Ideen, um das Ende der Welt zu vertagen (eBook)

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2021 | 1. Auflage
144 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-27547-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ideen, um das Ende der Welt zu vertagen -  Ailton Krenak
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Ein eindringlicher Appell - von einem der wichtigsten indigenen Vordenker Brasiliens
Die Menschheit steht vor der globalen Katastrophe. Der brasilianische Umweltaktivist Ailton Krenak sieht den Grund dafür in unserer bisherigen Definition vom Menschen - als Krone der Schöpfung, die berechtigt ist, die Natur nach Belieben auszubeuten. Sein eindringlicher Appell: Um unseren kollektiven Marsch in den Abgrund zu stoppen, müssen wir uns neu orientieren, veraltete Denkmuster loslassen und einen Weg zurück zu unserem Ursprung finden. Dabei helfen uns die verschiedenen kulturellen Auslegungen vom Menschsein, die überall auf dem Planeten zu finden sind. Nur so können wir das Ende der Welt vertagen.

AILTON KRENAK wurde 1953 in Minas Gerais im Tal des Rio Doce geboren. Er gilt als eine der wichtigsten Stimmen der indigenen Bewegung in Brasilien. Krenak arbeitete unter anderem mit der Aliança dos Povos da Floresta (Allianz der Waldvölker) zusammen, einer Organisation von Fluss- und indigenen Gemeinschaften im Amazonasgebiet, die sich für die Stärkung der Rechte indigener Völker einsetzt. Außerdem ist er Mitverfasser des UNESCO-Antrags, der 2005 die Gründung des Biosphärenreservats Serra do Espinhaço ermöglichte. 2016 wurde er mit dem Orden für kulturelle Verdienste ausgezeichnet und ist Ehrendoktor der Bundesuniversität von Juiz de Fora, Minas Gerais.

Ideen, um das Ende der Welt zu vertagen


Als ich zum ersten Mal auf dem Flughafen von Lissabon landete, beschlich mich ein eigenartiges Gefühl. Mehr als fünfzig Jahre lang hatte ich es vermieden, den Ozean zu überqueren, aus persönlichen und aus historischen Gründen. Ich hatte nichts zu besprechen mit den Portugiesen – nichts Weltbewegendes, und ich wollte nicht.

Zur Fünfhundertjahrfeier der Überfahrt von Cabral und seinen Leuten lehnte ich eine Einladung nach Portugal ab und sagte: »Das ist eine Feier der Portugiesen, ihr feiert den Überfall auf mein Eckchen der Welt. Ohne mich.«

Aber auch darüber wollte ich mich nicht streiten und dachte: »Mal abwarten, was noch kommt.«

Als Lissabon 2017 iberoamerikanische Kulturhauptstadt war, gab es eine Reihe sehr interessanter Veranstaltungen, Theater, Filmvorführungen und Vorträge. Ich wurde erneut eingeladen, und diesmal sollte auch unser Freund, der Anthropologe Eduardo Viveiros de Castro, einen Vortrag dort halten unter dem Titel »Die Unfreiwilligen des Vaterlands«. Ich dachte mir: »Das interessiert mich, da fahre ich mit.« Am Tag nach seinem Vortrag hatte ich die Gelegenheit, vielen Leuten zu begegnen, die sich für die Premiere des Dokumentarfilms Ailton Krenak e o sonho da pedra1 von Marco Altberg interessierten. Der Film ist eine gute Einführung in das Thema, über das ich hier sprechen möchte: Wie wir in zweitausend, dreitausend Jahren die Vorstellung einer Menschheit entwickelten. Ist diese Vorstellung vielleicht der Grund für so viele falsche Entscheidungen, eine Rechtfertigung von Gewalt?

Die Vorstellung, weiße Europäer dürften losziehen und die übrige Welt kolonisieren, basierte auf der Annahme, es gebe eine Menschheit, die aufgeklärt ist und sich aufmachen müsse, den Teil der Menschheit, der in Dunkelheit lebt, mit diesem unglaublichen Licht zu beglücken. Dieser Ruf in den Schoß der Zivilisation wurde immer damit begründet, es könne nur eine bestimmte Art geben, hier auf der Welt zu sein, eine Wahrheit, eine Konzeption davon. Nach dieser wurden zu unterschiedlichen Zeiten der Menschheitsgeschichte sehr viele Entscheidungen getroffen.

Nun hat, am Anfang des 21. Jahrhunderts, die Zusammenarbeit von Denkern mit unterschiedlichen Ansichten und aus unterschiedlichen Kulturkreisen eine Kritik dieser Vorstellung ermöglicht: Sind wir tatsächlich eine Menschheit?

Denken wir an unsere etabliertesten Institutionen, die Universitäten und die im 20. Jahrhundert entstandenen internationalen Organisationen: die Weltbank, die Organisation der amerikanischen Staaten (OAS), die Organisation der Vereinten Nationen (UNO), die Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO).

Als wir einmal eine Region in Brasilien zum Biosphärenreservat erklären wollten, mussten wir vor der UNESCO begründen, warum es wichtig sei, dass die Erde nicht völlig vom Bergbau verschlungen wird. Für die Organisation scheint es auszureichen, ein paar Orte als Gratisproben der Erde zur Ansicht zu erhalten. Sollten wir überleben, werden wir uns irgendwann um die kleinen Stücke der Erde streiten, die wir noch nicht aufgefressen haben, und unsere Enkel und Ururenkel – oder die Enkel unserer Ururenkel – werden Ausflüge dorthin unternehmen, um zu sehen, wie die Erde einmal ausgesehen hat. Die Agenturen und Institutionen sind als Strukturen dieser Menschheit konzipiert und werden als solche betrieben. Und wir legitimieren ihr Fortbestehen, beugen uns ihren Entscheidungen, die oft keine guten sind und uns nur Verlust bringen, weil sie im Dienst einer Menschheit stehen, von der wir uns einbilden, ihr anzugehören.

Meine Reisen durch unterschiedliche Kulturen und Orte der Welt erlauben mir eine Beurteilung des Versprechens, das beim Eintritt in diesen Klub namens Menschheit gegeben wird. Und ich denke mir: »Warum wollen wir ständig und so lange schon Mitglied in diesem Klub sein, der doch meist nur unseren Erfindungsreichtum, unsere Kreativität, unsere Existenz und Freiheit beschränkt?« Erneuern wir damit nicht andauernd nur unsere alte Bereitschaft zur freiwilligen Unterwerfung? Wann werden wir endlich begreifen, dass sich die Nationalstaaten längst aufgelöst haben und die alte Idee dieser internationalen Agenturen schon von Anfang an gescheitert war? Stattdessen suchen wir ständig nach Wegen, um neue und die doch immer gleichen Ideen für unseren Zusammenhalt als Menschheit zu entwickeln.

Wie aber lässt sich eine Menschheit rechtfertigen, die mehr als 70 % ihrer Mitglieder vom Existenzminimum ausschließt? Die Modernisierung hat diese Leute vom Land und aus den Wäldern in die Elendsviertel und armen Vorstädte getrieben, sie zu Arbeitskräften in der Stadt gemacht. Die Leute wurden aus ihren Zusammenhängen gerissen, von ihren Ursprüngen weggeholt und in diesen riesigen Mixer namens Menschheit gestopft. Wenn die Leute nicht zutiefst verwurzelt sind in der Erinnerung an ihre Ahnen, in den Bezügen, auf die sich Identität gründet, werden sie in dieser irren Welt, in der wir leben, verrückt.

»Ideen, um das Ende der Welt zu vertagen« – der Titel ist eine Provokation. Ich war gerade im Garten, als man mir das Telefon brachte und sagte: »Da ruft jemand von der Universität von Brasília an, du sollst an einer Tagung über nachhaltige Entwicklung teilnehmen.« (Die Universität von Brasília hat ein Zentrum für nachhaltige Entwicklung und einen entsprechenden Masterstudiengang.) Ich freute mich über die Einladung und sagte zu, und dann hieß es: »Wir brauchen einen Titel für Ihren Vortrag.«

Ich war so mit meiner Arbeit im Garten beschäftigt, dass ich antwortete: »Ideen, um das Ende der Welt zu vertagen.« Die Leute haben das ernst genommen und ins Programm geschrieben. Ungefähr drei Monate später bekam ich den nächsten Anruf: »Morgen ist das, haben Sie Ihr Flugticket nach Brasília?« »Morgen?« »Genau, morgen halten Sie diesen Vortrag über das Vertagen des Weltuntergangs.«

Am nächsten Tag regnete es, und ich dachte: »Wie schön, es wird niemand kommen.« Aber zu meinem Erstaunen war der Hörsaal voll. Ich fragte: »Sind das alles Leute aus dem Masterstudiengang?« Meine Freunde antworteten: »Nein, es sind Leute von der ganzen Uni, sie sind neugierig darauf, wie man das Ende der Welt vertagen kann.« »Ich auch«, antwortete ich.

Die Begegnung mit diesen Leuten ließ mich viel über den Mythos der Nachhaltigkeit nachdenken, ein Begriff, der von den großen Konzernen erfunden wurde, um ihren Raubzug an dem zu rechtfertigen, was wir Natur nennen. Lange Zeit hat man uns mit dieser Vorstellung einer Menschheit ruhiggestellt. Und in der Zwischenzeit – solange des Menschen Wolf noch nicht da ist – haben wir uns von dem Organismus Erde, zu dem wir gehören, entfremdet und dachten irgendwann, Erde sei das eine, und wir – diese Menschheit – seien etwas anderes. Ich aber kann nicht erkennen, wo etwas anderes sein soll als Natur. Alles ist Natur. Der Kosmos ist Natur. Alles, was ich mir vorstellen kann, ist Natur.

Ich habe mal eine Geschichte über einen europäischen Wissenschaftler gelesen, der Anfang des 20. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten das Territorium der Hopi besuchte. Er hatte jemanden aus dem Dorf gebeten, ihm zu helfen eine alte Frau zu interviewen. Als sie zu ihr kamen, stand die alte Frau an einem Felsen. Der Wissenschaftler wartete, und dann fragte er: »Will sie nicht mit mir reden?« Der Mittelsmann antwortete: »Sie unterhält sich gerade mit ihrer Schwester.« »Aber das ist ein Stein.« Und der Mann sagte: »Na und?«

Es gibt einen felsigen Berg dort, wo der Rio Doce 2015 vom Schlamm aus dem Bergwerk überschwemmt wurde.2 Das Dorf Krenak liegt am linken Ufer des Flusses, rechts ist das Gebirge. Ich habe gelernt, dass das Gebirge Takurak heißt und eine Persönlichkeit hat. Morgens früh schauen die Leute vom Platz in der Mitte des Dorfes auf das Gebirge und wissen, ob es ein guter Tag sein wird oder ob man sich lieber zurückhält. Wenn er ein Gesicht macht wie »sprich mich lieber nicht an«, sind die Leute gewarnt. Wenn er strahlend erwacht, schön, helle Wolken um seinen Kopf kreisen, wenn er sich schön gemacht hat, sagen die Leute: »Jetzt kann man feiern, tanzen, fischen, man kann tun, was man will.«

So gibt es wie diese Dame aus dem Volk der Hopi, die mit ihrer Schwester, dem Stein redete, viele Leute, die mit Bergen reden. In Ecuador, in Kolumbien, in einigen dieser Andenregionen gibt es Orte, wo Berge Paare sind, es gibt Mutter, Vater, Kinder, Bergfamilien, die einander mögen, sich austauschen. Und die Leute, die in den Tälern leben, veranstalten Feste für diese Berge, geben ihnen zu essen, beschenken sie, werden beschenkt von den Bergen. Warum sind wir nicht völlig begeistert von diesen Erzählungen? Warum werden sie vergessen und ausgelöscht für eine globalisierende, oberflächliche Erzählung, die uns immer wieder dieselbe Geschichte weismachen will?

Die Massai in Kenia gerieten einmal in einen Konflikt mit der Kolonialverwaltung, weil die Engländer ihren Berg zu einem Nationalpark machen wollten. Sie wehrten sich gegen diesen banalen, vielerorts in der Welt selbstverständlichen Gedanken, einen heiligen Ort zu einem Park zu machen. Für mich fängt es mit Parks an und endet mit Parkhäusern. Denn man muss ja die vielen Autos, die überall hergestellt werden, auch irgendwo abstellen. Ein Missbrauch, den sie Vernunft nennen.

Während die Menschheit sich immer weiter von ihren Orten entfremdet, bemächtigt sich ein Haufen schlauer Konzerne der Erde. Und wir, die...

Erscheint lt. Verlag 13.4.2021
Übersetzer Michael Kegler
Sprache deutsch
Original-Titel IDEIAS PARA ADIAR O FIM DO MUNDO / A VIDA NÃO É ÚTIL
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Aliança dos Povos da Floresta • Allianz der Waldvölker • Brasilien • eBooks • Ende der Welt • Indigene Völker • Menschsein • nachhaltig • Nachhaltigkeit • Serra do Espinhaço • Umwelt • Umweltaktivist
ISBN-10 3-641-27547-4 / 3641275474
ISBN-13 978-3-641-27547-1 / 9783641275471
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