Die Shitstorm-Republik (eBook)

Wie Hass im Netz entsteht und was wir dagegen tun können
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
304 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30240-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Shitstorm-Republik -  Nicole Diekmann
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Im Auge des Zorns. Seit dem kaltblütigen Mord am CDU-Politiker Walter Lübcke durch einen Neonazi im Sommer 2019 ist klar: Die Sozialen Netzwerke sind brandgefährlich - ob wir sie nutzen oder nicht. Der Hass und die Hetze von dort schwappen längst über in unseren Alltag. Was können wir dagegen tun? Ende 2019 erlebt der WDR einen riesigen Shitstorm - wegen eines umgedichteten Kinderlieds in einer Satiresendung im Radio (Omagate). Wer steckt hinter solchen Kampagnen? Wie werden sie inszeniert? Welche Ziele sollen damit erreicht werden? Und was muss getan werden, damit Einschüchterung und Gewalt keine Chance mehr haben? Nicole Diekmann zeigt in diesem Buch, wie Politik und Journalismus dazu beigetragen haben, dass Facebook, Twitter & Co, kaum etwas gegen den Mob unternehmen, der das Netz mit Hass flutet. Sie schildert, wie sich ein enorm brutaler Shitstorm am eigenen Leib anfühlt, warum die Öffentlichkeit die Netzwerke noch immer unterschätzt, wie die Tech-Riesen ungehemmt Profit daraus schlagen - und welche Wege aus diesem riskanten Dilemma herausführen.

Nicole Diekmann studierte Politik, Sozialwissenschaften und Geschichte in Hamburg und Münster und besuchte im Anschluss die deutsche Journalistenschule in München. Sie ist Hauptstadtkorrespondentin des ZDF und Kolumnistin bei t-online.

Nicole Diekmann studierte Politik, Sozialwissenschaften und Geschichte in Hamburg und Münster und besuchte im Anschluss die deutsche Journalistenschule in München. Sie ist Hauptstadtkorrespondentin des ZDF und Kolumnistin bei t-online.

Ist die Gefahr real?


Am nächsten Morgen ist mein Urlaub vorbei, der erste Arbeitstag beim ZDF steht an. Und ich bemerke plötzlich, dass sich meine Routine geändert hat: Auf dem Weg von meiner Wohnung zur S-Bahn ertappe ich mich dabei, wie ich mich immer wieder umdrehe. Folgt mir jemand? Hat jemand meine Adresse herausgefunden? Ist unter denjenigen, die im Netz gegen mich hetzen, vielleicht auch jemand, der seinem Hass in der realen Welt freien Lauf lassen will? Noch wochenlang werde ich morgens und abends beim Verlassen des Hauses beziehungsweise des ZDF meine Umgebung scannen. Ich habe doch mehr Angst, als ich mir bisher eingestanden habe.

An diesem Montag sehe ich meine Kolleg:innen zum ersten Mal im neuen Jahr. Ein paar haben sich in den Tagen zuvor schon bei mir gemeldet, mitfühlend, solidarisch; andere fragen jetzt nach, wie es mir geht. Diejenigen, die nicht in den sozialen Netzwerken unterwegs sind, wissen noch gar nichts vom Shitstorm. Er ist zwar groß, am Ende wird sich herausstellen, dass rund 4000 Tweets in der Hassphase an meine Adresse gingen, aber zu diesem Zeitpunkt handelt es sich noch ausschließlich um ein Netzthema.

Damit ist an diesem Tag allerdings Schluss, denn mein Shitstorm hat inzwischen ein dermaßen großes Ausmaß erreicht, dass er nun von den etablierten Medien aufgegriffen wird. Den Anfang macht der Tagesspiegel mit einem Kommentar, in dem der Autor den Hass gegen mich nicht nur schildert, sondern auch verurteilt und damit schließt, dass er mir Unterstützung wünscht.[11] Die gab es tatsächlich von Anfang an. Schon in den ersten Tagen des Sturms stellten sich auf Twitter viele Leute an meine Seite. Einige öffentlich, andere lieber mithilfe einer persönlichen Nachricht, die nur ich lesen konnte. Ein paar begründeten das auch: Sie hätten Sorge, sonst auch ins Visier der Hater zu geraten. Das kann ich bis heute gut verstehen und merkte schon damals: Jede Nachricht, ob öffentlich oder privat, half. Allerdings drangen sie nicht alle in mein Bewusstsein. Es gelang mir nicht, ein Gefühl für das Verhältnis zwischen Hass und Solidarität zu entwickeln. Die Lautstärke der Lautstarken übertönte die Vernünftigen und Unterstützenden.

Mit dem Tagesspiegel-Kommentar aber wendet sich das Blatt. Er löst eine neue riesige Welle aus: eine Welle der Solidarität. Nach seinem Erscheinen erhalte ich immer mehr öffentliche Unterstützung. Fußballvereine wie Hertha BSC, der FC St. Pauli, der BVB und Schalke werden sich auf Twitter an meine Seite stellen ebenso wie Fernsehleute wie Jan Böhmermann und Dunja Hayali, arte und die tagesschau und hochrangige Politiker:innen von der FDP über die Grünen bis zur Linkspartei. Selbst Boris Becker lässt es sich nicht nehmen, »Nazis raus« zu twittern. Und noch ein weiterer Lichtblick taucht auf: Beim Öffnen meines Twitter-Postfachs, also meiner Direktnachrichten, die nur ich dort lesen kann, fällt mir eine Nachricht mit dem Absender Hate Aid ins Auge. Sie seien, lese ich, eine junge gemeinnützige Organisation, die sich um Angegriffene hinter digitalen Hasskampagnen kümmere. Meinen Shitstorm würden sie gern zum Anlass nehmen zu lernen. Zu ihrem Angebot gehöre, rechtlich gegen diejenigen vorzugehen, die strafrechtlich relevant gegen mich auf den Plattformen hetzen, drohen oder beleidigen. »Wäre so was interessant für dich?«, fragt mich der Mitarbeiter. Plötzlich registriere ich, wie ich mich entspanne, ich spüre es körperlich. Endlich etwas, das mir konkret helfen könnte, über Trost und guten Zuspruch hinaus.

Nach dem Abend mit meinen beiden Freundinnen habe ich immer mal wieder darüber nachgedacht, ob ich gegen die Hetzer:innen vorgehen sollte. Und dann aber jedes Mal schnell innerlich abgewinkt. Dafür müsste ich alle Kommentare durchsehen: Welche könnten überhaupt strafrechtlich relevant sein? Und mit denen im Gepäck dann zur Polizei, wo nicht überall ausgeprägtes Bewusstsein für die Problematik existiert? Das weiß ich aus Gesprächen mit anderen Journalist:innen, die schon Ähnliches versucht haben. Ich bin zu angeschlagen, um mich auch noch womöglich gering schätzenden Blicken von Polizist:innen auszusetzen, die mir signalisieren, dass sie nun wirklich Wichtigeres zu tun haben, als sich mit dem Onlinezeug einer Person zu beschäftigen, die besser etwas Sinnvolleres mit ihrer Zeit angefangen hätte. Und die sich jetzt von irgendwelchen fremden Leuten aus dem Netz verunsichert fühlt. Und es müsste Chancen dafür geben, mit so einem Vorgehen auch einigermaßen Aussicht auf Erfolg zu haben. Die Plattformen müssten die Daten der Nutzer:innen herausgeben, die strafrechtlich belangt werden könnten. Und es müsste Staatsanwält:innen und in letzter Instanz Richter:innen geben, die sich ebenfalls auskennen … Viele Konjunktive, wenig Lust lautete jedes Mal mein Fazit, und ich ließ es lieber sein.

Es folgt ein Telefonat mit den Leuten von Hate Aid. Was sie mir am Telefon sagen, ist noch besser als das, was sie mir bisher geschrieben haben: Sie bieten mir an, die Reaktionen auf meine Tweets zu filtern und alles, was infrage kommen könnte für eine weitere juristische Nachverfolgung, an eine Anwaltskanzlei zu übermitteln, die sich auf solche Fälle spezialisiert hat. Ich zahle nichts, dafür bekomme ich aber auch kein Geld, sollte vor Gericht etwas herausspringen. Das wird dann reinvestiert. Als ich auflege, merke ich, wie mir eine Last von den Schultern fällt. Ich würde wenigstens versuchen können, mich zu wehren, ohne mich dafür noch tiefer in diesen Morast an Hass reinwühlen und alle Nachrichten lesen zu müssen.

Als meine Mutter mich abends anruft und nach meinem ersten Arbeitstag im Zeichen dieses Wahnsinns fragt und ob »diese Sache« denn jetzt immer noch so groß sei, ploppt auf meinem Telefon eine Benachrichtigung auf, und ich höre mich ungläubig sagen: »Ich glaube schon. Gerade hat Bundesaußenminister Maas auf Twitter seine Solidarität mit mir erklärt.«

Der Hashtag #NazisRaus führt nun die Twitter-Trends an. In den sozialen Medien spielen Hashtags eine wichtige Rolle. Hashtags sind Worte oder auch Wortketten hinter dem #-Zeichen und dienen der Verschlagwortung von Themen. Nutze ich einen Hashtag, ist mein Facebook-Post, mein Tweet oder mein Bild beim Fotodienst Instagram leichter auffindbar. Insgesamt werden etwa 100.000 Tweets, sowohl von Unterstützer:innen als auch von Gegner:innen zu diesem Thema, gepostet werden, wird der Datenanalyst Luca Hammer ein paar Monate später in einem Vortrag auf der weltgrößten Netzkonferenz re:publica in einem Vortrag berichten.

»Die Sache«, wie meine Mutter es nennt, ist jetzt nicht nur groß, sondern riesig. Und sie wächst weiter. Immer mehr Medien greifen sie auf. Es ist großartig, dass nun so viele Stimmen hinzukommen, die mich unterstützen. Ich atme ein bisschen auf. Gleichzeitig aber wünsche ich mir, dass all das endlich ein Ende hat. Ich möchte keine Angst mehr haben müssen, und ich möchte mich wieder auf meine Arbeit konzentrieren. Trotzdem geht es munter weiter: Zeitungen, Radio- und Fernsehsender wenden sich mit Interviewanfragen an mich. Freundlich lehne ich alle ab. Der Rummel soll aufhören. Ich will mein altes Leben zurück. Aber natürlich wird trotzdem darüber geschrieben, berichtet und gesprochen. Als Journalistin kann ich das nachvollziehen.

Ich bin heilfroh, sowohl bei Facebook als auch bei Instagram von Anfang an lediglich einen privaten Account angelegt zu haben. Das bedeutet, dass Leute, mit denen ich mich nicht aktiv angefreundet habe, weder meine Beiträge sehen noch mich dort anschreiben können. Zwar gibt es bei Facebook für jede:n Nutzer:in auch ein Postfach, das sich »Nachrichtenanfragen« nennt und das für alle dort offen ist, über das mich also auch Zuschriften von völlig Fremden erreichen können. Dieses Postfach aber ist so versteckt, dass ich zu dieser Zeit zum Glück noch nicht mitbekomme, was dort los ist. Erst Monate später, als ich den Shitstorm einigermaßen verdaut habe und Hate Aid fragt, ob sie dort auch mal für mich nach dem Rechten schauen sollen, klicke ich mich bis dorthin durch. Und stoße auch da auf Gift. In Tonalität und Brutalität stehen die Zuschriften, die ich dort zu sehen bekomme, denen bei Twitter in nichts nach. Von der Anzahl her ist es aber nicht mal ein Bruchteil dessen, was mich über Twitter erreicht hat. Nicht wirklich überraschend: Dort habe ich die »Debatte« ja losgetreten, dort hat sich der Shitstorm ja entladen.

Ein weiterer, für meine Familie und mich überaus beruhigender Nebeneffekt meiner strengen Privatsphäre-Einstellungen bei Facebook und Instagram: Niemand kann über diese beiden Kanäle Rückschlüsse auf meine Adresse ziehen, durch Fotos zum Beispiel. Das ist auch insofern praktisch, als ich in den kommenden Wochen immer wieder durch automatisierte Benachrichtigungsmails von den unterschiedlichen Plattformen informiert werde, dass Leute versuchen, meine Passwörter zu knacken. Auch das ist ein beliebtes Instrument, um Menschen einzuschüchtern. Es klappt Gott sei Dank nicht, aber ich wechsle so oft vorsorglich meine Passwörter, dass ich einige bis heute vergessen habe.

Auch bei Twitter habe ich von Anfang an darauf geachtet, nichts Privates zu posten. Nichts ist dort zu erfahren über meinen Familienstand, über meine Wohnung, über Orte, an denen ich mich regelmäßig aufhalte. Wenigstens das. Es gibt einen Rückzugsort; das Private. Und in meinem Fall bleibt der Hass auch tatsächlich im Netz. Nach und nach ebbt die Aufregung um mich ab, ich kann mich wieder auf andere Inhalte meines Lebens...

Erscheint lt. Verlag 6.5.2021
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Demokratie • Facebook • Hass im Netz • Hasskampagne • Hasskommentare • Hetze • Instagram • Internet • Journalismus • Meinungsfreiheit • Öffentlich-rechtlich • Populismus • Rechtsextremismus • Respekt • Sicherheit • Social Media • Twitter • ZDF
ISBN-10 3-462-30240-X / 346230240X
ISBN-13 978-3-462-30240-0 / 9783462302400
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