Der Fall Julian Assange (eBook)

Geschichte einer Verfolgung - Der spektakuläre Report des UNO-Sonderberichterstatters für Folter

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
336 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-99896-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Fall Julian Assange -  Nils Melzer
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Mit dem »Afghan War Diary« veröffentlicht WikiLeaks 2010 das größte Leak der US-Militärgeschichte, mitsamt Beweisen für Kriegsverbrechen und Folter. Kurz danach verdächtigt Schweden WikiLeaks-Gründer Julian Assange der Vergewaltigung, und ein geheimes US-Schwurgericht ermittelt wegen Spionage. Als ihn Ecuador nach jahrelangem Botschaftsasyl der britischen Polizei überstellt, verlangen die USA sofort seine Auslieferung und drohen mit 175 Jahren Haft. Nils Melzer, UNO-Sonderberichterstatter für Folter, will sich zunächst gar nicht auf den Fall einlassen. Erst als er Assange im Gefängnis besucht und die Fakten recherchiert, durchschaut er das Täuschungsmanöver der Staaten und beginnt den Fall als das zu sehen, was er wirklich ist: die Geschichte einer politischen Verfolgung. An Assange soll ein Exempel statuiert werden - zur Abschreckung aller, die die schmutzigen Geheimnisse der Mächtigen ans Licht ziehen wollen. Dieses packende Buch erzählt erstmals die vollständige Geschichte von Nils Melzers Untersuchung.

Nils Melzer, Jahrgang 1970, ist Professor für internationales Recht und lehrt in Glasgow und Genf. 2016 wurde er vom Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen zum Sonderberichterstatter für Folter ernannt. Seit 2019 ist er überdies Vizepräsident des Internationalen Instituts für humanitäres Völkerrecht (IIHL) in Sanremo. Vorher war er als sicherheitspolitischer Berater der Schweizer Regierung tätig sowie als Rechtsberater und Abgesandter in Kriegs- und Krisengebieten für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK).

Nils Melzer, Jahrgang 1970, ist Völkerrechtsprofessor und lehrt in Glasgow und Genf. 2016 wurde er vom Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen zum Sonderberichterstatter für Folter ernannt. Vorher war er als sicherheitspolitischer Berater der Schweizer Regierung tätig sowie als Rechtsberater und Abgesandter in Kriegs- und Krisengebieten für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK).

1 Wie man einen Elefanten übersieht


Aus den Augen, aus dem Sinn!


Kurz vor Weihnachten 2018. Ich saß am Schreibtisch und arbeitete an meinem jährlichen Bericht für den UNO-Menschenrechtsrat in Genf. Von diesem Gremium war ich ernannt worden, ihm musste ich als unabhängiger Experte Bericht erstatten über die weltweite Einhaltung des Folter- und Misshandlungsverbots. Zweimal im Jahr hatte ich die Gelegenheit, vor den UNO-Mitgliedstaaten aufzutreten: im Frühjahr im Menschenrechtsrat in Genf und im Herbst in der Generalversammlung in New York. Dies waren meine Gelegenheiten, ein für das Folter- und Misshandlungsverbot relevantes Thema frei zu wählen und auf die internationale Agenda zu setzen. Die Mandate der UNO-Sonderberichterstatter sind unbezahlte Ehrenämter. Wie die meisten Kolleginnen und Kollegen verdiene ich meinen Lebensunterhalt daher als Professor für Völkerrecht an der Universität Glasgow sowie an der Genfer Akademie für Humanitäres Völkerrecht und Menschenrechte. Die entscheidende Stärke eines UNO-Sonderberichterstatters ist seine Unabhängigkeit. Einmal gewählt, sind die Mandatsinhaber ausschließlich den Menschenrechten verpflichtet und dürfen sich bei der Ausübung ihres Amtes von niemandem beeinflussen lassen. Sie genießen diplomatische Immunität und agieren außerhalb der von politischen Interessen dominierten Hierarchien, Strukturen und Entscheidungsprozesse der Organisation. Wären die Mandate auch noch mit einem ausreichenden Budget und genügend Personal ausgestattet – engagierte Sonderberichterstatter könnten dann einiges erreichen. So wäre es in einer idealen Welt. In der realen Welt fehlen den Staaten jedoch nicht nur die finanziellen Mittel, sondern vor allem auch der politische Wille zur tatsächlichen und umfassenden Umsetzung der Menschenrechte, denn das würde vielerorts das Ende überkommener Machtstrukturen, Privilegien und Ausbeutereien verlangen, welche oft bis tief in die Politik hineinreichen. Ein probates Mittel der Staaten, den Einfluss von Sonderberichterstattern zu begrenzen, ist die fortlaufende Schaffung zusätzlicher Mandate zu neuen menschenrechtlichen Themen, ohne das hierfür zur Verfügung gestellte Globalbudget zu erhöhen. Der daraus resultierende chronische Mangel an finanziellen und personellen Ressourcen der Sonderberichterstatter ist daher kaum ein Zufall.

In jenem Dezember 2018 schrieb ich also an meinem Bericht, diesmal über die Zusammenhänge zwischen Korruption und Folter, als auf dem Bildschirm vor mir plötzlich ein kleines Fenster aufging und das Eintreffen einer neuen Mail anzeigte. Julian Assange is seeking your protection, stand in der Betreffzeile. Julian Assange? War das nicht der Gründer von WikiLeaks, dieser zwielichtige Hacker mit Lederjacke und weißen Haaren, der sich wegen Vergewaltigungsvorwürfen irgendwo in einer Botschaft versteckte? Wie aus dem Nichts erfüllte mich ein Strom abschätziger Gedanken und erzeugte eine beinahe reflexartige Ablehnung. Assange? Nein, von dem würde ich mich sicher nicht manipulieren lassen, denn ich hatte Wichtigeres zu tun – ich musste mich um wirkliche Folteropfer kümmern! Ich klickte das Fenster weg – aus den Augen, aus dem Sinn! Dann widmete ich meine Aufmerksamkeit wieder ganz meinem Bericht und der Überwindung von Vorurteilen und Selbsttäuschung der breiten Öffentlichkeit im Bereich der Behördenkorruption. Die frappante Ironie dieser Situation sollte mir erst einige Monate später bewusst werden.

Was macht eigentlich ein UNO-Sonderberichterstatter?


Jede und jeder kann sich mit Hinweisen auf Verstöße gegen das Folter- und Misshandlungsverbot an den UNO-Sonderberichterstatter für Folter wenden. Oder, wie mein vollständiger Titel lautet: »Sonderberichterstatter für Folter und andere grausame, unmenschliche oder entwürdigende Behandlung oder Bestrafung«. Interventionsgesuche können jederzeit gestellt werden, per Mail oder per Briefpost, auch bevor es überhaupt zu einem Verstoß gekommen ist und unabhängig von etwaigen Strafanzeigen, Gerichtsverfahren oder sonstigen Formalitäten.

Alle Sonderberichterstatter werden in einem langwierigen Verfahren direkt von den 47 Staaten des UNO-Menschenrechtsrates ernannt und sind während ihrer Amtszeit strengster Unabhängigkeit verpflichtet. Wir haben keine Vorgesetzten und dürfen in der Ausübung unserer Mandate keinerlei Weisung entgegennehmen, weder von der UNO selbst noch von Regierungen oder anderen Akteuren. Mein Büro ist beim Hochkommissariat für Menschenrechte in Genf angesiedelt und damit demjenigen Arm der UNO, der sich mit dem Schutz der Menschenrechte befasst. Zwei Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter sind mir dort zugeordnet, sogenannte Human Rights Officers. Pro Woche erreichen uns etwa fünfzig Anfragen und Interventionsgesuche. Diese können von Folteropfern selbst gestellt werden, aber auch von Anwältinnen, NGO-Vertretern, Angehörigen, Zeugen oder sogar von anderen Behörden, Staaten oder UNO-Gremien. Es ist dann an meinem Team, die Gesuche zu sichten und allenfalls zusätzliche Recherchen anzustellen, um deren Glaubwürdigkeit einschätzen zu können. Das so konsolidierte Dossier wird mir anschließend zur Beurteilung und Entscheidung über eine etwaige Intervention vorgelegt.

Im Einklang mit meinem Mandat geht es bei meinen Interventionen in der Regel um die Verhinderung, Untersuchung, Verfolgung und Wiedergutmachung von Folter, von Körperstrafen und anderer grausamer oder entwürdigender Behandlung, von unmenschlichen Haftbedingungen sowie von Auslieferungen oder Abschiebungen an Staaten, in denen Menschen derartige Missbräuche drohen. Die Verstöße können von staatlichen Behörden selbst oder auf deren Veranlassung begangen worden sein oder auch bloß mit deren ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis. Grundsätzlich kann ich über die diplomatischen Vertretungen in Genf direkt bei den Außenministerinnen und -ministern sämtlicher UNO-Mitgliedstaaten intervenieren. Das bedeutet, dass ich dem betroffenen Staat die erhaltenen Hinweise auf Verletzungen des Folter- und Misshandlungsverbots übermittle, die Regierung zur Aufklärung und Stellungnahme auffordere und Empfehlungen über die zu ergreifenden Maßnahmen ausspreche. Diese Korrespondenz und die Antwort des Staates bleibt zunächst vertraulich, wird aber nach 60 Tagen auf der Website des Hochkommissariats veröffentlicht. In dringenden Fällen besteht zudem die Möglichkeit, über eine Pressemitteilung die Öffentlichkeit zu informieren. Als Sonderberichterstatter übe ich allerdings keinerlei richterliche Funktion aus, und meine Schlussfolgerungen und Empfehlungen sind für die Staaten nicht verbindlich.

Von den eingereichten Interventionsgesuchen können wir selbst im besten Fall nur etwa jedes zehnte behandeln. Mehr ist zu dritt einfach nicht zu schaffen, denn wir müssen ja auch noch offizielle Länderbesuche vorbereiten, Berichte schreiben und den Austausch mit anderen Mechanismen zum Schutz der Menschenrechte pflegen, allen voran mit den anderen UNO-Sonderberichterstattern, Arbeitsgruppen und Ausschüssen. Das führt dazu, dass wir tagtäglich Prioritäten setzen und bedrückende Entscheidungen treffen müssen, ohne lange darüber nachdenken zu können. Im Zweifel wählen wir stets die dringlichen Fälle aus, bei denen eine drohende Menschenrechtsverletzung möglicherweise noch verhindert werden kann. Pro Jahr führen die erhaltenen Gesuche je nach Arbeitsaufwand zu zwischen 100 und 200 offiziellen Interventionen. Davon bleibt in der Regel rund ein Drittel unbeantwortet. Beim Rest bekommen wir zwar eine Rückmeldung, doch bleibt diese mit Blick auf den bezweckten Menschenrechtsschutz fast immer ungenügend. Oft erhalten wir von den Staaten mehrseitige Schreiben voller Floskeln und Zusicherungen, allerdings ohne dass uns die verlangten Auskünfte erteilt oder die völkerrechtlich gebotenen Untersuchungen und Maßnahmen durchgeführt werden. Im Endeffekt werden festgestellte Missstände in den allermeisten Fällen weder anerkannt noch geahndet oder korrigiert, von einer Entschädigung der Opfer ganz zu schweigen. Und das gilt leider nicht nur für Staaten, bei denen man Menschenrechtsverletzungen ohnehin erwarten würde. Gerade auch reife Demokratien, die stolz auf ihre rechtsstaatlichen Traditionen verweisen, nehmen es mit den Menschenrechten plötzlich nicht mehr so genau, wenn es darum geht, vermeintlich »essenzielle« wirtschafts- und sicherheitspolitische Interessen zu schützen.

Nur knapp zehn Prozent meiner Interventionen erhalten die vom Menschenrechtsrat verlangte »volle Kooperation« mit meinem Mandat und werden zu einem zufriedenstellenden Abschluss gebracht. Eine traurige Erfolgsquote, auch wenn man diejenigen Gesuche unberücksichtigt lässt, die aus Ressourcenmangel gar nicht erst behandelt werden können. Dass dieser Trend seit der Schaffung meines Mandates im Jahr 1985 weitgehend unverändert geblieben ist, lässt das regelmäßig gefeierte Bekenntnis aller UNO-Mitgliedstaaten zum universellen Folterverbot in einem mehr als zweifelhaften Licht erscheinen. Ein ernsthafter Dialog zu Einzelfällen, der über diplomatische Floskeln hinausgeht, wird von den Staaten kaum je gewünscht. Denn das würde ihnen eine echte Verhaltensänderung und unbequeme Entscheidungen abverlangen, zu denen sie in aller Regel nicht bereit sind.

Wegen der starken Überlastung meines Büros verweise ich Gesuchsteller, wo immer möglich, an andere Institutionen und Behörden, die über größere Ressourcen verfügen und die einzelnen Fälle besser über längere Zeit begleiten können. So ist es etwa nicht der Sinn meines Mandates, die Untersuchungsbehörden von funktionierenden Rechtsstaaten zu ersetzen, solange man sich in dem betreffenden Fall auch tatsächlich auf den Schutz der Polizei und der Gerichte...

Erscheint lt. Verlag 19.4.2021
Co-Autor Oliver Kobold
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Afghanische Kriegstagebücher • Afghanisches Kriegstagebuch • Afghanistan-Krieg • Afghan War Diaries • Afghan War Diary • CIA • Folter • Geheimdienst • Geheimdienste • globale Überwachung • Held • Internet • Isolationsfolter • Korruption • Kriegsverbrechen • Lauschangriff • leak • Leaks • NSA • Überwachung • US-Militär • Verfolgung • Vergewaltigung • Whistleblower • WikiLeaks
ISBN-10 3-492-99896-8 / 3492998968
ISBN-13 978-3-492-99896-3 / 9783492998963
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