- und Schmerzmittel verabreichen werden.

Schon am zweiten Tag geht es mir etwas besser, und so kann ich endlich wieder mit meiner Familie sprechen – wenn auch nur digital. Mein Tablet wird mein Fenster in die Welt, und je besser es mir geht, desto mehr weiß ich: Auch meine Erlebnisse hier will ich mit meinen Mitmenschen teilen. Auf Twitter dokumentiere ich seit ein paar Tagen meinen Zustand, ernte in den Kommentaren Zuspruch und Mitgefühl, aber auch jede Menge Wut und Hass. Weil ich Corona habe? Weil ich darüber schreibe? Ich weiß es nicht. Viele haben Interesse an einem Videotagebuch, also laufe ich mit dem Tablet durch meine Quarantänezelle und halte für die Außenwelt fest, was mich hier drinnen festhält: Eine schwere Lungenerkrankung, ausgelöst von einem Virus, das wiederum eine weltweite Pandemie auslöst. Die Sendung »Kontraste« strahlt mein Tagebuch aus.

Als der Krankenhausaufenthalt vorbei ist, ist noch längst nicht alles vorbei: Ich darf meine Zelle zwar verlassen, aber meine Atmung braucht Zeit. Singen, Sport treiben, herzlich lachen – all das wird auf unabsehbare Zeit nur keuchend gehen, wenn überhaupt. Viel krasser aber ist, dass die Welt nach meinen sechs Tagen im Krankenhaus bereits eine andere geworden ist. Was ist »the new normal«? Das kann bisher niemand abschätzen. Die wirtschaftlichen Folgen hingegen lassen sich schon bald genauer einschätzen: Sie werden verheerend sein. Auch die gesundheitlichen Folgen sind schon jetzt klar: Menschen sterben. Und zwar schnell und viele. Wie viele Opfer COVID-19 fordern wird, ist unklar, aber die Bilder aus Bergamo und New York sind erschütternd.

Zugleich formiert sich Widerstand gegen die Lockdownpolitik unserer Bundesregierung: Die selbst ernannten »Querdenker« gehen auf die Straße. Sie verharmlosen jene Krankheit, die vielen Menschen Tod und Leid bringt, die sich mit rasender Geschwindigkeit weltweit ausbreitet, die, so berichtet von Long-Covid-Betroffenen, die Leistungsfähigkeit für vielleicht den Rest ihres Lebens verringern wird, und zugleich skandalisieren sie das Regierungshandeln als Beginn einer angeblichen Corona-Diktatur. Als dieser Begriff zum ersten Mal zu mir durchdringt – Diktatur! –, ist sie plötzlich wieder da: die Atemnot. Mit ihr kommen die Erinnerungen an mein Aufwachsen in einer tatsächlichen Diktatur auf, und mit ihnen auch wieder die Panik. Was, wenn ausgerechnet jene Kräfte, die jetzt von Diktatur schreien, der Demokratie einen dauer­haften Schaden zufügen?

Als meine Gesundheit es wieder zulässt, mache ich mich auf den Weg zu den »Querdenker«-Demos, weil ich mit den Menschen sprechen will. Aus Sorge um ihre körperliche Gesundheit biete ich ihnen Gesichtsmasken an, und aus Sorge um ihre politische Gesundheit biete ich ihnen Gespräche an; beides wird zunächst weitgehend abgelehnt. Aber ich lerne dazu, agiere diplomatischer und bleibe freundlich. Mit der Zeit kommen Gespräche zustande. Zum Jahresbeginn 2021 erwarten mich dann immer wieder einzelne »Querdenker« auf Demonstrationen. Sie bitten um Hilfe beim Ausstieg aus der Szene.

Was 2014 als ausländerfeindliche Bewegung durch Pegida begann, fortgesetzt während der Flüchtlingskrise im Jahr 2015, und 2017 schließlich durch den Einzug der AfD in den Bundestag verstärkt wurde, war nun auf den Straßen der Bundesrepublik Deutschland angekommen: die Polarisierung, der Hass, die Hetze; Fake News, gefühlte Wahrheiten und gelebtes Lagerdenken. Spätestens hier hat sich in mir die Erkenntnis breitgemacht, dass das Coronavirus nicht nur unsere persönliche Gesundheit angreift, sondern auch unsere gesellschaftliche – unserer Demokratie.

Mehrere Verlage hatten mir in der Zwischenzeit angeboten, mein digitales Corona-Tagebuch zu publizieren. Ich hielt das für eine nette Idee, aber auf den »Querdenker«-Demos hatte ich etwas wesentlich Schlimmeres erlebt, als ich es in einem solchen Buch aus meiner Quarantänezelle hätte berichten können: Ich hatte demokratische Atemnot bekommen. Ich hatte in Gesichter geblickt, aus denen der Hass auf alles sprach, was mir politisch lieb und wichtig ist. Nachdem ich in eine »echte«, menschenverachtende Diktatur hineingeboren worden war, musste ich nun, 30 Jahre nach der friedlichen Befreiung daraus, mir anhören, wie Menschen den Schutz unserer Gesundheit als Diktatur verspotteten – und damit auch alle Opfer echter Diktaturen. Und ich habe mit Menschen gesprochen, die die wildesten Verschwörungserzählungen ernsthaft für Realität hielten.

Aus meiner demokratischen Atemnot, aus meiner Angst, in der Gischt der Empörungsgesellschaft zu ertrinken, wächst der Wunsch, einen demokratischen Rettungsring zu verfassen: ein Buch über das Streiten in dieser Empörungsgesellschaft. Es basiert auf meiner Überzeugung: Wir müssen Demokratie aushalten – auch wenn es nicht immer leicht ist.

Ich erhebe damit keinen Anspruch auf Vollständigkeit, denn dazu sind unsere Gesellschaft und ihre Herausforderungen viel zu komplex. Ich will auch keine einfachen Lösungen anbieten und werde keine einfachen Antworten auf schwierige Fragen geben. Ganz im Gegenteil: Demokratie aushalten! soll ein Rettungsring sein, und Rettungsringe erfordern Mitarbeit. Ich will damit die Debatte über Demokratie anregen und nach Rettungswegen aus der Empörungsgesellschaft suchen. Als derzeitige Küstenbewohnerin bleibe ich im Bild: Demokratie will auch ein Rettungsring sein für jene, die in diesen stürmischen Zeiten ihre demokratische Orientierung verloren haben; die in falsche Fahrwasser geraten sind und auf der Welle des Populismus reiten, ohne zu merken, dass sie längst in politischer Seenot stecken –, denn dieses Gefühl kenne ich leider sehr gut.

In Gefangenschaft geboren


Kurz vor meinem 14. Geburtstag steckte auch ich in politischer Seenot – allerdings in den beunruhigend ruhigen Gewässern des Sozialismus: in der DDR. Mit 13 Jahren war ich so politisch, wie man es nur sein kann. Der größte Agentenaustausch aller Zeiten – so kam er mir zumindest vor – hatte gerade auf der Glienicker Brücke zwischen West-Berlin und Potsdam stattgefunden. Der Kalte Krieg war weit unter dem Gefrierpunkt und steckte mir in den Knochen. Wenige Monate vorher war mir nach langem Zweifeln an der Gerechtigkeit des Lebens, in das ich hi­neingeboren worden war, endlich ein Licht aufgegangen: Ich hatte verstanden, dass die DDR-Verfassung ein leeres Versprechen war – und ein Faustschlag ins Gesicht der Freiheit. Das Problem: Meine Klassenlehrerin war Mitglied der SED und arbeitete aktiv mit den staatlichen Behörden zusammen. Ich besuchte die 7. Klasse einer polytechnischen Oberschule in Ost-Berlin, das Pendant zur heutigen Mittelstufe im vereinten Deutschland.

In diesem Sommer jedenfalls, in dem sich mein Hirn ungefragt für die Liebe zur Freiheit entschieden hatte, schrieb meine SED-Lehrerin ein paar harmlos klingende, aber folgenreiche Zeilen über mich auf das Abschlusszeugnis der 7. Klasse; sie hatte wohl ein Gespür für den...

Erscheint lt. Verlag 15.9.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Demokratie • Empörungskultur • Familie • Infektionsschutz • Inklusion • Migration • Umwelt • Verschwörungsmythen
ISBN-10 3-7776-2999-5 / 3777629995
ISBN-13 978-3-7776-2999-5 / 9783777629995
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