Die Patientenfänger -  Michelle Hildebrandt

Die Patientenfänger (eBook)

Wie man uns Krankheiten einredet
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
100 Seiten
S.Hirzel Verlag
978-3-7776-2870-7 (ISBN)
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Seltenen Erkrankungen, die bis vor kurzem kaum bekannt waren und in der Medizin wenig Beachtung fanden, avancieren immer häufiger zur Modekrankheit. Bis vor wenigen Jahren war die Glutenunverträglichkeit eine Rarität, heute findet sich in jedem Supermarkt ein Regal mit glutenfreien Nahrungsmitteln. Die posttraumatische Belastungsstörung kannte man früher nur bei Kriegsversehrten, doch mittlerweile kann sie auch durch eine komplizierte Scheidung ausgelöst werden. Hört man sich im Bekanntenkreis um, weiß fast jeder von einer Allergie oder Nahrungsmittelunverträglichkeit zu berichten. Und auch die Umwelt wird immer bedrohlicher erlebt. Doch wie wird eine seltene Erkrankung zur Modekrankheit, und wer hat ein Interesse daran? Diese Fragen will das Buch klären. In der Kritik stehen Pharmalobbyisten, Nahrungsmittelindustrie und Klinikkonzerne, die nach Profit und Gewinnmaximierung streben. Die Gesundheitspolitik, die sich am vermeintlichen Wählerwillen orientiert und einerseits wirkungslose Globuli als Kassenleistung zulässt, andererseits vor allem Ärzte belohnt, die eine teure Überdiagnostik betreiben. Es geht um die über- und fehldiagnostizierten Patienten. In 'Modekrankheiten' stellt Michelle Hildebrandt die Profiteure der Modekrankheiten an den Pranger und erklärt anhand von Fallbeispielen und aktuellem Wissensstand die häufigsten Modekrankheiten und zeigt die Fallstricke auf, die zu Fehldiagnosen führen können.

Michelle Hildebrandt ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Medizingutachterin. In ihrem beruflichen Alltag ist sie täglich mit Krank-heiten konfrontiert und sorgt sich um alle, die unter den neuen »Modekrankheiten« und deren Behandlungen leiden.

Nahrungsmittelindustrie

Ähnlich wie die Pharmaindustrie steht die Nahrungsmittelindustrie vor dem Problem, dass der Markt gesättigt ist, zumindest in den westlichen Industrienationen und zunehmend auch in Asien. Bis Mitte des letzten Jahrhunderts wurde der Speiseplan von dem bestimmt, was saisonal in der Region wuchs. Mit der Industrialisierung wurde es leichter, Nahrungsmittel in großen Mengen herzustellen. Fertiggerichte und Fast Food hielten Einzug in die Ernährung, und es wurde immer internationaler. Mit der Globalisierung gelangten exotische Früchte zu uns, die bis vor wenigen Jahren unbekannt waren, wie beispielsweise der Zimtapfel, den ich neulich auf einem thailändischen Fest erstmals probieren durfte und der dann zufälligerweise wenige Tage später in unserem Supermarkt angeboten wurde. Mittlerweile kann man fast das ganze Jahr über Erdbeeren bekommen. Großbauern bewirtschaften riesige Monokulturen, und die Massentierhaltung unter Einsatz von Antibiotika hat zu einer totalen Verbilligung von Fleisch geführt. Und die Nahrungsmittelindustrie ersinnt immer neue Tricks, um Lebensmittel noch günstiger zu produzieren. Wer glaubt, im Kirschjoghurt noch echte Kirschen zu finden, der irrt meistens. Statt Kirschen werden die viel günstigeren und unempfindlicheren Cranberries verwendet, die im Joghurt eine ähnliche Konsistenz wie Kirschen haben. Mit den entsprechenden Farb- und Aromastoffen gelingt die perfekte Imitation.24

Es gibt zwar immer noch regionale Erzeuger und kleine Manufakturen, doch das Gros der Lebensmittelherstellung und des Vertriebs ist mittlerweile in wenigen internationalen Konzernen angesiedelt, die nicht selten neben Nahrungsmitteln auch Batterien oder Waschmittel herstellen. Die Lebensmittelvielfalt ist so groß, dass Innovationen kaum noch vorstellbar sind. Um trotzdem im Geschäft zu bleiben, müssen sich die Nahrungsmittelkonzerne etwas einfallen lassen. Und da liegt es nahe, auf der jeweils aktuellen Gesundheitswelle mitzuschwimmen. Mit der Fresswelle in den Wirtschaftswunderjahren war ein völlig neues Problem aufgetaucht. Die Menschen wurden immer dicker. Bis dahin war das Leben immer wieder von Nahrungsmittelknappheit durch Kriege, Armut und Missernten geprägt. Doch mittlerweile gab es in Nordamerika und Westeuropa Essen im Überfluss. Ein Schuldiger für die Übergewichtsepidemie wurde schnell gefunden, der Zucker. Doch es gab Abhilfe: Zuckeraustauschstoffe und Süßstoffe versprachen in den frühen 1970er-Jahren, »das süße Leben leichter« zu machen. Leider hatten sie oft einen bitteren Nachgeschmack oder verursachten Blähungen. Da war es gut, dass es noch einen weiteren Übeltäter gab, das Fett. Es ist kein Zufall, dass sich zeitgleich mit der Vermarktung der Cholesterinsenker auch die Nahrungsmittelindustrie auf möglichst cholesterinfreie, zumindest aber fettarme Nahrungsmittel einstellte. Low-carb-Produkte drängten auf den Markt und versprachen nicht nur Genuss ohne Reue, sondern gaben auch noch die Erlaubnis dazu, im Cholesterinhype eigentlich verpönte Wurst zu essen, frei nach dem Motto »Du darfst«.

Ernährung ist längst nicht mehr nur das Stillen von Hunger, sondern Mittel zur Selbstoptimierung. Vermeintlicher Vitaminmangel wird durch Vitaminzusätze ausgeglichen, sogenannte Superfoods erobern die Obst- und Gemüsestände, zum Beispiel Goji-Beeren, denen aufgrund des hohen Gehalts an Vitamin C und Antioxidantien magische Wirkungen gegen alle möglichen Krankheiten und Alterungsprozesse zugeschrieben werden. Goji-Beeren finden sich nicht nur in Müslimischungen, sondern auch in Kapseln gepresst als Pille zum Einnehmen. Die Ökobilanz ist jedoch alles andere als gut, ganz zu schweigen von der Pestizidbelastung. Dem Vergleich mit heimischem Obst kann die Goji-Beere nicht standhalten. Am Ende tut es auch die heimische Heidelbeere.

Die Geschichte des Gummibärchens illustriert die Ernährungstrends der letzten fünfzig Jahre. Als Kind mochte ich am liebsten die grünen Bärchen. Dann wurde festgestellt, dass der grüne Farbstoff im Verdacht stand, Krebs zu erregen. Die Grünen wurden blass, und mit der Farbe änderte sich der Geschmack. Kiwi statt Waldmeister. Seither bevorzuge ich die weißen. Mit der Biowelle in den 1980er-Jahren kamen die »gesunden« Gummibärchen ohne künstliche Farb- und Aromastoffe. Es gab sie zunächst nur in Bioläden, und sie schmeckten ungewohnt. Mittlerweile werden auch die herkömmlichen Gummibärchen mit natürlichen Farbstoffen versetzt, zum Beispiel mit Roter Bete. Dass die roten Gummibärchen trotzdem nach Himbeere schmecken, verdanken wir den zugesetzten Aromastoffen. Mit der Joggingwelle änderten die Bärchen ihre Form und wurden zu Turnschuhen mit weißer Sohle und zugesetztem Kalzium für starke Knochen. Einem vermeintlichen Vitaminmangel wurde durch den Zusatz von Vitaminen begegnet und erlaubte das Paradoxon »Vitamine und Naschen«. Irgendwann wurden die Gummibärchen »fettfrei«. Für Zuckerphobiker gibt es die zuckerfreie Variante, die jedoch bei »übermäßigem Verzehr«, der nicht näher definiert ist, »leicht abführend« wirken soll. Ein nicht wissenschaftlich fundierter Selbsttest ergab, dass bereits drei davon eine durchschlagende Wirkung hatten. Bis heute glauben einige Langstreckenläufer gern an den Mythos, mit Gummibärchen Knorpelschäden vorbeugen zu können. Ein Hoch auf die Gelatine, die inzwischen jedoch auch in Ungnade gefallen ist, besteht sie doch aus Schweineborsten, also Tier! Vor einigen Jahren warb eine Firma mit Rücksicht auf muslimische Naschkatzen damit, dass die Gummibärchen gelatinefrei und damit »halal« seien. Mit der veganen Welle wurden die gleichen Gummibärchen einfach umetikettiert, sie sind jetzt vegan. Außerdem gibt es Gummibärchen auch noch lactosefrei und glutenfrei.

Mit dem Zusatz von Vitaminen und Mineralstoffen oder Extrakten von Superfood suggeriert die Nahrungsmittelindustrie, einen vermeintlichen Mangel auszugleichen, der gar nicht vorhanden ist. Doch die Sorge um die Gesundheit lässt die Verbraucher zugreifen. Wir wollen beim Essen etwas für unsere Gesundheit tun, denn die ist permanent bedroht. Und das weiß die Nahrungsmittelindustrie für sich zu nutzen. Seltene Nahrungsmittelunverträglichkeiten wie Lactoseintoleranz und Glutenunverträglichkeit, bis vor wenigen Jahren kaum bekannt, scheinen sich rasant auszubreiten. Früher ein Nischenprodukt, füllen die lactose- und glutenfreien Produkte mittlerweile ganze Regalreihen in den Supermärkten.

Allergie gegen alles oder nur Unverträglichkeit?

Werden bestimmte Nahrungsmittel oder deren Bestandteile nicht vertragen, wird häufig eine Allergie verantwortlich gemacht. Doch echte Nahrungsmittelallergien sind selten. Häufiger sind Nahrungsmittelunverträglichkeiten.

Als Allergie wird eine überschießende Reaktion des Immunsystems gegen bestimmte, normalerweise harmlose Umweltstoffe, die sogenannten Allergene, bezeichnet. Beim ersten Kontakt bildet der Körper IgE-Antikörper gegen das Allergen, die dann auf den Mastzellen der Haut und Schleimhaut sitzen. Findet erneut ein Kontakt mit dem Allergen statt, docken die Allergene an den Antikörpern an und lösen eine Immunreaktion aus. Es kommt zur Histaminausschüttung, die für die allergischen Symptome wie juckender Hautausschlag, Schnupfen, Atemnot bis hin zum anaphylaktischen Schock verantwortlich ist. Bei Nahrungsmittelallergien können Bauchkrämpfe und Durchfälle auftreten. Allergien sind in hohem Maß genetisch bedingt. Leiden beide Elternteile unter einer Allergie, besteht eine 50-prozentige Wahrscheinlichkeit für das Kind, ebenfalls eine Allergie zu entwickeln. Nahrungsmittelallergien sind häufig Kreuzallergien. Menschen, die allergisch auf Birkenpollen reagieren, können im Laufe des Lebens eine Kreuzallergie gegen Äpfel oder Nüsse entwickeln. Das liegt daran, dass die allergieauslösenden Eiweißbestandteile der Pollen bestimmten Eiweißstrukturen im Obst oder in den Nüssen ähneln. Kreuzallergien verursachen in der Regel Symptome im Nasen-Rachen-Raum und an der Haut und selten im Darm.

Es gibt aber auch T-Zell-vermittelte Allergien, bei denen die Aktivität von T-Lymphozyten gestört ist. Ein Beispiel ist die Allergie gegen Gluten.

Nahrungsmittelunverträglichkeiten lösen hingegen keine Immunreaktion aus. Den häufigsten Nahrungsmittelunverträglichkeiten liegt meist ein Enzymmangel zugrunde, sodass bestimmte Nahrungsbestandteile nicht verdaut werden, wie bei der Lactoseintoleranz.

Lactoseintoleranz

Jana mochte noch nie Milch, daher trank sie auch keine. Zu Hause wurde viel Joghurt gegessen. Und für den Kaffee benutzte die Familie Kondensmilch. Manchmal bemerkte Jana Blähungen und Bauchschmerzen nach dem Genuss von zu viel Vollmilchschokolade oder Quarkspeisen. Doch sie dachte nicht weiter darüber nach. Als sie anfing zu arbeiten, machte sie jedoch eine merkwürdige Beobachtung: Von Montag bis Freitag stellten sich regelmäßig ab 10 Uhr Blähungen und Darmkrämpfe ein. An den Wochenenden und im Urlaub passierte nichts. Am Stress konnte es nicht liegen. Die Arbeit machte ihr Spaß, und die Kollegen waren nett. Allerdings wunderte sich Jana darüber, dass es keine Kondensmilch gab. Und so tat es Jana den Kollegen gleich, für die es selbstverständlich war, Milch in den Kaffee zu geben. Jana rätselte eine Zeit lang, wo ihre Darmbeschwerden herrühren könnten. Gab es eine Bedingung, die nur bei der Arbeit auftrat, immer um die gleiche Zeit? Das Team traf sich jeden Morgen kurz nach 8 Uhr auf einen Becher Kaffee mit Milch zur Besprechung. Als ein Kollege beim Eingießen die Milch verschüttete, ging es Jana plötzlich auf: Die Milch macht’s! Eine Untersuchung beim Hausarzt verschaffte schnell Klarheit, Jana war lactoseintolerant. Kaffee mit Kondensmilch war für sie...

Erscheint lt. Verlag 22.4.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte ADHS • Fehldiagnose • Glutenunverträglichkeit • Krankenkassen • Pharmalobbyisten • Überdiagnostik
ISBN-10 3-7776-2870-0 / 3777628700
ISBN-13 978-3-7776-2870-7 / 9783777628707
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