Die Stadt am Ende der Welt (eBook)

Roman
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2020 | 1. Auflage
480 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-8321-7059-2 (ISBN)

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Die Stadt am Ende der Welt -  Thomas Mullen
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Herbst 1918: Die Spanische Grippe wütet allerorten - doch die Einwohner der Holzfällerstadt Commonwealth beschließen, sich zu schützen. Sie stellen die Gemeinde unter Quarantäne und riegeln die einzige Zufahrtsstraße ab. Als ein Hilfe suchender Soldat von einem Wachposten erschossen wird, um ihn am Betreten der Stadt zu hindern, breiten sich innerhalb des Ortes Angst, Argwohn und Hysterie aus. Thomas Mullen erzählt in seinem hellsichtigen und mitreißenden Roman von Moral in Zeiten der Krise, von einer Gesellschaft, der die Solidarität abhanden zu kommen droht - aber auch von Hilfsbereitschaft, Hoffnung und Mitgefühl.

Thomas Mullen wurde 1974 in Rhode Island geboren. 2006 erschien sein Debütroman >Die Stadt am Ende der Welt<, der von der Zeitschrift USA Today als »Bester Debütroman des Jahres« und von der Zeitung Chicago Tribune als eines ihrer »Books of the Year« benannt wurde. Bei DuMont erscheint außerdem seine von Publikum und Presse gefeierte >Darktown<-Trilogie, die nach >Darktown< (2018) und >Weißes Feuer< (2019) mit >Lange Nacht< (2020) ihren Abschluss findet. Thomas Mullen lebt mit seiner Familie in Atlanta.

Thomas Mullen wurde 1974 in Rhode Island geboren. 2006 erschien sein Debütroman ›Die Stadt am Ende der Welt‹, der von der Zeitschrift USA Today als »Bester Debütroman des Jahres« und von der Zeitung Chicago Tribune als eines ihrer »Books of the Year« benannt wurde. Bei DuMont erscheint außerdem seine von Publikum und Presse gefeierte ›Darktown‹-Trilogie, die nach ›Darktown‹ (2018) und ›Weißes Feuer‹ (2019) mit ›Lange Nacht‹ (2020) ihren Abschluss findet. Thomas Mullen lebt mit seiner Familie in Atlanta.

KAPITEL 1

Die Straße nach Commonwealth war lang und wenig einladend, hinter Timber Falls zog sie sich etliche Kilometer durch den Nadelwald, in dem die Bäume höher und höher wuchsen, als versuchten sie die Sonne zu erreichen, die sie mit ihren spärlichen Strahlen zu necken schien. Über der steinigen Straße ragten Douglasien auf wie feindliche Armeen, die einander, durch einen Abgrund getrennt, gegenüberstanden. Sogar Reisende, die um ihre eigene Bedeutungslosigkeit wussten, fühlten sich auf diesem unnatürlich düsteren Abschnitt der Straße besonders demütig und klein.

Nach ein paar Kilometern durch den Wald machte die Straße eine Rechtskrümmung, und die Bäume wichen ein wenig zurück. Braune Erde und gelegentliche Baumstümpfe deuteten darauf hin, dass hier erst vor kurzem mühevoll eine Lichtung in den Wald geschlagen worden war. Sie erstreckte sich über sanft ansteigendes Gelände, und am Fuß der Anhöhe blockierte ein frisch gefällter Baum die Straße. Auf dessen dicke Borke hatte man ein Schild genagelt: eine Warnung für nicht existierende Reisende, ein stummer Schrei in die taube Wildnis.

Auf dem kahlen Hügel frischte der Wind auf und trug den Geruch von Millionen Douglasien und Kiefern heran. Philip sog scharf die Luft ein.

»Kalt?«, fragte Graham.

»Geht schon.«

Graham machte eine Geste in Richtung Stadt. »Du brauchst eine wärmere Jacke, hol dir eine.«

»Ich bleibe hier.«

»Wie du willst«, meinte Graham mit einem verhaltenen Lächeln. Dass Philip fror, war unverkennbar, was bei der dünnen Jacke und den Khakihosen – typische Bürohengst-Klamotten – auch kein Wunder war. Graham hingegen trug seinen üblichen blauen Overall und einen dicken Wollmantel.

»Glaubst du, dass es schneit?« Philip Worthy war sechzehn und groß, wobei er kleiner wirkte, weil er hinkte. Auch besaß er keine so kräftige Statur wie die meisten Männer in dieser Stadt, in der vor allem Holzfäller und Sägewerksarbeiter lebten.

»Nein, es wird nicht schneien.«

Der fünfundzwanzigjährige Graham verkörperte in vielerlei Hinsicht das, was Philip werden wollte: stark, auf eine stille Art klug, Herr in seinem Haus. Während Philip das Gefühl hatte, höflich und unterhaltsam sein zu müssen, damit er bei anderen beliebt war, schien Graham stets nur das Nötigste zu sagen und wurde trotzdem respektiert. Mittlerweile kannte Philip ihn zwei Jahre, aber er hatte noch immer nicht herausgefunden, wie er das zuwege brachte.

»Ist kälter, als ich dachte«, sagte Philip. »Das kann bedeuten, dass es bald schneit.«

Graham verstand die Angst seines Kameraden vor Schnee. Er schüttelte den Kopf. »Es ist zwar kalt, aber zu früh für Schnee. Wir haben ja erst Oktober.«

Fröstelnd zog Philip die Schultern hoch und nickte.

Graham legte sein Gewehr auf den Boden und zog seinen Mantel aus. »Komm, zieh den an.«

»Nein, wirklich, mir geht’s gut. Ich möchte nicht, dass du …«

»Zieh schon den verdammten Mantel an«, beharrte Graham grinsend. »Ich hab sowieso mehr Fleisch auf den Rippen als du.«

»Danke.« Auch Philip legte sein Gewehr hin und achtete dabei darauf, dass die Mündung von Graham weg zeigte. Der Mantel war ihm zu groß, seine Hände verschwanden fast in den Ärmeln. Mochte er darin auch ein bisschen komisch aussehen, sparte er sich so doch die Handschuhe. Ein Gewehr würde er damit nicht halten können, aber das schien ihm kein Problem zu sein, weil er es vermutlich ohnehin nicht brauchen würde.

»Was meinst du, wer das in diesem T-Modell am Sonntag war?«, fragte Philip.

»Keine Ahnung.« Keiner der beiden hatte am Sonntag Wachdienst gehabt, als zwei andere Posten gesehen hatten, wie ein funkelnagelneuer Ford unmittelbar bis vor den querliegenden Baumstamm fuhr. Der Wachposten war zu weit weg gewesen, um den Fahrer näher in Augenschein zu nehmen, der nicht aus seinem Automobil ausstieg. Dem Filzhut nach zu schließen handelte es sich um einen Mann, aber das war der einzige Anhaltspunkt. Anscheinend hatte der Unbekannte das Schild gelesen und war, ohne lange zu überlegen, umgekehrt und wieder davongefahren. Seit sich die Stadt von der Außenwelt isoliert hatte, war dies der erste Fremde gewesen, der hier aufgetaucht war.

Commonwealth lag etwa achtzig Kilometer nordöstlich von Seattle, vielleicht auch hundert oder noch mehr – das schien niemand so genau zu wissen außer Charles Worthy, dem Gründer der Stadt, und denen, die das hier geschlagene Holz abtransportierten. Im Osten ragten die zerklüfteten Gipfel der Kaskaden auf, die an klaren Tagen deutlich zu sehen waren, doch oft verschwanden sie hinter schweren, tief hängenden Wolken. An solchen Tagen schien der Ort vom Rest der Welt abgeschnitten zu sein. In westlicher Richtung waren es ein paar Kilometer bis zum Meer, mit dem Puget-Sund im Süden, der Georgia-Meerenge im Norden und der Juan-De-Fuca-Meerenge im Westen, die sich hier vereinten und mit ihren kalten Gewässern die San-Juan-Inseln umschlossen. Aber wegen der dichten Wälder dazwischen war das Meer so unerreichbar fern, als wäre es gar nicht da.

Commonwealth war keine Stadt im herkömmlichen Sinn, was zum Teil erklärte, weshalb es auf keiner Landkarte erwähnt wurde, als habe sich der Rest der zivilisierten Welt entschieden, von seiner Existenz einfach keine Kenntnis zu nehmen. Es gab weder einen Bürgermeister noch einen Postvorsteher oder einen Sheriff. Hier fand man auch kein Gefängnis und keine Steuerbehörde, weder Bahnhof noch Schienen, keine Kirche, kein Telefon, kein Krankenhaus. Ebenso wenig einen Saloon oder ein Lichtspielhaus. Commonwealth bestand praktisch nur aus einer Sägemühle, Wohnhäusern für die Arbeiter, einer Menge Land mit noch mehr Bäumen zum Fällen und dem notwendigen Drumherum wie einem Gemischtwarenladen und einer Arztpraxis. Wer etwas einkaufen wollte, was es im Laden nicht gab, sich einen Film ansehen oder an einem Gottesdienst in einer Kirche teilnehmen wollte, reiste in das fünfundzwanzig Kilometer südwestlich gelegene Timber Falls. Aber inzwischen durfte niemand mehr in die Stadt hinein oder aus ihr heraus.

»Meinst du, der Fahrer kreuzt hier noch mal auf?«, fragte Philip, während ihm der Wind das braune Haar in die Stirn wehte.

Mit ausdrucksloser Miene, den Blick der blaugrünen Augen unbeirrt auf den Fuß des Hügels gerichtet, dachte Graham einen Moment nach. »Nein, nicht nachdem er das Schild gesehen hat. Wenn er wirklich hätte reinkommen wollen, dann hätte er es gleich versucht. War wahrscheinlich bloß ein Holzhändler, der nichts von der Quarantäne gewusst hat.«

Philip nickte, dankbar für Grahams Gewissheit.

Philip war ohne Vater und Geschwister aufgewachsen und hatte seine ständig umherreisende Mutter durch den ganzen Westen begleitet, bis er nach dem Unfall in die Obhut der Worthys gekommen war. Als seine neue Familie vor zwei Jahren nach Commonwealth gezogen war, um sich auf dieses kühne Experiment einzulassen, hatte er sich rasch mit Graham angefreundet. Und diesem wurde erst, als er Philip kennenlernte, bewusst, wie sehr ihm seine jüngeren Brüder fehlten.

Wie viele Sägewerksarbeiter war auch Graham in allzu jungen Jahren von zu Hause weggelaufen, nachdem er wieder einmal eine handgreifliche Auseinandersetzung mit seinem betrunkenen Vater gehabt hatte und vor die Tür gesetzt worden war. Als er sein Elternhaus in Kansas verlassen hatte, war er etwa in Philips Alter gewesen, und wenn er Philip heute ansah, wunderte er sich manchmal, wie er, Graham, damals so halsstarrig und närrisch hatte sein können, sich in einem solchen Alter in die Welt hinauszuwagen. Aber irgendwie hatte er überlebt, trotz blutiger Streiks, Gefängnisstrafen und Schlägereien mit Polizisten, und es nun zum Vorarbeiter eines angesehenen Sägewerks gebracht. Zwar hatte er jetzt eine eigene Familie, um die er sich kümmern musste, aber es machte ihm Spaß, Philip all die Sachen beizubringen, die er selbst von seinem älteren Bruder gelernt hatte, wie sein erstes Wild zu erlegen, seinen ersten Fisch zu angeln und sich auf den Pfaden, die durch die endlosen Wälder führten, zurechtzufinden.

In Wirklichkeit war sich Graham gar nicht so sicher, ob der Mann in dem Automobil nicht doch zurückkehren würde, aber er empfand allein schon den Klang der eigenen Stimme als tröstlich. Aus diesem Grund, das erkannte er jetzt, sehnte er sich nach jüngeren Brüdern: Man fühlte sich dann beinahe so stark, wie man es in ihren Augen war.

Als Philip und Graham vor vier Tagen das erste Mal Wache schoben, hatte es keine besonderen Vorkommnisse gegeben. Zehn lange Stunden hatten sie schweigend dagestanden, bis die Langeweile unerträglich wurde und sie zu plaudern anfingen. Sie dachten laut darüber nach, wie lange die Grippeepidemie noch anhalten würde, und tauschten Geschichten über frühere Krankheiten und Verletzungen aus. Philip schlug sogar vor, eine kleine Wette abzuschließen, wie lange die Quarantäne dauern würde, wofür Graham ihn tadelte, als wäre dies etwas Unanständiges. Sogleich bereute Philip seine Idee und kam sich wie ein dummer kleiner Junge vor. Doch abgesehen davon war die Zeit ziemlich langsam vergangen, der Himmel verdunkelte sich allmählich, und aus den gestaltlosen Wolken über ihnen senkte sich Nebel herab, sodass sich die beiden Männer klamm und müde fühlten und in ihre warmen Stuben wünschten, wo sie mit ihren Familien am Esstisch über die Kleinigkeiten des Alltags reden würden.

»Was macht die Lehre?«, nahm Graham, Minuten oder Stunden später, das Gespräch wieder auf.

»Ich komme prima voran. Über Zinsrechnung kannst du mich alles fragen.«

»Darüber will ich aber gar nichts wissen, vielen Dank...

Erscheint lt. Verlag 14.9.2020
Übersetzer Gerlinde Schermer-Rauwolf, Robert A. Weiß
Sprache deutsch
Original-Titel The Last Town On Earth
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
Literatur Romane / Erzählungen
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte abriegeln • Albert Camus • Angst • Corona • Corona virus • Coronavirus • cover mit bäumen drauf • COVID19 • debüt von thomas mullen • Der Wal und das Ende der Welt • Die Pest • Die Pest Camus • Epedemie • Epidemie • Erlösung • Erster Weltkrieg • Existentialismus • Existenzialismus • Grenzen • Grippe • Holzfäller • holzfällerstadt • Hysterie • Influenza • John Ironmonger • Kleinstadt • Krankheit • lockdown • Misstrauen • Mord • Pandemie • Quarantäne • Soldat • Spanische Grippe • Trauma • Viren • Virologe • Virus • Wald
ISBN-10 3-8321-7059-6 / 3832170596
ISBN-13 978-3-8321-7059-2 / 9783832170592
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