Die Ukraine für Anfänger

Ein Blick auf das Land, seine Geschichte, seine Kultur und die Nachbarn

(Autor)

Buch | Softcover
164 Seiten
2020
Wostok (Verlag)
978-3-932916-76-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Ukraine für Anfänger - Nina Römer
15,00 inkl. MwSt
Im Buch finden Sie einen sehr persönlichen Blick auf die Ukraine und Sie erfahren ein wenig mehr über die Ukraine, ihre Geschichte, ihre Kultur und die Ukrainer in der Welt. Es gibt Ihnen einen ersten Zugang zu einem Land, das für viele immer noch "terra incognita" ist.

Nina Römer, geb. Rybaschewa, geboren 1958 in Enakiewo in der Ostukraine, Studium am Kiewer Polytechnischen Institut, heute Technische Universität KPI in Kiew, Beschäftigung als Ingenieurin in Kiew in der Produktions- und Wissenschaftsvereinigung „Kristall“, bestehend aus Forschungsinstitut und Betrieb „Quasar“, der Mikroprozessoren herstellte, dann beim Ministerium für Statistik der Ukraine, Berufserfahrung als Übersetzerin und Managerin bei einer privaten Handelsfirma. Lebt seit Ende der 1990-er Jahre in Deutschland, Mas-terstudium in Sprachwissenschaft und Buchwissenschaft an der Gutenberg-Universität Mainz, arbeitet als freie Journalistin für verschiedene deutsch- und russischsprachige Medien in Deutschland, Russland und der Ukraine.

Vorwort .................................................................................................5
Die Frage der Nation: Wie fühlen Sie sich heute? .................................9
Berühmte Ukrainer. Alle kennen sie, aber keiner ahnt es .........................................23
Wie heißt das größte Land Europas? .....................................................37
Ein kurzer Blick in die Geschichte ...................................................51
Bevölkerung. Alle Welt in den ukrainischen Steppen ..............................................65
Ukrainisch, männlich und weiblich ......................................................77
Ukrainische Sprache. Maler, Farbe, Fach und Dach .........................93
Unsere Religionen. Keine Angst vor Allah ..................................107
Ukrainische Küche, Weine und Sekt ....................................119
Typisch Ukrainisch? ................................................................................133
Unsere liebsten Quasi-Brüder ...................................................................145

Sie sind es leid und können das Wort „Ukraine“ nicht mehr hören. Dann lesen Sie dieses Buch über die Ukraine. Es ist kurz und informativ. Und es geht auch um EU-Europa und die Europäer. Wussten Sie, dass Kasimir Malewitsch, Sergej Prokofjew und Andy Warhol Ukrainer waren? Dass viele Hollywoodstars ihre Wurzeln in der Ukraine haben? Dass die Hälfte der israelischen Regierungschefs aus der Ukraine stammt? Ich wusste all das vor 20 Jahren auch nicht. Vor kurzem habe ich erfahren, dass „Carol of the Bells“, ein Lied, das die halbe Welt in der Weihnachtszeit singt, eigentlich ein ukrainisches Volkslied ist. Auch die Arie „Summertime“ aus dem Musical „Porgy and Bess“, der, wie es bei Wikipedia heißt, „meistgecoverte Jazz- und Popstandard aller Zeiten“, ist die Version eines ukrainischen Wiegenliedes. Viele Länder haben „ihre“ Ukrainer: Deutschland hat die Brüder Klitschko, Italien – den Fußballer Andrij Schewtschenko, Großbritannien – die Schriftstellerin Marina Lewycka. Es ist kein Zufall, dass die Schweden und die Ukrainer dieselben Farben für ihre Nationalflagge gewählt haben. Im winzigen Liechtenstein lebte ein „Ukrainer“ in seiner Villa „Askania Nowa“. So heißt im Südosten der Ukraine ein Steppenreservat, in dem man viele seltene Tiere bestaunen kann. Die Ukraine ist groß, schön und bunt: das Schwarze und das Asowsche Meer mit ihren Stränden und Delphinen, die malerischen Karpaten mit Urwäldern, Heilquellen und ganzjährigen Sportangeboten, das grandiose Donaudelta, ein Paradies für Vögel und Vogelkundler, für Fische und Angler. In der Ukraine leben Angehörige von hundert Völkern, die friedlich an Dutzende Götter glauben und die größten Flugzeuge der Welt bauen. Ukrainisch wird als Muttersprache von vielen Menschen in Argentinien, Brasilien, den USA, Kanada und Russland gesprochen. Ah, Russland, unser Nachbar, von dem gibt es einiges zu erzählen. Die Ukraine liegt am Rande Europas, aber nicht in der Wüste. Mit der Welt verbinden uns Meere, Flüsse, Teigtaschen und Bier. Sie möchten saisonal essen und dabei abnehmen? Dann darf der ukrainische Borschtsch auf Ihrem Tisch nicht fehlen. Ab und zu ein „Ukrainischer Kuss“ macht Sie noch gesünder. Und einen guten ukrainischen Wein kann man zu jedem Anlass trinken.

Die Frage der Nation: Wie fühlen Sie sich heute? Ukrainer gibt es seit langem, die Ukraine seit kurzem, und die ukrainische Nation ist gerade erst entstanden. Was auch immer das Wort „Nation“ bedeutet. Ich bin heute Ukrainerin und laut Reisepass Deutsche. Einst war ich Russin, einst war ich Sowjetbürgerin. Wozu braucht man eine Nationalität? Sie gibt Orientierung im Leben und vielleicht ein Gefühl von Zugehörigkeit. Psychologen haben folgendes Experiment gemacht. In einem Zimmer versammelten sie ein Dutzend fremder Menschen – Männer und Frauen verschiedenen Alters. Das Zimmer war leer, es gab nur einen Tisch, auf dem Hüte lagen: rote Hüte und grüne Hüte. Den Versammelten wurden keine Anweisungen erteilt, sie sollten lediglich eine Weile im Zimmer bleiben. Nun, sie gingen hierhin und dorthin, unterhielten sich ein wenig, dann entdeckten sie die Hüte, nach und nach nahm sich jeder einen Hut. So haben sich die Menschen intuitiv in zwei Gruppen geteilt – nach der Farbe der Hüte und ohne es wirklich zu realisieren: Die „Roten“ standen in einer Ecke, die „Grünen“ in einer anderen. Etwas später durften sie das Zimmer verlassen, doch wurden sie befragt. Es stellte sich heraus, dass die Menschen der einen Gruppe misstrauisch gegenüber denen der anderen Gruppe waren, sie irgendwie verdächtigten. Fazit: Menschen finden immer einen todsicheren Grund, warum sie besser sind als die anderen. Man musste nicht den Turm zu Babel bauen, man musste nicht Religion und Nationalität erfinden, um einen Grund zum Streit zu haben. Die „Grün-Behuteten“ meinten, sie seien vertrauensvoller als die „Rot-Behuteten“. Die Franzosen glauben, sie seien besser als die Engländer. Die Engländer sind überzeugt, sie seien zuverlässiger als die Deutschen ... Und wer sind Sie? Chinese, Italiener, Türke, Iraner? Sind Sie sicher? Wer sind Ihre Eltern, Kinder, Enkelkinder? Sind Sie 100 Prozent sicher? Der Adel hat seine Stammbäume und Kenntnis davon, wer wann und mit wem. Nehmen wir als Beispiel die englischen Royals. Die sind zur Hälfte Deutsche, sie wissen aber auch, dass Meghan Markle nicht der erste Mensch mit afrikanischen Wurzeln in ihrer Sippe ist. Denn es hatte sich Folgendes zugetragen. Der russische Zar Peter der Große erhielt als Geschenk einen schwarzen Knaben aus Äthiopien. Der Zar liebte und behandelte das Kind wie seinen eigenen Sohn und gab ihm den Namen Abraham Petrowitsch, das heißt: Peters Sohn. Er schickte ihn zum Studium an die École de l'artillerie nach Paris und verheiratete ihn mit einer russischen Adeligen. Ein Urenkel Abrahams war der berühmte russische Dichter Alexander Puschkin. Puschkins Tochter Natalja hatte den temperamentvollen Charakter ihres Ur-Urgroßvaters geerbt. Auf einem Ball in Sankt-Petersburg verliebte sie sich in Prinz Nikolaus von Nassau, verließ ihren Mann und folgte dem Prinzen nach Wiesbaden. Nadeschda, eine Enkelin von Natalja und Nikolaus, heiratete George Battenberg, einen Urenkel von Königin Viktoria und Onkel von Prinz Phillip, dem Ehemann von Königin Elisabeth II. Die Nachfahren von Nadeschda und George leben heute in England. Also, auch bei einigen blaublütigen Royals ist „schwarz-afrikanisches“ Blut vorhanden. Sie sprechen nicht gern darüber, aber es ist vermutlich das Beste, das sie haben. Denn es ist sehr wahrscheinlich, dass Abraham Petrowitsch ein äthiopischer Prinz war. Das äthiopische Königshaus gehörte zu der Dynastie, die ein Sohn des biblischen Königs Salomon und die Königin von Saba gegründet hatten. Mit diesen Leuten war bekanntlich Christus selbst verwandt. Ahnenforschung lohnt sich. Vor hundert Jahren interessierte diese Fragen das gemeine Volk nicht. Es wusste nicht jeder, was Nationalität bedeutet. Meine Großmutter war wahrscheinlich Belarussin. Ihre Familie lebte in der Nähe der kleinen Stadt Nawahrudak (polnisch Nowogródek, russisch Nowogrudok) im Gebiet Grodno im Westen des heutigen Belarus. Der Kreis ist Geburtsort des polnischen Nationaldichters Adam Mickiewicz, der in Nawahrudak seine Kindheit verbrachte. Hier leben Polen, Belarussen, Litauer, Juden, Deutsche, Russen und Angehörige anderer Völker. Die Familie meiner Großmutter war arm. Meine Großmutter konnte kaum lesen und schreiben. Im Ersten Weltkrieg okkupierten deutsche Truppen die Stadt, meine Großmutter flüchtete mit ihrer Familie nach Osten. Erst in Saratow, im Süden Russlands, machten sie Halt. Alle Flüchtlinge mussten sich registrieren lassen. „Ihre Nationalität?“ – wurde auch die Großmutter gefragt. Sie wusste nicht, was damit gemeint war. Sie sprach eine belarussisch-polnisch-deutsch-russische Sprachmischung. Der Familienname Gulnizkaja und die Geburtsgegend ließen vermuten, dass sie eine Polin oder eine Belarussin sein konnte. Dann fragte der kluge Beamte: „Ihre Religionszugehörigkeit?“ – „Orthodoxe.“ – „Dann sind Sie Belarussin!“, so die Beamtenscheidung. Oder war sie doch Polin? Belarussen wie auch Ukrainer und viele andere Völker in Europa und in der Welt hatten lange Zeit keinen eigenen Staaten, obwohl sie es wollten. Im 19. Jahrhundert haben sich Italiener und Deutsche vereinigt. Den Griechen ist es gelungen, den Osmanen zu entkommen. Bei den Ukrainern hat es damals nicht geklappt. Aber im Jahr 1862 wurde die heutige ukrainische Nationalhymne geschrieben. Damals war die Ukraine noch Teil des Russischen Imperiums. Zunächst erschien das Gedicht „Noch ist die Ukraine nicht gestorben“. Der Autor war der Ethnograf und Volkskundler Pawlo Tschubynsky. Etwas später wurde dann die Musik dazu komponiert. Das Lied fand schnell Verbreitung in allen Schichten des Volkes. Es wurde mit Enthusiasmus gesungen: „Verschwinden werden unsere Feinde wie Tau in der Sonne.“ Allen war klar, wer der Feind war. Dem russischen Zaren gefiel das Gedicht nicht. Der Erfolg des Gedichts in der Ukraine brachte den Dichter in die Region hinter dem Polarkreis im Norden Russlands. Es ist nicht so weit wie Sibirien, aber genauso wirksam. Während die Ukrainer Lieder sangen, machten die Russen alles, um sie aus der Welt zu schaffen. Nachdem die Ukraine und andere Sowjetrepubliken 1991 ihre Unabhängigkeit erklärt hatten, konnte Russland, und darin erweist es sich als nicht anders als jedes normale Imperium, diese Entwicklung nicht einfach hinnehmen. Mit allen Mitteln hat es versucht, die Ukraine zurückzukriegen. Obwohl Einflüsterungen aus Russland in vollem Gange waren, interessierte sich kaum ein Mensch in den 1990-er Jahren für die Nationalitäten- und Sprachenfragen. Alle waren sowieso sprachlos, wenn sie die Preisentwicklung betrachteten. Damals kostete ein Liter Milch (umgerechnet) an einem Tag 0,7 Euro, am nächsten bereits 7 Euro, noch einen Tag weiter waren es 70 Euro, und eine Woche später mussten schon 700 Euro berappt werden. Die Inflation war sagenhaft. Zu Beginn der 2000-er Jahre regulierten sich die Preise, die Menschen kamen nach dem Schock allmählich wieder zu sich. Die Hauptthemen im Präsidentschaftswahlkampf 2004 waren nach zehn Jahren Leonid Kutschma: NATO – ja oder nein? Sprache – Russisch oder Ukrainisch. Mit Russland oder Europa? Es wurde klar, dass Putins Bemühungen der letzten Jahre nicht erfolglos waren. Im Osten und Süden wählten die Menschen mehrheitlich prorussisch, im Rest des Landes – proeuropäisch. Die Wahl hat schließlich Viktor Juschtschenko gewonnen. Als Präsident hat er mit seinen Reformen und der Steigerung des Wohlstandes der Bürger nicht viel erreicht. Doch hat er etwas Wesentliches verankert. Er sagte: „Wir sind ein souveräner Staat. Die Staatssprache ist Ukrainisch. Lernt also bitte die Sprache. Wie jeder ordentliche Staat haben wir unsere eigene Geschichte. Die ukrainische Geschichte wurde lange genug von anderen für uns geschrieben. Jetzt müssen wir nachdenken, uns selbst und anderen erzählen, wie es eigentlich bei uns war. Es gab schwere Hungersnöte, Verfolgungen, Unterdrückungen, aber auch umstrittene Helden und unschöne Ereignisse. Denken wir darüber nach, sprechen, diskutieren wir darüber, und finden wir einen Weg zur Versöhnung.“ Der Präsident sagte: „Wir sind eine Nation. Wir sind Ukrainer.“ Auch nichtethnische Ukrainer, wie ich, sollten sich an diese neue Bezeichnung psychologisch gewöhnen. In den USA fällt es neuen und alten Bürgern vielleicht leichter, sich als Amerikaner zu bezeichnen. Das Wort Amerikaner ist neutral, es bedeutet, dass man auf dem Kontinent Amerika lebt. Russland heißt auf Russisch nicht Russland, Land der Russen, sondern Rossija. Die Angehörigen aller dort lebenden Völker können sich Rossijane – Russländer nennen. In der Ukraine ist oder war es am Anfang schwieriger. Ein ethnischer Armenier und ein ethnischer Russe wurden nun zu ukrainischen Bürgern, kurz zu Ukrainern. Als mich vor zehn Jahren ein Deutscher fragte, ob ich Russin oder Ukrainerin bin, habe ich nicht gleich geantwortet. Nach kurzem Zögern sagte ich: Ich bin Ukrainerin. Sie haben sich vielleicht schon einmal gefragt, was in der Ostukraine und auf der Krim eigentlich passiert? Wer sind diese Russen-Separatisten? Ich bin Top-Kandidatin für die Rolle einer Separatistin – russischsprachig, ethnische Russin, geboren im ostukrainischen Donezk, die eine Hälfte meiner Verwandten lebt in der Ukraine, die andere Hälfte in Russland. Aber ich bin keine Separatistin, wie die meisten Menschen in der Ostukraine ebenfalls keine Separatisten sind. Aber wer bin ich? Ich wurde in der multinationalen Sowjetunion geboren. Damals hieß es, dass alle Völker gleich sind. Wir sind zu einer neuen Gemeinschaft zusammengewachsen – zum Sowjetvolk, die Nationalität spielte keine Rolle. Mit 16 Jahren bekam ich meinen ersten Pass und musste in das Feld Nr. 5 doch meine „Nationalität“ eintragen. Ohne zu zögern, trug ich „Russin“ ein. Mein Vater war Offizier der Luftwaffe, seine Einheit war in dem Städtchen Usin, nicht weit von Kiew entfernt, stationiert. Die Hauptstraße teilte den Ort in zwei Teile: rechts – das ukrainische Dorf, links – die Armeesiedlung, in der Menschen aus allen Sowjetrepubliken wohnten. Rechts der Straße wurde Ukrainisch gesprochen, links Russisch. Mir war klar, dass ich Russin war, obwohl es in meiner Familie keine einhellige Meinung zu diesem Thema gab. Mein Vater etwa meinte, er sei weder Russe noch Ukrainer, er sei Sibirjake, das heißt ein Einwohner Sibiriens, wo er geboren worden war. Und er war stolz darauf, Sibirjake zu sein. Zum einen muss man etwas Besonderes sein, um nach Sibirien zu kommen und dort zu bleiben, zu leben und zu überleben. Zum anderen ist Russland nichts ohne Sibirien. Wie auch immer. Von der Zusammensetzung meines Bluts bin ich halb Russin, ein Viertel Ukrainerin und ein Viertel Belarussin. Je älter ich wurde, desto mehr fühlte ich mich nicht ganz als Russin. Wissenschafter bezeichnen dies mit dem Begriff zwiespältiges nationales Bewusstsein. Die Ukraine, mein „Mutterland“, war von meiner Geburt an da, mit ihr und in ihr bin ich groß geworden. Die Liebe eines Kindes zur Mutter ist bedingungslos. Ein Vater hingegen muss die Kindesliebe erst verdienen. Der „Vater-Russland“ war der Beschützer, groß und stark, aber immer abwesend, typisch Mann. 1991 brach die Sowjetunion auseinander, „Mutter“ und „Vater“ trennten sich. Nach der „Scheidung“ entpuppte sich der „Vater“ als extrem eifersüchtig. Mit vielen seiner Ehemaligen kam es zu Skandalen. Mit einigen führten er oder seine Anhänger einen echten Rosenkrieg, mit echten Panzern und Kanonen. Zuletzt mit meiner „Mama“. Da gibt es keine Liebe mehr. Auch heute kann niemand, Wissenschaftler schließe ich da ein, eindeutig sagen, was Nationalität ist. Fest steht, dass Nationalität ein „Zauber-Hut“ ist, mit dessen Hilfe man Menschen im Handumdrehen verwandeln kann. Warum wollen laut den „Referenden“ angeblich 90 Prozent der Menschen in der Ostukraine ihre eigenen „Republiken“ gründen und sich mit Russland vereinigen? Nun, es ist kinderleicht, Menschen an alles glauben zu lassen: Dass sie ein auserwähltes Volk sind oder Arier oder unterdrückte Russen oder dass genau diese Anti-Aging-Creme ihre Haut für immer jung hält. Sie wissen, dass es eine Werbelüge ist und kaufen doch das teurere Gläschen. Man kann die US-Amerikaner von „America First Again“ überzeugen und die Ostukrainer davon, dass sie selbst und nicht irgendjemand anderes mehr Föderalisierung für die Ukraine wollen. Wenn Sie aber die Menschen in der Ostukraine fragen, was Föderalisierung denn nun praktisch bedeutet, werden Ihnen die meisten keine einleuchtenden Antworten geben können. Eine Antwort hat der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko gegeben, der bereits 2014 wertete: „Eine Föderalisierung der Ukraine ist Idiotismus pur.“ Ja, es ist der einfachste Weg das Land zu destabilisieren und zu spalten. Schlaue Köpfe haben gefragt, warum wir uns eigentlich mit Russland vereinen sollen. Donezk, die Hauptstadt des gleichnamigen Gebiets, zum Beispiel wurde vom britischen Unternehmer John Hughes gegründet. Deshalb sollte ein Referendum die Frage stellen, ob sich das Gebiet mit Großbritannien vereinigen will und zu einem Donezkshire gemacht werden soll. Das wäre eine bessere Alternative für alle, außer vielleicht die Briten. Die richtigen Fragen zu stellen ist aber eine Kunst. Wenn heute im Osten der Ukraine geschossen und getötet wird, können die Menschen nicht mehr verstehen, wie es dazu gekommen ist. Der türkisch-amerikanische Sozialpsychologe Muzafer Sherif hat vor 70 Jahren in seinen „Ferienlagerexperimenten“ nachgewiesen, wie mühelos man schon bei Kindern Konflikte erzeugen kann. Er brachte Jungen in einem Ferienlager zusammen, die sich zuvor nicht kannten. Nachdem die Jungen mehrere Tage als gemeinsame Großgruppe verbracht hatten, teilte Sherif sie in zwei gleich große Gruppen. Es dauerte nicht lange, bis die Mitglieder der einen Gruppe die Mitglieder der anderen Gruppe beschimpften und sich ihnen gegenüber aggressiv verhielten. Es kam das Gefühl „wir und die“ auf. Nachdem jeder Gruppe ein Name zugewiesen worden war – die einen waren die „Adler“, die anderen die „Klapperschlangen“ –, verschärften sich die gegenseitig unfreundlichen Einstellungen noch. Die Jungen haben rasch angefangen, die Mitglieder der jeweils anderen Gruppe während der Wettbewerbe mit Wörtern wie Gauner, Feiglinge und Stinktiere zu beschimpfen, sie zu verspotten und ihre Leistungen herabzusetzen. Dieses Experiment dient einigen Mächtigen als Vorlage für die Verwirklichung ihrer Visionen. Sie nehmen ein Stück Land – natürlich nicht innerhalb ihrer eigenen Grenzen, da mit solchen Experimenten nicht zu spaßen ist –, also, ein Stück Land des Nachbarn. Die Menschen dort führen, wie so oft, ein ziemlich langweiliges Leben, ohne große Ereignisse – Arbeit, Familie, Arbeit, Familie. Und dann treten also die Mächtigen aus dem anderen Land auf und propagieren: „Hey, Leute, habt ihr es vergessen? Ihr seid nicht allein, seid nicht ohne Angehörige. Wir, ... (bitte ausfüllen), sind eure schöne und reiche Heimat, und nicht ... (bitte ausfüllen).“ Und weiter geht es dann bereits wie im Ferienlagerexperiment. In den meisten Fällen wird es dann blutig. Aber heute wollen die Menschen auf beiden Seiten der Kontaktlinie in der Ostukraine nur eines – Frieden. Im Rest des Landes helfen Freiwillige, als Individuen und in Vereinen, den Flüchtlingen und ukrainischen Soldaten. Man sammelt Geld, Lebensmittel und Kleidung. Großmütter stricken warme Mützen und Socken, Kinder knüpfen Tarnnetze, und Frauen packen Notverpflegung. Gebäude, Denkmäler, Brücken und Bäume werden mit den fröhlichen blau-gelben nationalen Farben bemalt. Wo immer es möglich ist, steckt man die ukrainische nationale Flagge rein. Frauen tragen Wyschywanka, eine Bluse, reichlich mit traditionellen ukrainischen Mustern bestickt. Patriotische Unterhosen für Männer mit ukrainischen Stickereien sind zu Verkaufsschlagern geworden. Das Volk ist nicht blöd. Die Ukrainer haben sich angesichts der Gefahr vereint und damit den zweiten Teil des Experiments von Sherif bestätigt. 2004 wurde der proeuropäische Präsident Juschtschenko mit knapp 40 Prozent der Stimmen gewählt. Nach Kriegsausbruch kam der Proeuropäer Poroschenko im Mai 2014 auf 59 Prozent der Zustimmung, und 2019 wählten 73 Prozent der Bürger in allen Regionen der Ukraine gleichweise proeuropäisch, nun kam Wolodymyr Selenski an die Macht. Keine Trennung mehr nach Ost-Süd-West-Nord, nach Ukrainern oder Russen. In der Ukraine sagt heute ein jeder und sagen alle: „Wir sind Ukrainer. Wir sind ein Volk. Danke, liebe Russen.“ Ich glaube, dass Nation und Nationalität viel mit zarten Gefühlen wie Liebe zu tun haben, aber auch mit Geld- und Machtliebe. In Westeuropa ist allein die Schweiz ein Wunderland, in der Deutsche, Franzosen, Italiener und Rätoromanen friedlich miteinander leben. Wie ist es ihnen nur gelungen? Die Katalanen wollen sich von Spanien lösen. Ausschließlich wegen ihrer eigenen Sprache, Kultur und anderen Besonderheiten, wie sie sagen. Dass sie reicher sind als andere in Spanien, spiele dabei keine Rolle. Seitdem die Flamen verstanden haben, dass die Wallonen arm sind, wollen sie von ihnen nichts mehr wissen. Als in der Wallonie die Industrie noch boomte, dachte Flandern nicht ernsthaft an eine Trennung. Aber die Flamen sollten achtsam sein. Richtig Geld hat eigentlich nur Antwerpen, und die Stadt könnte sich überlegen, eine eigene Republik wie einst Venedig zu gründen und dann dem Rest der Flamen viel Glück zu wünschen. Warum beeilen sich die Franzosen nicht, ihren französischsprachigen Nachbarn zu helfen? Und warum wollen sich die Wallonen nicht mit Frankreich vereinigen? Die Deutschen könnten auch mal probieren, sich modernen Trends anzuschließen. Für Putin ist die tatarische Krim, die Russland vor 250 Jahren vom Osmanischen Reich erobert hat, „uraltes russisches Gebiet“. Ein Teil der preußischen Provinz Ostpreußen und dessen Hauptstadt Königsberg, die 1255 vom Deutschen Orden als Ordensburg gegründet wurde, ist entsprechend „uraltes deutsches Land“. Die Russen haben das Gebiet erst nach dem teuer erkauften Sieg über den Faschismus 1945 zuerkannt bekommen und in Kaliningrad umbenannt. Also ... Aber die Deutschen sind vielleicht die einzigen, die sich heute noch wirklich daran erinnern, wohin eine „nationale Idee“ führen kann. Die Frage nach ihrer Nationalität sollte lauten: „Wie fühlen Sie sich heute?“ Ich fühle mich heute ukrainisch, schon ein bisschen deutsch, auf keinen Fall russisch, auf jeden Fall europäisch und nicht etwa afrikanisch oder amerikanisch … Hier verändere ich das Zitat von Monsieur de Voltaire „Da es sehr förderlich für die Gesundheit ist, habe ich beschlossen, glücklich zu sein“, indem ich sage: „Da es tödlich sein kann, habe ich mich entschlossen, alle diese Nation-Volk-Zugehörigkeit-Identität-Nationalität-Ethno-Fragen nicht ernst zu nehmen. Meine Antwort darauf lautet: Menschen aller Länder, verheiratet euch.“

Sie sind es leid und können das Wort "Ukraine" nicht mehr hören. Dann lesen Sie dieses Buch über die Ukraine. Es ist kurz und informativ. Und es geht auch um EU-Europa und die Europäer. Wussten Sie, dass Kasimir Malewitsch, Sergej Prokofjew und Andy Warhol Ukrainer waren? Dass viele Hollywoodstars ihre Wurzeln in der Ukraine haben? Dass die Hälfte der israelischen Regierungschefs aus der Ukraine stammt? Ich wusste all das vor 20 Jahren auch nicht. Vor kurzem habe ich erfahren, dass "Carol of the Bells", ein Lied, das die halbe Welt in der Weihnachtszeit singt, eigentlich ein ukrainisches Volkslied ist. Auch die Arie "Summertime" aus dem Musical "Porgy and Bess", der, wie es bei Wikipedia heißt, "meistgecoverte Jazz- und Popstandard aller Zeiten", ist die Version eines ukrainischen Wiegenliedes. Viele Länder haben "ihre" Ukrainer: Deutschland hat die Brüder Klitschko, Italien - den Fußballer Andrij Schewtschenko, Großbritannien - die Schriftstellerin Marina Lewycka. Es ist kein Zufall, dass die Schweden und die Ukrainer dieselben Farben für ihre Nationalflagge gewählt haben. Im winzigen Liechtenstein lebte ein "Ukrainer" in seiner Villa "Askania Nowa". So heißt im Südosten der Ukraine ein Steppenreservat, in dem man viele seltene Tiere bestaunen kann. Die Ukraine ist groß, schön und bunt: das Schwarze und das Asowsche Meer mit ihren Stränden und Delphinen, die malerischen Karpaten mit Urwäldern, Heilquellen und ganzjährigen Sportangeboten, das grandiose Donaudelta, ein Paradies für Vögel und Vogelkundler, für Fische und Angler. In der Ukraine leben Angehörige von hundert Völkern, die friedlich an Dutzende Götter glauben und die größten Flugzeuge der Welt bauen. Ukrainisch wird als Muttersprache von vielen Menschen in Argentinien, Brasilien, den USA, Kanada und Russland gesprochen. Ah, Russland, unser Nachbar, von dem gibt es einiges zu erzählen. Die Ukraine liegt am Rande Europas, aber nicht in der Wüste. Mit der Welt verbinden uns Meere, Flüsse, Teigtaschen und Bier. Sie möchten saisonal essen und dabei abnehmen? Dann darf der ukrainische Borschtsch auf Ihrem Tisch nicht fehlen. Ab und zu ein "Ukrainischer Kuss" macht Sie noch gesünder. Und einen guten ukrainischen Wein kann man zu jedem Anlass trinken.

Erscheinungsdatum
Mitarbeit Mitglied der Redaktion: Britta Wollenweber, Peter Franke
Zusatzinfo zahlreiche schwarz-weiße Abbildungen
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Maße 170 x 240 mm
Gewicht 365 g
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Autokephalie • Berühmte Ukrainer • Borschtsch • Charkiw • Dnipro • Geschichte • Gogol • Juschtschenko • Kiew • Klitschko • Kosaken • Küche • Lwiw • Odessa • Religion • Schewtschenko • Sekt • Selensky • Steppe • Ukraine • Ukrainer • Ukrainisch • Ukrainische Orthodoxe Kirche • Wein
ISBN-10 3-932916-76-X / 393291676X
ISBN-13 978-3-932916-76-2 / 9783932916762
Zustand Neuware
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