Das Alleinsein-Einsamkeit-Paradox -  Cordula Reimann

Das Alleinsein-Einsamkeit-Paradox (eBook)

Persönliche und gesellschaftskritische Beobachtungen
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
176 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7494-1881-7 (ISBN)
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Sind Sie ungerne alleine? Sind Sie öfters einsam und leiden darunter? Egal ob ein klares Ja oder Nein: Ich lade Sie zu einem Perspektivwechsel ein. Dieses Buch ermutigt Sie darin, Alleinsein und Einsamkeit als wichtige Lebensbegleiter zu sehen und sich darauf einzulassen. Werten Sie Alleinsein und Einsamkeit als wichtige Lebensprinzipien für sich auf. Ob in oder ausserhalb von Liebesbeziehungen, im Kontext von Freundschaften und Familien: Jeder Mensch sollte sich dieser Erfahrung bewusst stellen, um lebendig und selbstbestimmt leben zu können. Meine Hauptthese ist ein scheinbares Paradox: Ein bewusstes und achtsames Leben und Erleben von Alleinsein ist die beste Art der Einsamkeitsprävention. Alleinsein wird verstanden als wichtiger Prozess und persönliche Ressource, die es uns ermöglicht, uns über unsere eigenen Wünsche, Ängste und Bedürfnisse bewusst zu werden: Was oder wer tut mir gut, welche Art von sozialen Kontakten brauche ich und welche Menschen und Situationen rauben mir Energie und Kraft? Weiter gedacht bedeutet dies: Je besser wir mit dem Alleinsein umgehen können, desto gesünder und selbstbestimmter leben wir und betreiben wirksame Prophylaxe gegen die Einsamkeit. Gleichzeitig sind Alleinsein und Einsamkeit nicht nur persönliche Gefühle und Zustände, sondern auch immer Spiegelbild sozialer und politischer Entwicklungen. Wie wir mit beiden Phänomenen gesellschaftlich umgehen - nicht nur in Zeiten von COVID-19 - sagt viel über uns als Gesellschaft und Wertegemeinschaft aus. Somit wirft das Buch auch sozialkritische und philosophische Fragestellungen auf, betrachtet wie aktuell gesellschaftlich und politisch mit den Themen Alleinsein und Einsamkeit in westlichen Ländern umgegangen wird und wessen Interessen damit vertreten werden. Das Buch basiert auf Interviews mit 150 Menschen weltweit sowie aktuellen Erkenntnissen der internationalen Einsamkeitsforschung und Ergebnissen aus Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaft.

Cordula Reimann arbeitet als selbstständige Strategieberaterin, Mediatorin und Trainerin in Deutschland, der Schweiz und weltweit. Sie ist eine anerkannte Expertin zu konstruktiver Konfliktbearbeitung und inklusiven Strategieprozessen. In ihrer Coaching- und Beratungsarbeit beschäftigt sie sich mit Persönlichkeitsentwickung, Geschlechtergleichkeit, kollektiven und transgenerationalen Traumata sowie Biographiearbeit, Anderssein und Alleinsein/Einsamkeit. Nach dem Studium der Sozialpsychologie, Politikwissenschaft und Internationaler Beziehungen in Deutschland und England promovierte sie in Friedens- und Konfliktforschung. Sie ist als Gastdozentin und Gastprofessorin an verschiedenen Universitäten tätig, u. a. an der UN Friedensuniversität in Costa Rica.

Kapitel als Lebensbegleiter 1: Einsamkeit und Alleinsein

These 1:
Das Persönliche ist politisch: Alleinsein und Einsamkeit sind immer persönliche, soziale und politische Phänomene.

Sind Sie ungerne allein? Sind Sie öfters einsam und leiden darunter? Vielleicht haben Sie sich diese Fragen in ihrem Leben schon öfters gestellt. Vielleicht haben Sie diese Fragen aber auch bewusst verdrängt und durch gezielte Ablenkung, sich nie mit der eigenen Einsamkeit auseinandersetzen müssen. Vielleicht hat Sie die soziale Ausnahmesituation aufgrund von COVID-19 im Frühjahr 2020 gezwungen, erstmal bewusst mit Ihren eigenen Einsamkeit auseinander zu setzen. Vielleicht ist während des Corona-Virus, das Bedürfnis nach Zweisamkeit schmerzhaft präsent gewesen. Vielleicht haben Sie sich aufgrund Ihrer Biographie schon öfters mit Einsamkeit auseinandergesetzt, weil es ein Gefühl benennt, das Sie durch Ihr Leben begleitetet.

Egal, was Ihr Grund war und sein wird, sich mit der eigenen Einsamkeit auseinanderzusetzen, meistens ist es ja immer ein bestimmter Anlass, ein besonders einschneidendes Erlebnis oder eine Kette von Ereignissen, die uns auffordern, sich mit gewissen – auch gerade mit den schmerzhaften – Themen, ehrlicher und klarer auseinanderzusetzen.

Wie am Anfang des Buches besprochen bin ich durch das Zusammenspiel von Lebensbrüchen in 2014 herausgefordert worden, mich intensiver mit meiner Einsamkeit zu beschäftigen. Einsamkeit kenne ich in ganz verschiedenen Facetten schon seit Kindheitstagen: Einsamkeit als tiefes und gleichzeitig diffuses Gefühl von Anderssein, des Nichtgesehenwerdens und des Abgeschiedenseins - mal bewusster, mal auffälliger und mal schmerzhafter. Geredet habe ich selten bis gar nicht darüber, weil ich es immer als Begleiterscheinung von Anderssein oder Hochsensibilität abgetan habe.

Bei genauerem Nachspüren wurde mir schnell klar, dass mich Einsamkeit und Alleinsein auf verschiedenen Ebenen schon viel länger beschäftigen, und ich beide Zustände als sehr komplexe und zum Teil widersprüchliche und paradoxe Phänomene erlebt habe.

Erinnerungen an Einsamkeit

Die lebendigste und schmerzhafteste Erinnerung an Einsamkeit habe ich, als ich als Jugendliche schwer an einem Gehirntumor erkrankte: Während sich im nicht so weiten Tschernobyl (in der heutigen Ukraine) der bislang größte Unfall der Kernenergie ereignete und radioaktive Wolken über Deutschland zogen, kämpfte ich zwischen Leben und Tod.

Ich hatte seit Monaten unerklärbare Kopfschmerzen und so hohe Entzündungs- und Blutwerte, dass sie nicht mehr gemessen werden konnten. Die üblichen Eingriffe und Therapien bei Tumorerkrankungen, unter anderem auch einen operativen Eingriff durch die Nase, hatten bis jetzt nicht die erwünschte Verbesserung oder sogar Heilung erbracht. Da ich seit Monaten kein Hungergefühl mehr hatte, war mein Körpergewicht lebensbedrohlich kritisch, und ich erhielt die sogenannte Astronautennahrung50. Ich erinnere mich wie gestern, als ich beim Blick in den Spiegel zu meiner Mutter sagte: „Ich sehe aus wie ein KZ-Häftling.“ Und ich weiß auch noch wie ich an einem Abend nach dem Zähneputzen und dem erneuten Blick in dem Spiegel vor mich murmelte „Wenn das mein Leben ist, dann will ich das nicht“.

Ich hatte kein Zeitgefühl – durch die Nachrichten bekam ich am Rande mit, was sich draußen in der Welt abspielte. An Vieles kann ich mich wie gestern erinnern, dazu gehören viele kleine und leise Gesten der Fürsorge und Liebe – sei es des Pflegepersonals oder meiner Familie. Gleichzeitig fühlte ich mich so schmerzhaft einsam – vor allem wenn ich allein war, in der Nacht.

Meine Schulfreunde haben mich in dieser Zeit kein einziges Mal besucht – angeblich hatten ihre Eltern gesagt, dass es nicht gut für ihr seelisches Wohlergehen wäre, wenn sie mich besuchen und „in diesem Endzustand“ sehen würden.

Erst nach vielen Jahren habe ich mir wirklich ehrlich eingestanden, wie oft sich meine Gedanken und die letzte Kraft sich um Suizid drehten. Ich habe auch dann erst verstanden, dass der Schmerz mir auch eine radikale Form von Ehrlichkeit geschenkt hat – nämlich ein klares und eindeutiges Ja zu diesem und meinem Leben zu sagen.

Viele Freunde haben nach meiner langsamen Genesung gesagt, ich wäre danach nicht mehr die Gleiche gewesen – viel kämpferischer, leidenschaftlicher, kompromissloser und voller Galgenhumor. Das mag sein. Die Erfahrung hat definitiv die Sicht auf das Leben, Menschen und körperlichen und emotionalen Schmerz geändert.

Was mir geholfen hat, mich ein bisschen weniger einsam zu fühlen, war das Lesen von Büchern. Auch wenn ich dazu nicht immer die Kraft hatte.

Erinnerungen als Einzelgängerin

Seit meiner frühen Kindheit faszinierten mich Einzelgänger*innen, die sich in Romanen oder im Alltag allein gegen den Rest der Welt stellen oder einfach eigenwillig und anders sind als die anderen.

Pippi Langstrumpf war für mich als Mädchen, Jugendliche und auch als junge Erwachsene lange ein Idol für ein selbstbestimmtes Leben. Politikerinnen, wie die ehemalige und leider schon viel zu früh verstorbene deutsche SPD Politikerin Regine Hildebrandt, die sich trauten, eine eigene Meinung fernab von der Parteidoktrin oder dem Mainstream zu vertreten, beeindruckten mich.

Dazu zählen auch Menschenrechtsaktivisten und Politiker wie Nelson Mandela, der als politischer Gefangener 27 Jahre in Haft verbrachte und weit über seinen Tod 2013 hinaus für viele Menschen weltweit ein moralisches und politisches Vorbild bleibt.

Oder auch der deutsche Staatsanwalt Fritz Bauer, der sich für die rechtsstaatliche Ahndung NS-Verbrecher – unter anderem Adolf Eichmann – einen Namen in dem Nachkriegsdeutschland machte – und damit „die Symbolfigur einer humanen Rechtsstaatlichkeit, einer Liberalisierung der Sitten, in einer noch autoritär gesinnten Bundesrepublik“51 wurde.

Für meine Lieblingsphilosophin Hannah Arendt, mit der ich mich intensiv während meines Politikstudiums beschäftigte, waren Alleinsein und Einsamkeit Themen in ihren philosophischen Abhandlungen: Ohne Alleinsein kann der Menschen nicht (lernen zu) denken. Ein verantwortliches Leben braucht nach Hannah Arendt Denkerleben, Zeit mit sich selbst, damit überhaupt ein Innenleben und eine bewusste und kultivierte Innerlichkeit entstehen können.

Die Feministin Simone de Beauvoir, die in den 60er Jahren Gesellschaftsklischees und tradierte Geschlechterrollen radikal hinterfragte, beschrieb verschiedentlich Frauen, die sich einsam fühlten und nicht in die gesellschaftlichen Genderrollen passten (siehe LeBon de Beauvoir 1999)52.

Im Hinblick auf die damals existierenden Geschlechterrollen betonte sie:

„…der Mann sucht sich durch die Ekstase aus seiner Einsamkeit herauszureißen: Das ist der Zweck der Mysterien, Orgien, Bacchanale.“ (Beauvoir 1951)

Meine Lieblingsbücher von Hermann Hesse wie Demian und Der Steppenwolf waren nicht nur meine Pflichtschullektüre, sondern Ausdruck von meinem Lebensgefühl und meiner Gesellschaftswahrnehmung als Jugendliche Anfang der 80er Jahre: Erst als ich sie im Zuge des Buchschreibens nochmals hervorholte, fiel mir auf, wie sehr sie sich auch um Fragen der Einsamkeit und des Andersseins drehten.

Fühlten sich diese Idole meiner Jugend und meines Erwachsenseins einsam? Ich weiß es nicht – vieles, was sie schrieben oder über sie inzwischen geschrieben wurde, lässt durchaus diesen Schluss zu: Alle diese Persönlichkeiten waren nicht nur in wichtigen Phasen ihres Lebens allein, sondern haben weitreichende Entscheidungen allein und/oder gegen eine Mehrheit getroffen.

Es spricht viel dafür, dass – wie die Idole meiner Kindheit – Individuen, die den Mut zur eigenen Meinung und Sicht der Welt haben, und gegen den Strom schwimmen, sich einsamer fühlen als Menschen, die nach Mehrheitsvorstellungen leben. So betont ein Interviewpartner und Universitätsprofessor aus England:

„Als Veganer in den 80er Jahren wurde ich immer schräg angeguckt und belächelt. Ich hatte ständig den Eindruck, dass ich mich rechtfertigen muss. Ich hatte eine sehr kleine Gruppe von Freunden, die auch Veganer waren. Als ich dann in eine andere Stadt zog und niemand kannte, der auch vegan lebte, merkte ich, wie sich Einsamkeit anfühlen kann. Essen als soziales Ritual und Gemeinschaft mit anderen war dann immer sehr schwierig – sehr selten wurde ich zum Abendessen eingeladen. Heute ist vegan sein eine Frage des Lifestyle und in Orten wie London oder Brighton gesellschaftlich akzeptiert und absolut normal. Für mich gehört sozialer Wandel und Einsamkeit zusammen: Radikalen sozialer Wandel auszulösen oder voran treiben zu wollen, wird immer begleitend sein, von einer Einsamkeit, einer ganz tiefen und speziellen Form von Einsamkeit. Diese Einsamkeit gehört irgendwie zum Anderssein dazu. Sie ist präsent...

Erscheint lt. Verlag 23.9.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
ISBN-10 3-7494-1881-0 / 3749418810
ISBN-13 978-3-7494-1881-7 / 9783749418817
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