Sich den Tod geben. (eBook)
100 Seiten
S.Hirzel Verlag
978-3-7776-2974-2 (ISBN)
Jean-Pierre Wils, Jahrgang 1957, studierte Philosophie und Theologie in Leuven/Belgien und Tü-bingen. Seit 1996 ist er Ordinarius für Christliche Ethik, seit 2010 Ordinarius für Soziale, politische und Kulturphilosophie, seit 2015 Ordinarius für Philosophische Ethik und Kulturphilosophie an der Universität Nijmegen Niederlande. Wils veröffentlichte zahlreiche Publikationen und war, jahrelang Mitherausgeber der Zeitschrift 'Ethik und Unterricht' und Herausgeber der Essayreihe 'Disput'. Seit 2021 fungiert er als Herausgeber der 'Scheidewege. Schriften für Skepsis und Kritik'. Im Hirzel Verlag erschienen von ihm 'Sich den Tod geben. Suizid als letzte Emanzipation?' und 'Der Große Riss. Wie unsere Gesellschafts auseinanderdriftet und was wir dagegen tun können'.
Zur Ausgangslage
Die Debatte um den assistierten Suizid hat in allerletzter Zeit erneut Fahrt aufgenommen. In Deutschland ist dies spätestens seit Aschermittwoch 2020 der Fall, als das Bundesverfassungsgericht den Paragrafen 217 StGB, der die sogenannte »geschäftsmäßige« Förderung der Selbsttötung verbot, für verfassungswidrig erklärte. Dem Parlament wurde daraufhin eine Neuregelung zum assistierten Suizid in Auftrag gegeben. Seitdem sind aus verschiedenster Quelle Stellungnahmen formuliert und Vorschläge eingereicht worden – von Verbänden, Institutionen und Vertretern der Wissenschaft. Das Gesundheitsministerium operiert ausgesprochen defensiv. In einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der FDP-Fraktion ist lediglich von einer »eventuellen« Neuregelung die Rede. Manche würden sogar von einem verbreiteten Unwillen sprechen. Die Nervosität ist jedenfalls mit Händen zu greifen.
Das Thema ist moralisch enorm aufgeladen, weshalb Verstöße gegen den sprachlichen Anstand keinen Seltenheitswert haben. In einer öffentlichen Diskussion zum Thema, an der ich teilnahm, vergriff sich ein prominenter Palliativmediziner im Ton, indem er den Menschen, die um die Beschleunigung oder um die Beendigung ihres Sterbens bitten, den Gang wahlweise zum »Klempner« oder zum »Tierarzt« empfahl. Eine solche Sprechweise bedarf praktisch keines Kommentars. Aus ihr schlägt den Betroffenen die tiefe Verachtung ihres Anliegens entgegen. Argumente sind hier durch Ohrfeigen ersetzt. Wer sich solchen Kämpfern für den Erhalt des Bestehenden in den Weg stellt, wird leicht zum moralischen Feind. Aus einem ethischen Disput ist ein Streit ums Ganze geworden – wahlweise um das Abendland, um die Fundamente der Republik, um das Menschsein »überhaupt«.
Auf der anderen Seite – auf der Seite der Befürworter einer Freigabe des assistierten Suizids – stehen die Zeichen ebenfalls auf Kampf. Nicht ohne Empörung über den Status quo und in Vorwegnahme eines baldigen Triumphs ihrer als Aufklärung verschönert dargestellten Ziele wird der Auffassung gehuldigt, wir hätten noch längst nicht alle Schranken in Sterbehilfeangelegenheiten abgebaut. Die Suizidassistenz müsse von möglichst allen Widerständen gegen sie befreit werden, denn nur so sei die nächste Stufe der Humanisierung der Sterbehilfe zu erreichen. »Sie wollen diese Menschen doch nicht im Stich lassen und ihre Bitten um Hilfe überhören?«, lautet dann die anklagende Frage, gleichermaßen suggestiv wie rhetorisch. Anstelle eines abwägenden Dialogs wird auch hier mit dem Schwert der Moral gedroht.
Vielleicht benötigen wir inmitten der anhaltenden Kontroverse ein kurzes Innehalten, eine gewisse Demut im Hinblick auf unsere Anliegen und Vorhaben. Uns helfen keine Vermeidungsstrategien, die das schwere Thema und die noch viel schwerere Realität zu umgehen versuchen, indem sie jede Liberalisierung der Sterbehilfe zur moralischen Katastrophe und zur Signatur eines untergehenden (oder bereits untergegangenen) christlichen Abendlandes stilisieren. Die Anerkennung des großen Leidens vieler Menschen in der Endphase ihres Lebens verlangt Normen des Rechts, die ihnen den Todeskampf erleichtern helfen. Niemand darf als Folge einer ernsten Erkrankung in eine existenzielle Notlage geraten oder gar in diese gezwungen werden.
Aber ebenso wenig überzeugt die gegenteilige Behauptung, das »gute Sterben« sei mittlerweile in Sichtweite und es müssten lediglich die letzten Barrieren beiseitegeräumt werden, die von hartnäckigen Modernitätsverweigerern immer noch verteidigt werden. Was bis vor Kurzem noch unlösbar war, lässt sich demnach lösen. Vielleicht darf man in diesem Zusammenhang den Gedanken wagen, hinter der Redeweise des »guten Sterbens« verberge sich womöglich eine »Sterbeideologie«[17] (Nina Streeck), die nicht nur dazu neigt, die Schwere des Geschehens zu unterschätzen, sondern Menschen angesichts ihres bevorstehenden Todes dazu zwinge, möglichst optimal Abschied zu nehmen. Der Abbau der Barrieren dient dann dazu, dieses Ideal zu realisieren.
Wer Letzteres, also die Lösbarkeit des Problems erwartet, erwartet Falsches. Die Sterbehilfe bezieht sich nämlich auf ein unlösbares Problem. Das Drama des Sterbens kann gelindert, mit Mitleid und milder Rücksichtnahme begleitet und sanfter gestaltet werden als bisher. Lösen dagegen lässt es sich nicht. Denn da ist kein Problem vorhanden, das seiner Lösung harrt. Es ist nämlich der Tod, der das Problem des Sterbens bildet, und seine Faktizität ist unabänderlich. Das Faktum des Todes verweigert sich jedweder Lösung, auch wenn sich Scharen von Posthumanisten bereits ideologisch, technologisch und finanziell an seiner Abschaffung verausgaben. Zum Gegenstand einer Problemlösungsstrategie eignet sich also auch das Sterben nicht.
Bereits an diesem frühen Punkt zeigt sich, dass wir das Gefühl für die Tragik mancher Sterbesituationen wiedergewinnen sollten. Tragische Situationen sind solche, die sich der Logik praktischer Lösungen verweigern, weil ein Entkommen aus dem Dilemma unmöglich ist und es deshalb nichts zu lösen gibt. In einem solchen Fall kann nicht zwischen zwei Optionen gewählt werden, von denen die bevorzugte die beste, also in moralischer Hinsicht gleichsam unproblematisch wäre. Auf welche Seite man sich auch immer schlägt, das Ergebnis bleibt moralisch problematisch und hüllt sich in Trauer.
Das Sterben und der Tod sind Bestandteile einer fundamentalen Unlösbarkeit, der Unlösbarkeit unserer Existenz. Und diese Unlösbarkeit wird abgeschattet in den Unwägbarkeiten des Sterbens. Momentan überwiegt jedoch eine gewisse Euphorie – die Freude darüber, die letzte Stufe des Freiheitskampfes in Sterbeangelegenheiten bald erklommen, den assistierten Suizid in Reichweite zu haben. Seine Akzeptanz scheint garantiert, aber seine Komplexität rückt eher außer Reichweite.
Leben wir tatsächlich in einer »selbstmordfaszinierten Kultur«, in einer »suizidalistischen« Gesellschaft[18], wie sich der Kulturwissenschaftler Thomas Macho ausdrückt? Woher stammt die neuerliche Prominenz der Selbsttötung? Weshalb nimmt kaum jemand Anstoß am paradoxalen Ansinnen, den Suizid zu einer Lebensoption zu machen? Diese Fragen zielen nicht auf die schrecklichen Folgen eines Selbstmordattentats und ebenso wenig auf Verzweiflungssuizide, in die Liebesverluste oder Krankheitserschwernisse gipfeln. Gemeint ist vielmehr die wachsende Anhängerschaft jener Auffassung, der zufolge die Selbsttötung als eine wählbare, weil rational vertretbare Beendigung des Lebens zu betrachten sei. Der Suizid wird gleichsam eingepreist in das Spektrum verfügbarer Sterbeangebote. In diesem Zusammenhang spielt die Hilfe zur Selbsttötung eine zentrale Rolle, auch im Falle eines sogenannten existenziellen Leidens, also eines Leidens, das nicht oder zumindest nur in Teilen auf einen medizinisch qualifizierbaren Grund zurückzuführen ist.
Anders als noch vor einigen Jahren, gleichsam in den Anfängen der Bewegung um eine Liberalisierung der Sterbehilfe, werden der Suizid und die erforderliche Beihilfe nahezu umworben und als Projekt eines längst fälligen, nächsten Emanzipationsschritts gefeiert. In der Schweiz und in den Niederlanden ist dies längst der Fall. Stehen wir auch in Deutschland am Vorabend eines solchen Bewusstseinswandels? Der »Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit«, wie Immanuel Kant die Aufklärung apostrophierte, hat sich jedenfalls eines neuen Themas bemächtigt und nimmt den mündigen Suizid ins Visier. Das zeigt sich auch daran, dass der Suizid mittlerweile in aller Munde ist.
Von der Anthropologin Frances Norwood stammt der Begriff »euthanasia talk«[19]. Inzwischen ist ein »suicide talk« tatsächlich nicht mehr zu überhören. Einst beschwiegen, ist er zu einem allerweltstauglichen Thema geworden. Im Rahmen der Sterbehilfemaßnahmen ist die assistierte Selbsttötung gar zu einem Vorreiter im Prozess der Liberalisierung geworden. Sie ist ins Rampenlicht der Aufmerksamkeit gerückt und repräsentiert gewissermaßen das Recht auf Oberaufsicht auf den eigenen Tod. Sobald die Tötung durch eigene Hand und angesichts des Urteils, es hätte keinen Sinn weiterzuleben, zum normalen Bestand der erlaubten Maßnahmen gehört, wird auch die Herbeiführung des Todes durch fremde Hand – die sogenannte aktive Sterbehilfe oder Euthanasie – einen weiteren Normalisierungsschub erfahren. In gewisser Weise könnte die Normalisierung des assistierten Suizids sogar eine größere Grenzverlegung bewirken als die aktive Sterbehilfe. Während man im letzteren Fall einer dritten Person die Tötung überlässt und das Sterben in einer ultimativen Passivität hinnimmt, legt man dort selbst Hand an. Man setzt selbst einen Schlussstrich unter das Leben. Man ist selbst Vollstrecker seiner Beendigung. Man gibt sich selbst den Tod, indem man das Leben nimmt. Ein Aktivismus bis zum Schluss bleibt so erhalten. Auch im Sterben hält man den Idealen einer aktivistischen Gesellschaft die Treue. Nicht einmal der Tod soll einem geschehen.
Am Ende seines Buches Du mußt dein Leben ändern hat der Philosoph Peter Sloterdijk fünf Fronten ausgemacht, an denen die beabsichtigte Lebensänderung erprobt und eingeübt werden müsse. Bewirkt werden soll dies in einer »asketische(n) Suspension der Entfremdung«. Zu ihr gehört – gewissermaßen als Frontübung an der ultimativen Grenze zwischen Leben und Tod – der Kampf gegen die »Unfreiwilligkeit« des Letzteren. »Der gekonnte und gehegte Tod ist die unmittelbare Revolte gegen das viehische...
Erscheint lt. Verlag | 12.3.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Ethik • Moral • Selbstgestaltung • Selbstmord • Sterbehilfe • Strafrecht • suizidassistenz |
ISBN-10 | 3-7776-2974-X / 377762974X |
ISBN-13 | 978-3-7776-2974-2 / 9783777629742 |
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Größe: 1,4 MB
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