Move (eBook)
448 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00935-6 (ISBN)
Parag Khanna, geboren 1977 in Kanpur (Indien), ist Politikwissenschaftler, Strategieberater und Publizist. Er arbeitete u.a. für den Council on Foreign Relations, das Weltwirtschaftsforum und als außenpolitischer Berater der Präsidentschaftskampagne von Barack Obama. Khanna ist CNN-Experte für Globalisierung und Geopolitik, regelmäßig veröffentlicht er Artikel und Essays in Zeitungen wie der «New York Times», der «Washington Post» und der «Financial Times». 2019 erschien «Unsere asiatische Zukunft», das zum «Spiegel»-Bestseller wurde. Heute lebt Khanna mit seiner Familie in Singapur, wo er mehrere Jahre an der Nationaluniversität lehrte.
Parag Khanna, geboren 1977 in Kanpur (Indien), ist Politikwissenschaftler, Strategieberater und Publizist. Er arbeitete u.a. für den Council on Foreign Relations, das Weltwirtschaftsforum und als außenpolitischer Berater der Präsidentschaftskampagne von Barack Obama. Khanna ist CNN-Experte für Globalisierung und Geopolitik, regelmäßig veröffentlicht er Artikel und Essays in Zeitungen wie der «New York Times», der «Washington Post» und der «Financial Times». 2019 erschien «Unsere asiatische Zukunft», das zum «Spiegel»-Bestseller wurde. Heute lebt Khanna mit seiner Familie in Singapur, wo er mehrere Jahre an der Nationaluniversität lehrte. Karsten Petersen, Jahrgang 1957, studierte Elektrotechnik an der University of Delaware (USA). Er übersetzt in erster Linie Bücher aus den Bereichen Biografien und Sachbuch aus dem Englischen. Zu den von ihm übersetzten Autoren gehören Bill Gates, Frances Haugen, Ayaan Hirsi Ali, Parag Khanna, Adam Kucharski, Jaron Lanier, Dan McCrum und Adam Tooze.
Geographie ist, was wir daraus machen
Fragen Sie mal jemanden, der oder die zwischen 1990 und 2005 an der Georgetown’s School of Foreign Service in Washington, D.C., das Examen abgelegt hat, an welchen Kurs er oder sie sich ihr Leben lang erinnern wird. Die Augen werden aufleuchten, der Mund verzieht sich zu einem Grinsen, und nur ein Wort wird fallen: «Karten». Ein Kurs, für den es nur einen Credit-Punkt gab und keine Noten (außer bestanden/nicht bestanden), wurde schnell so legendär, dass Studierende alles andere beiseiteließen, um ihn zu belegen. Schon bald schlossen sich Hunderte weiterer Studierender an, die einfach nur zuhören wollten, sodass jedes Jahr ein größerer Lesesaal benötigt wurde. Und der ganze Aufwand, nur um die Vorlesungen des mürrischen Dr. Charles Pirtle live zu erleben – ein Feuerwerk wissenswerter Fakten über jedes einzelne Land, jede Hauptstadt, jedes Gewässer, jede Gebirgskette und jeden Grenzkonflikt auf Erden. Im Jahr 2005 führte die Zeitschrift Newsweek den Kurs «Map of the Modern World», also «Karte der heutigen Welt», auf ihrer Liste der «College-Kurse für Masochisten». Wir konnten nicht genug davon kriegen.
Dr. Pirtle verfolgte zwei hehre Ziele: gegen die geographische Ignoranz anzukämpfen und, ebenso wichtig, aufzuzeigen, dass die Weltkarte ein immer wieder neues Zusammentreffen von Umweltschutz, Politik, Technologie und Demographie ist. Ihm habe ich es zu verdanken, dass Prognosen und die Visualisierung des komplexen Wechselspiels dieser Kräfte zu meiner beruflichen Leidenschaft wurden. Immerhin war die Methode, wie Geographie in den 1990er Jahren an der Highschool unterrichtet wurde, nicht sonderlich erhellend. Damals umfasste der Unterricht im Wesentlichen Erdkunde (hauptsächlich Geologie; kein Wort vom Klimawandel), dazu ging es immer wieder um Staatsgrenzen. Für die meisten Studierenden beschränkt sich das Studium der Geographie leider auf diese politische Geographie, als seien die im Grunde willkürlichen Linien auf unseren Landkarten völlig unveränderbar. In Wirklichkeit sind Staaten durchlässige Behälter, die von den Strömen der Menschen und Ressourcen in ihrem Innern wie nach außen hin geformt werden. Was wäre ein Staat denn ohne sie?
In diesem Buch geht es um die Geographie, die uns am stärksten betrifft: die Humangeographie. Die Humangeographie untersucht, wie wir Menschen über die 150 Millionen Quadratkilometer Land auf sechs Kontinenten verteilt sind. Stellen Sie es sich wie Klimatologie vor: eine profunde Wissenschaft über das Verhältnis, in dem wir zueinander und zu dem Planeten stehen. Humangeographie fasst brandheiße Themen wie Demographie (die Alters- und Geschlechterverteilung von Bevölkerungen) und Migration (die Mobilität der Menschen) zusammen, reicht aber noch tiefer bis in unsere ethnographische Zusammensetzung und sogar unsere genetische Anpassung an eine sich verändernde Umgebung. Klimaflüchtlinge und Wirtschaftsmigranten, gemischte Ehen und sogar die Evolution – dies alles fließt in unsere sich rasch entwickelnde Humangeographie ein.
Warum ist Humangeographie gerade heute so wichtig? Weil unserer Spezies eine harte Zeit bevorsteht und wir bestimmte geographische Gegebenheiten nicht länger als selbstverständlich annehmen können. Unsere Zukunft hängt ab von der Wechselwirkung elementarer Schichten wie der natürlichen Geographie (der Ursprung von Nahrung, Wasser, Energie und Bodenschätzen), der politischen Geographie (territoriale Grenzen, die Staaten demarkieren) und der ökonomischen Geographie (Infrastruktur und Industriezweige). Sie zählen zu den Hauptkräften, die in den vergangenen Jahrtausenden unsere Humangeographie bestimmt haben – und umgekehrt hat unsere Humangeographie diese Schichten geformt.
Tatsächlich waren die Rückkoppelungseffekte zwischen diesen Schichten nie zuvor so heftig und komplex. Die menschliche ökonomische Aktivität hat die Entwaldung und den industriellen Ausstoß von Emissionen beschleunigt, die für die globale Erwärmung, den Anstieg des Meeresspiegels und massive Dürren verantwortlich sind. Vier der wichtigsten amerikanischen Städte sind in höchster Gefahr: New York City und Miami könnten ertrinken, Los Angeles hingegen geht früher oder später das Wasser aus, und San Francisco wird von Waldbränden erstickt. Die gleichen Kettenreaktionen, unter denen in den USA Millionen Menschen zu leiden haben, treffen auch Milliarden in Asien. Man führe sich einmal vor Augen: Asiens spektakulärer wirtschaftlicher Aufstieg in den letzten Jahrzehnten wurde von Bevölkerungswachstum, Urbanisierung und Industrialisierung in einem halsbrecherischen Tempo vorangetrieben. Und alle drei ließen den Ausstoß von Emissionen in die Höhe schnellen. Das hat zu einem Anstieg des Meeresspiegels beigetragen, der die geschäftigen Bevölkerungen der Mega-Küstenstädte am Pazifik und am Indischen Ozean gefährdet. Somit beschleunigt der Aufstieg Asiens zugleich das Versinken Asiens – was immer mehr Asiaten dazu veranlassen wird, über Grenzen zu flüchten, was wiederum Konflikte um Ressourcen auslöst. Wir treiben das System an, dann treibt das System uns an.
Unsere geographischen Schichten sind erheblich aus dem Gleichgewicht geraten. Wir haben in Nordamerika und Europa reiche Länder mit 300 Millionen alten Menschen, Tendenz steigend, und einer verfallenden Infrastruktur – aber grob geschätzt zwei Milliarden junge, untätig dasitzende Menschen in Lateinamerika, im Nahen Osten und in Asien, die imstande wären, sich um die Alten zu kümmern und den Dienstleistungssektor in Gang zu halten. Wir haben unendlich viele Hektar an nutzbarem Ackerland im praktisch menschenleeren Kanada und in Russland, während Millionen mittelloser afrikanischer Bauern durch Dürren von ihrem Land vertrieben werden. Es gibt Länder mit bewährten politischen Systemen, aber wenig Staatsbürgern, wie Finnland und Neuseeland, während Hunderte von Millionen Menschen unter despotischen Regimen leiden oder in armseligen Flüchtlingslagern leben.
Ist es da ein Wunder, dass derzeit Rekordzahlen an Menschen in Bewegung sind?
Kindern des 20. Jahrhunderts werden diese Redensarten womöglich vertraut sein: «Geographie ist Schicksal» und «Demographie ist Schicksal». Die erste deutet an, dass unser Los von unserem Wohnort und den Ressourcen, die er besitzt, bestimmt wird; die zweite, dass unser Los vor allen Dingen von der Größe und der Altersstruktur der Bevölkerung abhängt. Zusammengenommen geben sie uns zu verstehen, dass wir dort, wo wir sind, festsitzen; mit ein wenig Glück ist es ein vernünftig bevölkertes und ressourcenreiches Land. Sollten wir weiterhin an einen derartigen Determinismus und eine solche geographische Apartheid glauben? Natürlich nicht.
Die meiste Zeit über haben wir passiv beobachtet, wie sich die Humangeographie entwickelt, und die Karte der Welt sowie die Verteilung der Menschheit für selbstverständlich gehalten. Das wird nicht länger ausreichen. Vielmehr müssen wir aktiv unsere Regionen neu ausrichten. Wir müssen Menschen und Technologien über die ganze Welt verschieben, um für das Wohl der Menschheit zu sorgen und den Ressourcenverbrauch zu verringern. Massenmigrationen sind unvermeidlich, und sie sind, heute mehr denn je, unerlässlich. Das Gleiche gilt für massive Baumaßnahmen, um lebenswerte Orte bewohnbar zu machen (oder zu halten). Wenn wir es richtig anstellen, können wir unsere Überlebenschancen als Spezies erhöhen, die schwächelnden Volkswirtschaften wieder ankurbeln und eine vernünftigere Karte für unsere Zivilisation zeichnen. Geographie ist nicht Schicksal. Geographie ist das, was wir daraus machen.
In meinem Buch Connectography aus dem Jahr 2016 habe ich ein drittes Axiom vorgeschlagen, um den Lauf der globalen Zivilisation zu erklären: «Vernetzung ist Schicksal.» Unsere gigantischen Infrastrukturnetze – ein mechanisches Exoskelett aus Schienen, Stromleitungen, Internetkabeln und vielem mehr – ermöglichen die rasche Bewegung von Menschen, Waren, Dienstleistungen, Kapital, Technologie und Ideen über den ganzen Globus. Es ist an der Zeit, sie wieder zu nutzen. Vernetzung und Mobilität sind komplementär – zwei Seiten einer Medaille. Ein vierter Grundsatz kristallisiert sich heraus: Mobilität ist Schicksal.
In den kommenden Jahrzehnten werden womöglich ganze Regionen der Welt, die heute überbevölkert sind, von Menschen verlassen, während manche entvölkerte Gebiete massiv an Bevölkerung zulegen und zu neuen Zentren der Zivilisation werden könnten. Wer das Glück hat, an einem Ort zu leben, den er oder sie nicht verlassen muss, hat gute Chancen, irgendwann Migranten über den Weg zu laufen. In Anlehnung an Lenin könnte man sagen: «Es mag sein, dass du dich nicht für Migration interessierst, aber die Migration interessiert sich für dich.»
Die Welt von morgen ist nicht nur voller mobiler Menschen, sondern wird geradezu durch die Mobilität von allem definiert. Jeder wird ein Mobiltelefon besitzen, was bedeutet, dass Kommunikation, Internet, medizinischer Rat, Finanzen und vieles mehr überall verfügbar sind; kein Mensch wird noch zu einer «Bank» gehen. Sowohl die Arbeit als auch das Studium spielen sich online ab; die Zahl der digitalen Nomaden wird schlagartig anwachsen. Immer mehr Menschen leben in mobilen Häusern und anderen beweglichen Unterkünften. Sogar «feste» Vermögenswerte sind mehr und mehr austauschbar. Wir können Häuser mit dem 3D-Drucker bauen, Fabriken und Krankenhäuser an jedem Ort errichten, aus der Sonne oder anderen erneuerbaren Quellen Strom gewinnen und uns von Drohnen alles...
Erscheint lt. Verlag | 23.3.2021 |
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Übersetzer | Norbert Juraschitz, Karsten Petersen |
Zusatzinfo | Mit 10 s/w Abb. |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Alte Industrieregionen • Asien • Demographie • Deutschland • EU • Europäische Union • Großmacht China • Industrie • Migration • Zukunft |
ISBN-10 | 3-644-00935-X / 364400935X |
ISBN-13 | 978-3-644-00935-6 / 9783644009356 |
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