High Energy (eBook)

Die Achtziger - das pulsierende Jahrzehnt

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
400 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00934-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

High Energy -  Jens Balzer
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Es sieht nicht alles schlimm aus in den achtziger Jahren. Aber vieles. Es ist das Jahrzehnt der explodierenden Dauerwellen und Pornoschnauzbärte, der aufgepumpten Schulterpolsterjacketts und schrillen Herumprotzerei; in den Achtzigern werden die Yuppies zu Vorreitern einer neuen Egoistenkultur. Doch gleichzeitig herrscht die Angst vor der Apokalypse, vor dem Atomtod und der Umweltzerstörung; die Menschen sehnen sich nach Utopien und Zukunft, nach neuer Gemeinschaft und Wärme. Helmut Kohl lässt die «geistig-moralische Wende» ausrufen, aber Hunderttausende demonstrieren auch fu?r Frieden und Abru?stung, die Gru?nen etablieren sich als politische Kraft. Die Popkultur wird zum Schauplatz der feministischen und schwulen Emanzipation, mit dem Hip-Hop erhalten Minderheiten eine Stimme, die bis dahin fast unsichtbar waren. Eine ganze Generation lernt am Commodore 64 das Programmieren und begibt sich auf den Weg in die digitale Gesellschaft. Am Ende des Jahrzehnts fällt die Berliner Mauer, eine Umwälzung, die unsere Welt bis heute prägt. Jens Balzer bringt die Widerspru?che der Achtziger zum Leuchten, ihre befremdlichen Moden und bizarren Lebensstile ebenso wie ihren Revolutionsdrang, in dem die Wurzeln unserer Gegenwart liegen.

Jens Balzer, geboren 1969, ist Autor und Kolumnist, u.a. fu?r «Die Zeit», «Rolling Stone», den Deutschlandfunk und radioeins. Er war stellvertretender Feuilletonchef der «Berliner Zeitung» und kuratiert den Popsalon am Deutschen Theater. 2016 erschien sein vielgelobtes Buch «Pop», 2019 «Das entfesselte Jahrzehnt. Sound und Geist der 70er», über das der «Tagesspiegel» schrieb: «So lehrreich wie unterhaltsam ... Am Ende ist man um nie geahnte Erkenntnisse reicher - und wünscht sich, dass sich der Autor bald das nächste Jahrzehnt vornehmen möge.» 2021 folgte «High Energy. Die Achtziger - das pulsierende Jahrzehnt» sowie 2023 «No Limit. Die Neunziger - das Jahrzehnt der Freiheit». 

Jens Balzer, geboren 1969, ist Autor und Kolumnist, u.a. für «Die Zeit», «Rolling Stone», den Deutschlandfunk und radioeins. Er war stellvertretender Feuilletonchef der «Berliner Zeitung» und kuratiert den Popsalon am Deutschen Theater. 2016 erschien sein vielgelobtes Buch «Pop», 2019 «Das entfesselte Jahrzehnt. Sound und Geist der 70er», über das der «Tagesspiegel» schrieb: «So lehrreich wie unterhaltsam ... Am Ende ist man um nie geahnte Erkenntnisse reicher – und wünscht sich, dass sich der Autor bald das nächste Jahrzehnt vornehmen möge.» 2021 folgte «High Energy. Die Achtziger – das pulsierende Jahrzehnt» sowie 2023 «No Limit. Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit». 

Einleitung Alle wollen die Wende


Es ist ein bisschen wie Woodstock. Das ist das Gefühl, das viele Menschen ergreift, die sich an diesem kühlen, frühherbstlichen Sonnabend im Bonner Hofgarten versammeln. Es ist grau und bewölkt, gelegentlich gehen kurze Schauer nieder, aber von den sintflutartigen Regenfällen, die dereinst das Woodstock-Festival verheerten, ist das Wetter an diesem Tag weit entfernt. Dreihunderttausend Menschen sind hier zusammengekommen, am 10. Oktober 1981, um für den Weltfrieden zu demonstrieren, für «Peace, Love and Harmony»: ganz wie die Hippies und Blumenkinder zwölf Jahre zuvor bei ihrem großen Stammestreffen am Ende der bürgerrechtsbewegten Sechziger. Damals war es eine halbe Million, die sich etwas nördlich von New York auf den Feldern des Bauern Max Yasgur versammelte, um Musik zu hören und Drogen zu nehmen, um gegen den Vietnamkrieg zu protestieren und gegen die ungerechte Verfassung der Welt im Ganzen. Die Verhältnisse waren chaotisch, viele blieben in ihren Autos schon auf den überfüllten Straßen zum Festivalgelände stecken, und wer ankam, hatte oft kaum die Gelegenheit, einen Blick auf die Bühnen zu erhaschen.

In der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1981 ist alles besser organisiert, um nicht zu sagen: perfekt. Die demonstrationswilligen Massen werden in Sonderzügen der Deutschen Bundesbahn oder in Bussen in die Bundeshauptstadt Bonn gebracht, dort bewegen sich die Demonstranten in einem fünfzackigen Sternmarsch aufeinander zu, um sich bei der Abschlusskundgebung zu treffen. «Die achtziger Jahre werden mehr und mehr zum gefährlichsten Jahrzehnt in der Geschichte der Menschheit. Ein Dritter Weltkrieg wird aufgrund der weltweiten Aufrüstung immer wahrscheinlicher.» So lauten die ersten Zeilen des Aufrufs zur Demonstration, und am Ende heißt es: «Wir sind alle aufgerufen, uns mit Mut, Phantasie und langem Atem gegen einen drohenden Atomkrieg zu wehren und Alternativen zur gegenwärtigen Militärpolitik zu entwickeln.» Schier unüberschaubar sind die Menschenmengen, die für dieses Ziel demonstrieren, es sind junge Hippies und Ökos darunter sowie Hippies und Ökos mittleren Alters, Angehörige von Kirchengruppen und der im Vorjahr neu gegründeten Partei Die Grünen, Gewerkschafter, Mitglieder von DKP und CDU, aber auch solche aus der SPD, die sich gegen den offiziellen Regierungskurs des Bundeskanzlers Helmut Schmidt aussprechen. Es reden der evangelische Pastor und ehemalige SPD-Bürgermeister Westberlins, Heinrich Albertz; zwei Prominente aus der Partei Die Grünen, Petra Kelly und Gert Bastian; die Witwe des US-amerikanischen Bürgerrechtlers Martin Luther King, Coretta Scott King, versucht, ein wenig Hoffnung auf eine friedliche Welt zu stiften; die Theologin Uta Ranke-Heinemann hingegen malt die Gesamtlage in den düstersten Farben.

Zu Beginn der achtziger Jahre spitzt sich der Kalte Krieg zu; bei vielen Menschen wächst die Angst, er könnte bald in einen heißen Krieg umschlagen. Seit 1977 hat die Sowjetunion in den Staaten des Warschauer Pakts neue Waffen für einen Atomkrieg in Stellung gebracht. Die zwanzigste Generation der «Surface-to-surface»-Raketen, kurz SS-20, kann fünftausend Kilometer weit fliegen und also im Ernstfall ganz Westeuropa verheeren. Dagegen verabschiedet das westliche Militärbündnis im Dezember 1979 den NATO-Doppelbeschluss. Darin heißt es: Wenn die Sowjetunion sich nicht binnen vier Jahren für den Rückzug der SS-20 entscheide, dann werde man selbst neue atomare Mittelstreckenraketen stationieren. Mit den Pershing-II-Flugkörpern will die NATO jenes «Gleichgewicht des Schreckens» wiederherstellen, das – wie die Vertreter beider Militärblöcke behaupten – in der gegenwärtigen Lage einzig und allein den Frieden garantiert. Die Sowjetunion bleibt vom Doppelbeschluss unbeeindruckt, mehr noch: Zwei Wochen danach, am 25. Dezember 1979, lässt sie Truppen in Afghanistan einmarschieren, um das seit dem vorigen Jahr dort herrschende kommunistische Regime zu unterstützen. Dieses hat sich eine Modernisierung und Säkularisierung des Landes zum Ziel gesetzt, unter anderem mit gleichen Bürgerrechten für Frauen und einem Burkaverbot. Darum wird es von den islamistischen Mudschaheddin bekämpft, welche wiederum – rückblickend betrachtet eine allerdings bizarre historische Wendung – die Unterstützung der USA genießen.

Die Konfrontation zwischen dem kapitalistischen Westen und dem kommunistischen Osten ist damit in eine neue Phase der Eskalation eingetreten; nicht wenige Menschen sehen sich, wie es schon im Aufruf zur Demonstration in Bonn anklingt, am Vorabend eines Dritten Weltkriegs. Die dreihunderttausend Demonstranten in der Bundeshauptstadt bekunden ihre Ohnmacht und ihre Angst angesichts einer politischen Lage, die jederzeit zu einer globalen Katastrophe führen könnte. Dass so viele Menschen zusammenkommen, um ihren Unmut zu bekunden, verschafft vielen Glücks- und Gemeinschaftsgefühle; darin ähnelt die Stimmung tatsächlich jener in Woodstock zwölf Jahre zuvor, als Janis Joplin beim Blick von der Bühne ins Publikum ergriffen ausruft: «Ich hätte nicht gedacht, dass wir so viele sind!» Auch in Woodstock sind die Besucher und Besucherinnen im Protest gegen einen Krieg geeint, den Vietnamkrieg.

Aber es gibt doch einen Unterschied, der wiederum etwas aussagt über den Unterschied zwischen den siebziger Jahren, die in Woodstock beginnen, und den Achtzigern, die ihren Ausgang im Bonner Hofgarten nehmen. In Woodstock wähnen sich die Menschen am Beginn einer neuen Epoche; einer Epoche, die weniger kriegerisch und konfrontativ sein wird als die bisherige Menschheitsgeschichte. Sie betrachten sich, nach dem Titel eines Woodstock-Songs von Melanie Safka, als «beautiful people», deren harmonischer und friedfertiger Geist bald die ganze Welt beglücken wird – gewissermaßen als Avantgarde einer Globalisierung, die die gesamte Menschheit einer besseren Zukunft entgegenführt. In Bonn fehlt dieser utopische Glaube. Wer im Hofgarten für den Frieden demonstriert, der tut dies nicht aus dem optimistisch gestimmten Geist der Friedfertigkeit heraus – sondern aus der Angst vor einer atomaren Apokalypse. Man glaubt nicht mehr daran, dass sich die Welt durch das eigene Handeln zum Besseren verändern lässt – sondern handelt politisch, um die Veränderung der Welt zum Schlechteren aufzuhalten. Auch hier geht es um Globalisierung, auch hier betrachtet man den Planeten im Ganzen. Doch betrachtet man ihn aus der Perspektive einer möglichen planetarischen Apokalypse.

Und es gibt noch einen Unterschied zwischen Woodstock und Bonn. Das musikalische Programm der Hofgartendemonstration ist, um es vorsichtig zu sagen, nicht ganz so toll. Unter anderem treten die Liedermacher Hannes Wader und Franz Josef Degenhardt auf und der in der DDR lebende kanadische Banjospieler Perry Friedman, der in seiner Wahlheimat die sogenannte Singebewegung mitgegründet hat; der Calypso-Sänger Harry Belafonte intoniert mit den Massen das Erkennungslied der alten US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, «We Shall Overcome». Vielleicht könnte man sagen: Fortschrittliche politische Botschaften werden hier in musikalisch eher traditionsseligem Ton vorgetragen. Dies gilt auch für die jüngsten Künstlerinnen und Künstler, die im Hofgarten auf der Bühne stehen. Die Folksängerin, Gitarristin und Querflötenspielerin Angi Domdey etwa hat seit Mitte der Siebziger mit ihrer Gruppe Schneewittchen an einer Verbindung von deutschen Volksliedern und Blues-Balladen mit feministischen Botschaften gearbeitet; auf ihrem Debütalbum «Zerschlag deinen gläsernen Sarg (Frauenmusik – Frauenlieder)» aus dem Jahr 1978 findet sich eine populäre Parole der Gegenkultur, instrumentiert mit Flöte, Bratsche und Akkordeon: «Unter dem Pflaster liegt der Strand.»

Die Stars des Abends sind aber die Bots: eine Folkgruppe aus den Niederlanden, die Ende der Siebziger angefangen hat, auf Deutsch zu singen. «Aufstehn» heißt ihr Erfolgsalbum aus dem Jahr 1980, auf dem sich auch der größte Hit findet, «Sieben Tage lang». Zu einer markanten, von Flöte und Glockenspiel eingeleiteten Melodie und einem schließlich einsetzenden, spielmannszugartigen Schlagzeug singen die fünf Musiker im Chor mit starkem niederländischen Akzent, dass sie nicht wüssten, was sie sieben Tage lang trinken wollen: «… so ein Durst!» Doch findet sich die Lösung der Frage alsbald im Bekenntnis zur Gemeinschaftlichkeit: «Es wird genug für alle sein / Wir trinken zusammen / Roll das Fass mal rein! / Wir trinken zusammen / Nicht allein!» Vor dem Auftritt im Hofgarten ist gerade das zweite deutschsprachige Album der Bots erschienen: «Entrüstung». Auf dem Cover sieht man einen Kampfpanzer der Marke Gepard. Allerdings sind die beiden Kanonenrohre seitlich des Ausguckturms durch zwei E-Gitarren ersetzt, und die Panzerketten bestehen aus Klaviertasten. Auf «Entrüstung» ist der zweite große Hit der Gruppe zu hören, «Das weiche Wasser», das wie ein Thesenstück für die Friedensdemonstrationen komponiert worden ist: «Europa hatte zweimal Krieg / Der dritte wird der letzte sein», heißt es darin. «Gib bloß nicht auf, gib nicht klein bei / Das weiche Wasser bricht den Stein.» Und: «Komm, feiern wir ein Friedensfest / Und zeigen, wie sich’s leben lässt.»

«Das weiche Wasser bricht den Stein»: So könnte man auch die Botschaft der zentralen Rede im Bonner Hofgarten paraphrasieren. Sie wird gehalten von dem...

Erscheint lt. Verlag 15.6.2021
Zusatzinfo Zahlr. s/w Abb.
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 80er • Achtziger Jahre • Apokalypse • Atomtod • Aufrüstung • Bonn • Dallas • Deutschland • Digitalisierung • Friedensdemonstrationen • Grüne • Helmut Kohl • Hiphop • Kalter Krieg • Madonna • Mauerfall • Modern Talking • Musik • New Wave • Perestroika • Pop • Popper • Punk • Schwarzwaldklinik • Techno • Traumschiff • Umweltbewegung • Waldsterben • Wende • Yuppies
ISBN-10 3-644-00934-1 / 3644009341
ISBN-13 978-3-644-00934-9 / 9783644009349
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