Bonjour Liberté (eBook)

Françoise Sagan und der Aufbruch in die Freiheit

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021
304 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27057-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Bonjour Liberté - Julia Korbik
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Wie in ihrem Roman 'Oh, Simone!' schreibt Julia Korbik in ihrem neuen Buch über eine weitere große Ikone der französischen Literatur: Françoise Sagan.
Françoise Sagan ist mehr als nur eine Schriftstellerin - sie ist ein Mythos. Mit gerade einmal 18 Jahren katapultiert sie der bahnbrechende Erfolg ihres Debütromans 'Bonjour Tristesse' 1954 in die Öffentlichkeit, und sie wird zur Projektionsfläche, zur ewigen Kindfrau, die in schnellen Autos und mit jeder Menge Alkohol durch ihr Leben braust. Welchen Preis hat die Freiheit? Mit Hingabe und Esprit schreibt Julia Korbik über eine Schriftstellerin, die, vor dem Hintergrund des Kalten Krieges und zwischen zwei Wellen der Frauenbewegung, nach ihrem Platz in der Welt sucht. 'Bonjour Liberté' verbindet Zeit- und individuelle Geschichte und zeigt, dass es sich lohnt, auf der eigenen Freiheit - als Frau - zu bestehen. Aber eben auch, dass dieses Vorausgehen Mut erfordert.

Julia Korbik, geboren 1988, lebt als Autorin und freie Journalistin in Berlin. Zuletzt erschienen 'Stand Up. Feminismus für alle', 'Oh, Simone! Warum wir Beauvoir wiederentdecken sollten' und 'How to be a Girl. Stark, frei und ganz du selbst'.

Paris im Sommer ist eine andere Stadt als Paris im Frühling, Herbst und Winter. Mit dem ersten Tag der grandes vacances, der Sommerferien, beginnt der Exodus, der die Bewohner*innen der Hauptstadt aus dieser hinaus in den Rest des Landes spült. Paris entleert sich und verharrt den kompletten August über in einer trägen Stille, nur durchbrochen von den Tourist*innen, die sich auf den Boulevards und in den Cafés herumtreiben, Fotos von Sacré Cœur oder Notre-Dame machen und durch ihre tummelnde Anwesenheit den Eindruck vermitteln, alles sei wie immer. Doch bis zur rentrée im September, wenn die Hauptstädter*innen zurückkehren, ist nichts wie immer. Paris macht eine Pause, reckt die Nase der Sonne entgegen und atmet durch.

Der Sommer 1952 ist warm, sehr warm. Frankreich ächzt unter einer Hitzewelle: Am 1. Juli übersteigen die Temperaturen in nahezu allen Regionen die 35-Grad-Marke, in Rouen werden 38 Grad gemessen, in Vichy sind es ganze 41 Grad. In Paris zeigt das Thermometer 39 Grad an.70 Es sind Temperaturen, die Körper und Geist träge werden lassen. Im August ist es immer noch warm, aber weniger drückend — und das ist gut so, denn Françoise muss sich konzentrieren: Weil Mademoiselle im Juli durch den zweiten Teil ihrer Abiturprüfung gefallen ist, steht für sie im Oktober eine rattrapage, eine Nachprüfung, an. Statt Meeresluft zu schnuppern, verbringt sie den August also im Mädchenpensionat Cours Maintenon, wo sie und andere Schülerinnen brav die Nase in Schulbücher stecken.

Lediglich zwei Wochen Ferien sind ihr vergönnt gewesen, bevor sie in die Lernanstalt geschickt wurde. Zwei Wochen, die die 17-Jährige in Gesellschaft ihres Vaters in der elterlichen Wohnung, Nr. 167 Boulevard Malesherbes, verbracht hat und in denen sie morgens nur mit einem Morgenmantel bekleidet zur Boulangerie um die Ecke gegangen ist, um dort zwei Croissants zu kaufen:

»Das eine knabbere ich auf dem Rückweg an, auf dem ich lediglich einem Bus begegne, der ebenso leer ist wie die Straße, und einem schlechtrasierten Junggesellen. Das andere gebe ich meinem Vater und verspeise dann mein angefangenes unter seinem vermeintlich strengen Blick — streng, aber auch begeistert von der Herrschaft, die er während der nächsten zwei Wochen über mich ausüben darf.«71

Doch diese gemütliche Zweisamkeit ist vorbei und Françoise aus der elterlichen Wohnung in den Cours Maintenon gezogen. Innerhalb weniger Wochen soll sie den verpassten Lernstoff eines ganzen Jahres aufholen. Die Zeit dort empfindet sie als eine Art Gefängnisstrafe — umso mehr, da sich um sie herum ganz Paris genussvoll der sommerlichen Hitze hingibt. Stattdessen heißt es für die Schülerinnen: lernen, lernen, lernen. Besonders schlimm findet Françoise die obligatorischen Spaziergänge nach Unterrichtsende:

»Abgesehen von den Wochenenden ist unser Pensionat mit den ewigen Spaziergängen in Zweierreihen (in unserem Alter!) durch die Straßen von Passy schauerlich; die einzige Abwechslung ist ab und zu ein Verehrer, der einem auf dem Mofa hinterherfährt. [Ich] kannte […] diese Wanderungen bereits auswendig, die uns von Passy nach La Muette führten, von der Verlegenheit zur Gereiztheit und vom Schritt zum Galopp, denn ich folgte meiner Gruppe immer mit dem größtmöglichen Abstand, woraufhin die Aufpasserin nach mir pfiff, damit ich einen Schritt zulegte. Also trabte ich los, wie ein Schaf, das zur Herde zurückläuft.«72

Der Cours Maintenon befindet sich in einem ruhigen Wohnviertel im Westen der Stadt, am rechten Ufer der Seine. Die Mädchen arbeiten bei drückender Hitze und weit geöffneten Fenstern, die den Blick freigeben auf menschenleere Straßen. Eines Tages schafft Françoise es, unter einem Vorwand dem Rudellauf mit ihren Klassenkameradinnen zu entgehen. Sie dreht ein paar Runden im Hof, lässt sich auf einer Bank nieder, rekelt sich genüsslich, zählt die Bäume und »kostet diese etwas fade Einsamkeit«73. Eines frühen Abends, als sie eine Freundin bis draußen vor das Tor des Internats begleitet, schließt der Hausmeister hinter ihr ab — Françoise ist allein, und sie hat eine Stunde, bis ihre Klassenkameradinnen zurückkehren. Sie läuft in Richtung Seine, es ist gar nicht weit, die Straßen fließen zu ihr hin wie steinerne Ströme. Françoise trägt noch ihre Schuluniform, schwarz und voller Tintenflecken, aber das stört sie nicht. Ihr ist eine Stunde geschenkt worden, eine Stunde ganz für sie allein. Gegen 18 Uhr erreicht sie das Ufer der Seine, der Fluss funkelt in Gelb und Blau, die Sonne beginnt langsam zu sinken. Eine Gestalt nähert sich, ein Schatten, die untergehende Sonne im Rücken. Erst als die Gestalt fast bei Françoise angekommen ist, erkennt sie ein Gesicht: ungefähr fünfzig Jahre alt, blaue Augen, unzählige Falten, schöne Hände mit nur leicht verdreckten Nägeln. Der Mann sieht Françoise an, zögert, dann lächelt er. Sie lächelt zurück, und er fragt, ob er sich setzen könne. Er fragt es so weltmännisch, als seien die Seine und ihre Ufer ein Salon und Françoise die Salonnière. Françoise ist eingeschüchtert, lächelt aber aufmunternd. Der Fremde fragt sie nicht, was sie, offensichtlich eine Schülerin, abends alleine an der Seine macht. Er bietet ihr eine Zigarette an, zündet sich selbst eine an. Einträchtig rauchend sitzen die beiden nebeneinander. Schweigen. Dann, plötzlich, wendet der Fremde sich Françoise zu: »Sie werden einen der ältesten Lastkähne der Seine vorbeifahren sehen. Ich kenne ihn seit drei Jahren, und seit drei Jahren erstaunt es mich, dass er immer noch fährt.«74 Françoise interessiert sich nicht für den alten Lastkahn, sie interessiert sich für den Mann neben ihr. Das verwundert sie selbst, findet sie doch normalerweise Bücher spannender als Menschen. Sie fragt den Fremden, ob er lese, und fühlt sich im gleichen Moment dumm, denn aufgrund seines Auftretens und der Tatsache, dass er keiner Arbeit nachzugehen scheint, vermutet sie, dass er ein Stadtstreicher ist und nicht über die finanziellen Mittel verfügt, sich Bücher zu kaufen. Er aber antwortet, dass er sehr viel gelesen habe, und fragt sie, was sie gerade lese. Man unterhält sich angeregt und schon ist es 19 Uhr, Françoise muss zurück ins Internat. Der Fremde sagt, er würde sich freuen, sie am nächsten Tag wiederzusehen, und verspricht, ihr unterhaltsame Dinge zu erzählen über den Autor, von dem sie gerade gesprochen haben — Gustave Flaubert. Françoise weiß nichts über Flaubert, aber »die Vorstellung, dass dieser Stadtstreicher es mir beibringen würde, erschien mir sehr amüsant«75. Françoise läuft los, trifft an einer Ecke auf ihre vom täglichen Gruppen-Spaziergang zurückkehrenden Mitschülerinnen und reiht sich unauffällig dort ein. Ihr kleines Abenteuer setzt sie die ganze Woche über fort: Jeden Abend stiehlt sie sich davon und trifft am Flussufer den Stadtstreicher. Man spricht über alles und nichts, raucht und beobachtet die Farbwechsel der Seine.

Eines Abends erklärt der Stadtstreicher Françoise, entscheidend sei das savoir vivre, die Kunst, das Leben zu genießen. Zurück im Pensionat überlegt Françoise lange, was das für sie bedeutet: Ganz sicher Freundschaft, Geld, Tanzen, Lachen, Lesen. Der Stadtstreicher aber hat und tut nichts davon. Was also meint er? Am nächsten Abend regnet es ein wenig, und Françoise rennt den Weg zur Seine, voller Angst, dass ihr neuer Freund nicht gekommen sein könnte. Doch er ist da und sie fragt ihn, was das für ihn bedeutet, savoir vivre. Ihr Ton muss sie verraten haben, denn er fängt an zu lachen und es stellt sich heraus, dass der Stadtstreicher gar kein richtiger Stadtstreicher ist. Er hatte eine Frau, Kinder, ein Zuhause. Er hatte einen gutbezahlten Job und fühlte sich trotzdem unerfüllt. Sein Leben verging, in zwanzig Jahren würde er vielleicht tot sein, ohne je etwas anderes getan zu haben, als es zu einem gewissen gesellschaftlichen Ansehen zu bringen. Er kündigte, bekam eine kleine Abfindung und spaziert seitdem durch Paris: »Ich betrachte die Flüsse, die Himmel, ich habe nie etwas zu tun, ich lebe. Ich mache nur das. Das erscheint Ihnen seltsam, nehme ich an?«76 Françoise erscheint das nicht seltsam, ganz und gar nicht. Ihre Gedanken kreisen darum, dass auch sie sich eines Tages in einem Getriebe befinden wird, ihre Zeit wird ihr genommen werden, der Tod naht, und all das, ohne dass sie etwas gesehen oder verstanden hat. Vielleicht, denkt Françoise, ist das etwas, gegen das man ankämpfen muss. Es ist ihr letzter Abend mit ihrem Freund, dem...

Erscheint lt. Verlag 15.3.2021
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 1950 • Abtreibung • Alkohol • Annie Ernaux • Autorin • Autos • Autounfall • Bonjour Tristesse • Brigitte Bardot • Café de Flore • Chansons • Debüt • Drogen • Ein gewisses Lächeln • Einsamkeit • Elle • Emanzipation • Existenzialismus • Feminismus • Florence Malraux • Francoise Sagan • Frankreich • Frauen • Frauenbewegung • Freiheit • Gallimard • Guy Schoeller • in einem Jahr • In einem Monat • Interview • Jean-Paul Sartre • Juliette Gréco • Julliard • Kalter Krieg • Les Deux Magots • Literatur • Manuskript • Marcel Proust • Michel Magne • Mythos • Nationalsozialismus • Öffentlichkeit • #ohnefolie • ohnefolie • Paris • Phänomen • Presse • Prix des Critiques • Quoirez • Roman • Saint-Germain-des-Prés • Saint-Tropez • Salon • Schriftstellerin • Seine • Simone de Beauvoir • Sommer • Sommerferien • Sucht • Tanzen • Vichy • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-446-27057-4 / 3446270574
ISBN-13 978-3-446-27057-2 / 9783446270572
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