Durchsichtig - Autobiografie einer Magersucht -  Christina Lopinski

Durchsichtig - Autobiografie einer Magersucht (eBook)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
324 Seiten
Verlag DeBehr
978-3-95753-801-7 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
4,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
'Lass uns spazieren gehen', sagte Mama und nahm mich an die Hand. Spazieren gehen war gut. In 15 Minuten verbrauchte man fast 70 Kalorien. Es war heiß draußen. Ich dachte an meine Freundinnen, die alle im Freibad waren, während ich mir die Kapuze meines Pullovers tief ins Gesicht zog. 'Dein Körper hat keine Energie mehr, um sich warmzuhalten', hatte Papa mir schon vor Wochen erklärt. Mein Körper hatte tatsächlich keine Energie mehr, manchmal fiel mir sogar das Atmen schwer. 'Ich kann nicht mehr', schluchzte ich, vor meinen Augen blitzten Sterne. Den besorgten Elternaugen, ihren bohrenden Blicken, konnte ich nicht standhalten. 'Chrissi, ich würde alles tun, damit du endlich wieder anfängst zu essen. Alles!' Ich zuckte mit den Schultern, Tränen kullerten mir über die Wangen. 'Es ist nicht so, dass ich nicht will', antwortete ich vorsichtig, obwohl ich wusste, dass sie mich nicht verstehen würde. 'Ich kann nicht, Mama!' Und in diesem Moment begriff ich, dass ich Hilfe brauchte. Zum ersten Mal hatte ich Angst, irgendwann nicht mehr da zu sein. Christina fühlt sich anders als die anderen Kinder. Sie will zu den zarten elfengleichen Mädchen gehören, und sie will reinpassen - in was, weiß sie selbst nicht. Mit zwölf beginnt sie, ihr Essen zu kontrollieren, mit dreizehn ist sie nur noch die Hülle von etwas, dessen Entwicklung sie bewusst zurückhielt. Sozial komplett isoliert und von der Krankheit gesteuert, begreift Christina irgendwann, dass sie gegen diese Selbstzerstörung ohne fremde Hilfe keine Chance hat. Sie entscheidet sich für den Aufenthalt in einer Kinderpsychiatrie. Dort begegnet sie weiteren jungen Patienten, die die Welt ebenfalls mit anderen Augen sehen. Sie wird Teil einer besonderen Gemeinschaft, lernt langsam, diese Krankheit zu verstehen und warum es sich doch zu leben lohnt. Die Autobiografie einer Magersucht.

Christina Lopinski wurde 1996 in Wiesbaden geboren und wuchs in Niederseelbach auf. Nach ihrem Abitur reiste sie ein Jahr durch Australien und studierte in Berlin Publizistik und Politwissenschaften. Sie arbeitet als Journalistin und bloggt und podcastet zu politisch-philosophischen Themen. Aktuell lebt sie in Tübingen, macht ihren Master in Friedensforschung und möchte später als Auslandskorrespondentin arbeiten

 

TEIL EINS

1.

Bevor ich krank geworden bin, war ich ziemlich normal. Normal hübsch, normal nett, normal sportlich, normal schlau. Sofern man davon ausgeht, dass sich die Mädchen in der sechsten Klasse wirklich mögen, war ich auch normal beliebt. Ich ging aufs Gymnasium, hasste das frühe Aufstehen und Mathe, war in sämtlichen Mädels-Cliquen, die sich gegenseitig bekriegten, schrieb heimlich Liebesbriefe und war verknallt. Meine beste Freundin, Lea, die ich immer heiraten wollte, bevor ich verstand, dass man sich eigentlich ins andere Geschlecht verliebte, hatte in Wiesbaden Großstadtluft geschnuppert und mich auf meiner Dorfschule alleine gelassen. Ich vermisste sie jeden Tag, obwohl meine Klassenkameradinnen mit der Zeit auch zu Freundinnen geworden waren. Das ist ja eigentlich so wie mit der Familie. Sucht man sich nicht aus, muss aber irgendwie mit klarkommen. Weil ich schon immer sehr ehrgeizig war, hatte ich neben meinem Leistungsturnen, meinen Hausaufgaben und Verabredungen kaum Zeit für meine Familie. Nicht, dass es mir egal gewesen wäre, aber unter der Woche war mein Vater eh nie da, mein kleiner Bruder oft verabredet und meine Mutter beschäftigt. Familienaktivitäten gab es wenig. Eigentlich so wenig, dass sie am Existenzminimum kratzten. Trotzdem oder gerade deshalb hatten wir ein außergewöhnlich gutes Verhältnis, meine Mutter und ich. Wahrscheinlich zu gut für 30 Jahre Altersunterschied. Wir redeten über alles. „Du hast so eine coole Mutter.“ Auch meine Freundinnen fanden das. Dafür hatte ich einen unsichtbaren Vater. Aber das wusste keiner. Meine Mutter und ich waren sehr eng. Manchmal tauschten die Rolle der Freundin und die der Erziehungsberechtigten die Plätze. Wir hatten kaum Geheimnisse voreinander und wenn wir redeten, waren wir immer ehrlich. Eine der beneidenswertesten Charaktereigenschaften meiner Mutter ist genau diese Aufrichtigkeit. „Egal was passiert, Christina, sei immer ehrlich, alles andere fällt irgendwann auf dich zurück.“ Ich befolgte ihren Ratschlag der Selbstverständlichkeit, bis die Wahrheit schleichend an den Ort der Unwichtigkeit rückte. Das habe ich leider erst jetzt bemerkt.

Als gutgläubig würde ich mich selbst beschreiben, vielleicht ein bisschen naiv. Weil die Schule der Ort des Hauptgeschehens im Leben einer G8-Schülerin ist, werden dort auch alle Themen besprochen, die sonst so im Leben beschäftigen. Vor ungefähr einem Jahr, also im zweiten Halbjahr der sechsten Klasse, fingen die Mädchen aus meiner Stufe an, sich über ihr Gewicht zu unterhalten. Ich gehörte immer schon zu den größten und muskulösesten Mädchen in meinem Alter. Als dick hätte mich niemand beschrieben, als dünn aber auch nicht. Wir waren damals alle 12 und gerade in die Pubertät gekommen und plötzlich tauchten neue Dinge auf dem Interessenradar auf. Wir gingen zusammen unsere ersten BHs shoppen, verknallten uns, trugen enge Klamotten und tiefe Ausschnitte. Wem wir unser gepushtes AA-Körbchen präsentieren wollten, ist mir heute schleierhaft. Ich kann mich noch genau erinnern, wie sich Isabell und die anderen mit ihrem Körpergewicht unterboten, als wäre es ein Preis oder ein besonderer Verdienst. Der Tag, an dem Isabell, blond, braunäugig und schön, stolz erzählt hat, dass sie nur 36 Kilo auf die Waage bringt und sämtliche Mädchen sie unterbieten konnten, markiert einen wichtigen Moment in meiner Krankheitsbiografie. Bestimmt nicht der Anfang, aber ein Teil davon. So banal und lächerlich es klingen mag: Es war der Tag, an dem ich mich das erste Mal zu dick fühlte. Der Tag, an dem Essen ein Thema wurde. Ich bin 1,58 Meter groß und damit größer als die meisten anderen kleinen, zarten Feen in meinem Alter. Damals wog ich 45 Kilogramm. Ein schwerer Trampel in einer Umgebung voller schöner Elfenmädchen. Allein unter allen anderen. Ich fing an, mich im Badezimmer regelmäßig auf unsere silberne Waage zu stellen. Meine Mutter wunderte sich. Ich hätte eine super Figur. Ich sei schön und genau richtig. Zu dem Zeitpunkt fühlte ich mich schon alles andere als genau richtig. Wie konnten 45 Kilo genau richtig sein, wenn alle anderen fast 10 Kilo leichter waren? Natürlich dachte ich zu dem Zeitpunkt nicht daran, dass meine Elfen-Freundinnen mich angelogen hatten. Trotzdem wollte ich mich noch nicht entwickeln. Ich hatte Angst, dass sich meine leichte Erhebung unter den Brustwarzen zu einem richtigen Busen entwickelte. Ich wollte meine Tage nicht bekommen. Die hatte schließlich noch niemand. „So was kriegt man erst mit 16“, hatte Amrei, ein Mädchen aus meiner Klasse, einmal gesagt und angeekelt geschaut. Alle anderen im Elfen-Kreis hatten genickt und Geschichten von älteren Schwestern erzählt. Ich erzählte schon länger nichts mehr. Der Osteopath, bei dem ich vor Kurzem gewesen war, hatte mir versichert, es würde bald so weit sein bei mir. Also die Regelblutung. Elfen bekommen wohl keine Menstruation.

In den Sommerferien fuhren wir nach Mallorca. Zu viert. Sogar Papa hatte sich freigenommen. Damals hatte ich noch geglaubt, dass endlich alles besser werden würde. Mir gefiel die Inszenierung einer heilen Familie und ich bildete mir ein, wir könnten es vielleicht wirklich werden. Rückblickend begrenzten sich Interesse und Zuneigung auf die zwei Wochen Hotelurlaub, bei denen jede Familie eine heile ist. Dennoch war ich zu diesem Zeitpunkt sehr glücklich. Hätte ich gewusst, dass ich verlernen würde, so zu fühlen, wäre das der traurigste Urlaub meines Lebens geworden. Auf Mallorca konnte ich die Schule, die ich mittlerweile verabscheute, endlich vergessen. Und mit ihr meine Elfen-Freundinnen. Ich konnte mir das Buffet schmecken lassen, dachte nicht daran, was Crêpes, Eispralinen und die Kuchenplatte mit meinem Körpergewicht machen würden und hatte nicht das Gefühl, mich disziplinieren zu müssen. Ich aß, ohne nachzudenken und am Ende des Tages hätte ich nicht aufzählen können, was mein Bauch gerade alles verdaute. Eine geistige Entspannung, die ich mir aktuell nicht vorstellen kann, jemals wieder haben zu können. Der Urlaub war so schnell vorbei, wie das bei Urlauben eben so der Fall ist. Das „14 Tage sind doch eigentlich viel zu kurz“-Geschwätz und die Wehmütigkeit, Palmen und Meer zurückzulassen, spare ich mir. Was ich wirklich vermisste, war meine Familie. Die Illusion war einfach zu perfekt gewesen. Der Alltag hatte uns schneller wieder, als wir die Koffer auspacken konnten. Ich stellte mich auf die Waage und stieß mir den Kopf an der Dachschräge an, als ich hochschreckte. 45,6 Kilogramm. Ich zog mein T-Shirt hoch und schaute meinen braungebrannten Bauch an. Flach. Konnte dieser Bauch einem 45-Kilo-Monster gehören? Dieser Bauch war viel zu schlank für diese große Masse an Gewicht, die er täglich mit sich herumschleppen musste. Abermals blickte ich an mir hinunter, diesmal etwas gründlicher. Nein, alles im Rahmen. Ich presste die oberste Hautschicht über meinen Rippen zwischen Daumen und Zeigefinger. Gut, das bisschen Fett konnte ich abtrainieren, kein Problem. Ich nahm mir fest vor, die Mädchen im Schwimmbad, vor allem die Elfen, genauer unter die Lupe zu nehmen. In den nächsten Wochen musste ich feststellen, dass keine Figur meiner Traumstatur entsprach. Zu dicke Beine, zu kurze Arme, ein zu dicker Bauch, zu breite Schultern. Der Sommer war merkwürdig. Mein äußeres Erscheinungsbild passte nicht zu meinen Gefühlen, irgendetwas stimmte nicht mit mir. In diesem Sommer wurde ich von vielen Leuten auf meine „perfekte Figur“ angesprochen. Ich fühlte mich angegriffen. Wie konnte man es wagen, mich öffentlich so bloßzustellen? Wenn ich heute Fotos von meinem damaligen Ich sehe, weiß ich, was sie meinten. Damals dachte ich, das komplette Schwimmbad mache sich über mich lächerlich. Über meinen dicken Bauch und meine breite Hüfte. Meine Oberschenkel und meine Schultern. „Langsam werden die kleinen Mädchen zu jungen Frauen.“ Hahaha.

In den nächsten Tagen fasste ich einen Entschluss. Ich musste abnehmen. Zwei, vielleicht drei Kilo. In den Sommerferien schaffte ich es nicht. Jeden Abend in meinem Bett ärgerte ich mich über mich selbst. Dass ich schon wieder ein Eis zum Nachtisch gegessen hatte. Oder ein Stück Kuchen. Oder eine zweite Portion Nudeln. Eine ganze Pizza. Überhaupt irgendwas nach 18 Uhr. Essen wurde zur Versuchung, der ich nachgab. „Morgen schaffe ich es“, sagte ich mir jeden Abend. Einmal betete ich sogar dafür. Ich glaube nicht an Gott, aber um dünnere Oberschenkel zu bekommen, bildete ich mir ein, dass irgendeine höhere Macht mich schon hören würde, wenn ich es wirklich will. Das kriegt man doch immer eingetrichtert: Man kann alles schaffen, wenn man will. Also würde ich abnehmen können. „Lieber Gott, lass mich so aussehen wie Mali.“ Mali war das dünnste Mädchen in unsere Klasse und ich wünschte mir so sehr, so auszusehen wie sie. „Zunehmen kann man ja immer“, dachte ich damals. Naiv. Sag ich ja.

Irgendwann klappte es. Ich war stark geblieben und im Herbst hatte ich es auf ein Gewicht von 44,8 Kilogramm geschafft. „Schatz, aber bitte nicht unter 44“, hatte meine Mutter gesagt. Jeden Samstagmorgen musste ich mich vor ihren Augen auf die Waage stellen. Viel machte mir das nicht aus. Fröhlich hatte ich mein Gewicht in einem kleinen Büchlein aufgeschrieben, aber immer nur dann, wenn es weniger geworden war, wenn ich mein Gewicht zur vorherigen Woche reduzieren konnte. Irgendwann fand ich durch Zufall ein Heft in unserem Küchenschrank über dem Kühlschrank. Ich kam nur mit Hocker und auf Zehenspitzen dran und beinahe zerbrach das komplette Glasschälchenarsenal meiner Mutter über meinem Kopf. Das Heftchen war ein Kalorienbuch. Ich fing an, es durchzulesen, von vorne bis hinten, und ich lernte es auswendig. Am Anfang war es nur ein Spaß, eine...

Erscheint lt. Verlag 8.9.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
ISBN-10 3-95753-801-7 / 3957538017
ISBN-13 978-3-95753-801-7 / 9783957538017
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 475 KB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Die EU auf dem Weg zu einer neuen Identität

von Heinz Handler

eBook Download (2024)
Springer Fachmedien Wiesbaden (Verlag)
29,99