Von hier an anders (eBook)

Eine politische Skizze (mit aktuellem Nachwort)
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
384 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-32104-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Von hier an anders -  Robert Habeck
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»Als jemand, der gerne politische Bücher liest, kann ich Ihnen ?Von hier an anders? nur ans Herz legen.« Jörg Thadeusz, WDR 2. Es war keine intakte, heile, sichere Welt, in die die Coronapandemie einbrach. Schon zuvor war die Normalität in der Krise und die gesellschaftliche Gereiztheit nahm zu. In seinem klugen und nachdenklichen SPIEGEL-Bestseller erkundet Robert Habeck die Gründe für den Verlust an Selbstverständlichem und entwirft eine Politik, die den Problemen unserer Zeit angemessen ist. Ausgehend von persönlichen Erfahrungen der letzten Jahre sucht Robert Habeck Antworten auf die Frage, warum der Erfolg der liberalen Demokratie zum Misserfolg zu werden droht. Selbstkritisch tastet er sich an die blinden Flecken der Politik der letzten Jahrzehnte und ihre Widersprüche heran. Und plädiert für eine Politik, die nicht mehr nur reparieren will, sondern die die Probleme und Verluste des Fortschritts möglichst gar nicht erst entstehen lässt. Denn, so Habeck: Wenn wir der Erosion der Demokratie, dem Vertrauensverlust in die Politik, dem Auseinanderfallen Europas und nicht zuletzt der Klimakrise entgegenwirken wollen, dann können wir das tun. Und damit einen neuen gesellschaftlichen Konsens schaffen. »Ein beeindruckendes Buch« Giovanni di Lorenzo, Radio Bremen 3nach

Robert Habeck, geboren 1969, arbeitete als Schriftsteller und veröffentlichte zahlreiche Bücher, bevor er Politiker wurde.

Robert Habeck, geboren 1969, arbeitete als Schriftsteller und veröffentlichte zahlreiche Bücher, bevor er Politiker wurde.

Zweierlei Krise


Dass es nicht leicht ist, die eigenen blinden Flecken zu erkennen, merke ich andauernd in meinem Alltag. Beziehungsweise ich merke es nicht andauernd – das ist ja gerade das Problem. Aber ab und zu werden sie einem vor Augen geführt.

Ein guter Freund, der stolz darauf ist, Sozialdemokrat zu sein, korrigierte mich neulich, als ich von den »sozial Schwachen« sprach. Seine Eltern zum Beispiel seien arm, wirklich arm gewesen, sagte er, aber sozial seien sie ausgesprochen stark gewesen.

Lange standen in Wahlprogrammen meiner Partei Formulierungen, die sinngemäß sagten, dass wir die »schmutzige Arbeit« in der Kohleindustrie beenden wollen. Geblendet vom Wortspiel erkannten wir nicht, wie das in den Ohren derjenigen, die im Bergbau hart arbeiten, geklungen haben muss.

In diesem Buch wird es mehrfach um gesellschaftliche Ungerechtigkeit gehen. Und ich werde immer wieder betonen, wie wichtig der Kampf gegen sie ist, weil sonst der ökologische Umbau nicht gelingt oder weil sonst die Demokratie gefährdet ist. Aber nutze ich damit diesen Kampf nicht auch strategisch, um die politischen Ziele, die ich für besonders relevant halte (Verteidigung der Demokratie, Klimaschutz), zu erreichen? Ist es nicht so, dass Gerechtigkeit ein Eigenwert ist? Ich versuche diesem Wert im Zusammenhang mit Anerkennung und Würde in Kapitel IV seinen Raum zu geben, aber ein instrumentelles Verhältnis zur sozialen Frage ist ein blinder Fleck vielen Menschen gegenüber.

Ein anderes Beispiel für einen blinden Fleck ist, dass ich während der ersten Wochen der Corona-Pandemie – wie die meisten anderen Politiker*innen – gesagt habe, dass dies die schwerste Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sei. Bis mich eine Freundin, die aus Leipzig kommt, darauf hingewiesen hat, dass nach der Wiedervereinigung Deutschlands die ökonomischen Verwerfungen in Ostdeutschland riesig waren, dass 20 Prozent der Menschen in den ostdeutschen Bundesländern arbeitslos wurden, die Treuhand 4000 von 14000 Betrieben schloss und die meisten anderen an westdeutsche Investoren verkaufte. Dass mit der ökonomischen Entwertung auch eine mentale verbunden war und all das verlernt werden musste, was vorher von vielen als sichere Wahrheit geglaubt wurde. Die Wiedervereinigung war nach 40 Jahren Unrechtsregime der DDR ein gigantischer Umbruch, für viele ein Aufbruch, aber für viele folgte auch eine Zeit großer Verunsicherung und Abwertung. Entsprechendes gilt für die Formulierung, dass Freiheitsrechte in einem nie da gewesenen Maß eingeschränkt wurden. Für diejenigen, die in Stasi-Knästen saßen, muss das mindestens geschichtsvergessen klingen. Die Rede von der »schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg« ist eine westdeutsche. Und das hatte ich nicht gesehen. Ich habe westdeutsch gedacht, ohne es zu bemerken.

Ähnliches gilt für die Behauptung, dass in der Krise die Stunde der Regierung schlägt. So hieß es ja stets und ständig während des ersten Corona-Shutdowns. Aber auch das markiert einen blinden Fleck, einen blinden Fleck derjenigen, die in der Exekutive sind oder auf sie schauen. Denn in Krisen gedeiht ja gemeinhin die Opposition, bilden sich Alternativen. Krisen sind sehr unterschiedlich. Sie haben mal materielle, mal kulturelle, mal ökologische Folgen. Aber so unterschiedlich sie sind, meist wirken sie wie Katalysatoren der Veränderung.

 

Dass die Corona-Krise die Regierung, insbesondere die Bundeskanzlerin und die Union, während der ersten Welle stärkte, liegt auch an ihrem besonderen Charakter. Sich diesen klarzumachen ist insofern hilfreich, als die Ausnahme hilft, die Regel besser zu verstehen.

In einem Interview mit der Zeit wurde ich auf dem Höhepunkt der ersten Welle gefragt, warum in der Corona-Krise die Bürger*innen Maßnahmen mitmachen, die für die Klimakrise nachgerade ausgeschlossen waren: weniger Fliegen, weniger Reisen, weniger Konsum. Es stimmt ja: Die Bundesregierung und viele Medien agierten in den ersten Wochen fast nach dem Motto von Greta Thunberg »I want you to panic« – was sie bei der Klimakrise energisch zurückgewiesen hatten. Ich antwortete, dass die Corona-Krise unmittelbare Angst auslöse, weil ihre dramatischen Auswirkungen innerhalb kürzester Zeit zu spüren seien, Tausende vor unseren Augen sterben würden, jede Nachrichtensendung mit der Meldung der neuesten Todeszahlen begann, alles Gegenwart und Unmittelbarkeit war. Dass aber die Klimakrise von vielen immer noch als weit weg, als irgendwann später und irgendwo anders wahrgenommen würde.

Ich befürchte im Nachhinein, ich habe mit diesem zeitlichen und räumlichen Argument den Nagel nicht auf den Kopf getroffen. Denn erstens ist den meisten Menschen die Unmittelbarkeit der Klimakrise inzwischen durchaus bewusst. Und zweitens gibt es mindestens einen weiteren Grund, warum die Regierung sich bei der Corona-Krise anfangs auf die nahezu ungeteilte Unterstützung der Bevölkerung verlassen konnte, warum die Union plötzlich bei 40 Prozent in den Umfragen rangierte und Angela Merkel, die vor Corona von allen Journalist*innen schon politisch in den Ruhestand verabschiedet worden war, von manchen eine fünfte Amtszeit angetragen wurde.

Ja, es gibt strukturelle Parallelen zwischen der Corona-Pandemie und der Klimakrise. Beide sind global, beide haben einen ökologischen Ursprung, ihre Bekämpfung macht globale Kooperation notwendig. Beide zwingen uns, alte Gewissheiten infrage zu stellen. Deshalb wurden und werden sie auch beide von rechten Populisten geleugnet und die Maßnahmen gegen sie bekämpft. Beide werden – oder wären – besser beherrschbar, wenn man vorausschauend handelt. Bei beiden geht es darum, einen zu steilen Anstieg – einmal der Infektionen, einmal der Temperatur – zu verhindern und damit dafür zu sorgen, dass eine ökologische Krise die Möglichkeiten der Zivilisation nicht überfordert.

Aber es gibt eben auch einen gravierenden Unterschied. Die Klimakrise zu bekämpfen setzt voraus, dass wir Menschen uns selbst kritisieren, unsere Verhaltensweisen verändern. Wir werden die Klimakrise nur bestehen, wenn wir uns selbst und unsere Art, zu wirtschaften und zu konsumieren, hinterfragen. In dem Sinn sind wir uns selbst zum Problem geworden. Entsprechendes gilt für die Bekämpfung des Hungers oder der allgemeinen sozialen Ungleichheit, weltweit, aber auch im eigenen Land. Antworten auf diese Herausforderungen setzen immer Kritik des eigenen Tuns voraus. Deswegen werden sie oft verdrängt und zum blinden Fleck derer, die in Verantwortung stehen.

Bei der Corona-Krise aber ist die Herausforderung ein Virus. Etwas, das von außen kommt, unsichtbar und unbekannt, etwas, das auch einen gesunden Körper befällt. Der französische Präsident Emmanuel Macron verglich das Virus anfangs mit einer feindlichen Armee. »Wir befinden uns im Krieg«, sagte er. Auch wenn ich dieses Bild in seiner Martialität als erschlagend empfinde, zu viel Blut, Schweiß, Tränen, und Macron selbst später eine andere Rhetorik anschlug, sprach er auf eine gewisse Weise doch die besondere Struktur dieser Krise aus.

So waren ja auch die Nachrichten im Frühjahr letzten Jahres, die Bilder, die vor allem aus Norditalien unmittelbar auf uns einprasselten: Berichte von Ärzt*innen und Pfleger*innen, die kaum noch schliefen, unermüdlich Leben retteten, denen Menschen unter den Händen wegstarben, die plötzlich aus Mangel an Beatmungsgeräten entscheiden mussten, wen man zu retten versucht und wen man sterben lässt. Zustände wie in Lazaretten – die dann tatsächlich errichtet wurden, in Kathedralen und Stadien, auf Messegeländen und in ehemaligen Werkshallen. Wir lernten das Wort »Triage«, ursprünglich ein Begriff aus der Militärmedizin, der beschreibt, wie im Chaos von zu vielen Verletzten ethisch zu ordnen ist, wem man zuerst hilft, wissend, dass das immer bedeutet, anderen nicht zu helfen – eine psychologische Zumutung für Ärzt*innen, Pfleger*innen, für alle. Wir sahen in den Nachrichten einen Konvoi von Lastwagen der italienischen Armee, der durch die dunklen Straßen Bergamos fuhr und Särge abtransportierte, weil es zu viele Tote gab, als dass das Krematorium in der italienischen Stadt die Leichen noch hätte aufnehmen können. Mit all diesen Bildern wuchs die Sorge. Nicht nur um die individuelle Gesundheit, sondern auch davor, die Kontrolle zu verlieren, als Gesellschaft dem Virus hilflos ausgeliefert zu sein.

Das Virus zu bekämpfen bedeutet, etwas abzuwehren, das nicht zu uns gehört, etwas, das uns alle bedroht, das in unseren menschlichen Organismus von außen eindringt. Es gibt einen gemeinsamen Gegner, ein gemeinsames Außen, wir müssen uns nicht selbst hinterfragen. Das unterscheidet die Covid-19-Krise von anderen zeitgenössischen Krisenerfahrungen. Deshalb konnten zu Beginn Maßnahmen ergriffen werden wie bei keiner anderen Gefahrenabwehr sonst.

Niemand findet das Virus gut oder erhebt seine Stimme zu seinem Schutz. Es muss weg, ausgerottet, ausgemerzt werden. Und wenn das erreicht ist, dann ist die Krise überstanden. Ein Ende der Maßnahmen war das Ziel der Maßnahmen. Die Einschränkungen mögen länger oder kürzer dauern oder wiederkehren, sie mögen nerven oder tatsächlich Grundrechte beschneiden, aber Corona ist per Definition kein Dauerzustand. Das ist ein entscheidender Unterschied zur Klimakrise. Und dieser Unterschied ermöglichte es der Politik und der Gesellschaft vor einem Jahr sich im Inneren zu sammeln und gemeinsamer, klarer und entschiedener zu...

Erscheint lt. Verlag 14.1.2021
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Ampel-Koalition • Annalena Baerbock • Bundesregierung • Bundestagswahl 2021 • Corona-Krise • Corona-Pandemie • Die Grünen • Europa • Gesellschaft • Klima-Krise • Klimaschutz • Koalitionsvertrag • liberale Demokratie • Politik • Populismus • Superminister • Vizekanzler • Vize-Kanzler • Wahlen 2021
ISBN-10 3-462-32104-8 / 3462321048
ISBN-13 978-3-462-32104-3 / 9783462321043
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